Lesestoff: Greifenküken

Es wird wieder einmal Zeit für einen Lesestoff-Beitrag, heute mit einem kleinen Ausschnitt aus meiner älteren Kurzgeschichtensammlung Greifen, Grabraub und Gelichter (S. 155-156). Gorta (der hier im Blog vor einiger Zeit schon einen Auftritt hatte) und sein Ziehsohn Sagai sind im Gebirge unterwegs und machen einen unerwarteten Fund.

Greifenküken

Am zweiten Abend, den sie oben zwischen den kargen Hängen verbrachten, fanden sie ein Greifennest und darin zwei Greifenküken mit flaumigen Köpfen und Flügeln, die noch nicht mehr als
hilflose Stummel waren.

»Da ist keiner bei ihnen«, sagte Sagai ebenso besorgt wie mitleidig.

»Es wird schon einer der alten Greifen kommen, wenn wir sie nicht stören«, behauptete Gorta, und sie lagerten in einiger Entfernung. Doch Sagais Blick ging immer wieder zu dem Nest hinüber, und es kam kein erwachsener Greif, um sich um die Kleinen zu kümmern, weder in der Dämmerung noch nach Einbruch der Dunkelheit.

»Sie werden doch frieren, so allein in der Nacht«, sagte Sagai und stand, als Gorta sich nicht rührte, auf, um zu dem Nest zwischen den Felsen hinüberzugehen. Als er zurückkehrte, zappelte und jammerte in jeder seiner Hände ein Greifenküken, und er sah Gorta im Feuerschein bittend an. »Wir nehmen sie mit; sonst sterben sie hier, nicht wahr?«

In Sagais Leben waren in der jüngsten Vergangenheit schon zu viele gestorben oder fast gestorben, an denen er gehangen hatte, als dass Gorta hätte aussprechen können, was ihm durch den Kopf ging – dass zwei geschwächte Greifenküken auch in menschlicher Obhut nicht lange leben würden und dass es das Klügste sein würde, sie gleich zu braten, um die Vorräte ein wenig zu strecken und es ihm zu ersparen, auf die Jagd nach anderem Wild zu gehen. Doch als der Abend fortschritt, musste er ja selbst zugeben, dass er eigentlich noch nicht so hungrig war, dass es ihm leicht
gefallen wäre, darüber nachzudenken, zwei rührend winzige Tiere zu verspeisen, die einen aus großen, dunklen Augen ansahen, lange, unruhig zuckende Schwänzchen mit buschiger Quaste hatten und vor allem zarte, hilfesuchende Laute ausstießen, denen man sich nur schwer entziehen konnte.