Und weiter geht es mit dem Mittwochs-Lesestoff. Passend zum nahenden Osterfest gibt es diese Woche (Greifen-)Küken und eine Hasenfrau, die gar nicht weiß, dass sie eine ist.
Der letzte Woche schon am Rande erwähnte Steppennomade Gorta hat seinen ersten Auftritt nicht im Rattenlied, sondern in der Erzählung Der Weg ins andere Land, die in meiner Kurzgeschichtensammlung Greifen, Grabraub und Gelichter zu finden ist. Ein kleiner Ausschnitt daraus (S. 169-170) bildet den heutigen Lesestoff.
Gorta ist mit seinem Ziehsohn Sagai auf der Flucht vor Verfolgern und muss sich auf dem Dachboden seiner Schwester Tabiti, die einen Mann aus der Stadt geheiratet hat, verstecken. Dass er dort nicht von seinen Feinden entdeckt wird, hat er nur der schnellen Reaktion der aus dem fernen Westen stammenden Schreiberin Hortensia zu verdanken, die ebenfalls bei Tabiti zu Gast ist und einen Krieger, der auf der Suche nach Gorta vorbeikommt, gekonnt hinters Licht führt. Als die Gefahr erst einmal überstanden ist, geht es folgendermaßen weiter.
Hasenfrau
Als Gorta es auch nur wagte, die Nase hinunter ins Zimmer zu stecken, wurde er von Tabiti gleich
wieder zurück unters Dach gescheucht.
»Du bleibst schön da oben, bis wir aufbrechen«, sagte sie. »Das ist sicherer.«
Dann schickte sie ihre Kinder mit ihrem Mann zum Markt und ging selbst, um letzte notwendige Einkäufe zu tätigen; Lucardis nahm sie mit, doch Hortensia blieb, wahrscheinlich, damit auch jemand mit Verstand im Haus war und nötigenfalls weiter schöne Lügen erzählen oder Unwissenheit vorschützen konnte. Sie fütterte fürsorglich die Greifen, um sie dann wieder ihren Versuchen zu überlassen, Tabitis Teppiche zu zerstören, und saß ansonsten so still da, als wäre sie tatsächlich allein, ob nun aus Vorsicht oder weil sie nicht wusste, was sie mit Gorta und Sagai hätte reden sollen.
Gorta dagegen wusste sehr wohl, was er ihr sagen wollte, und so reckte er nach einer angemessenen Wartezeit den Kopf aus der Luke und verkündete: »Du bist eine Hasenfrau.«
Hortensia sah ihn derart verwirrt an, dass er annahm, sie hätte ihn nicht verstanden. »Eine Hasenfrau«, wiederholte er schön langsam, falls er in der ihr unvertrauten Sprache zu schnell geredet hatte. »Wie ein Hase.«
Sagai nickte im Halbdunkel neben ihm, aber Hortensia runzelte die Stirn und wandte den Blick ab, als hätte Gorta sie gekränkt.
Das verletzte ihn seinerseits, aber vielleicht wusste jemand, der aus der Fremde kam, tatsächlich nicht, was er hatte ausdrücken wollen. »Das ist kein Tadel, sondern ein Lob«, setzte er hilflos hinzu und war froh, als sie zumindest wieder aufschaute. Sehr überzeugt wirkte sie allerdings nicht, und als sie ihm dann gar noch auseinandersetzte, dass es dort, wo sie herkam, wahrhaftig nicht sehr freundlich sei, einen Menschen mit einem Hasen zu vergleichen, sah er sich gezwungen, Tabitis Verbot zu missachten, sich ins Zimmer fallen zu lassen und die Sache von Angesicht zu Angesicht zu klären.
Einfach war das nicht, da die Greifen gleich zu ihm herübergetappt kamen und Sagai darauf bestand, sich auch aus dem Versteck wagen zu dürfen, wenn Gorta schon unten war, aber als endlich alle die Aufmerksamkeit erhalten hatten, die sie verlangten, konnte er sich vor Hortensia hinsetzen und ihr erläutern, wie es sich mit dem Hasen verhielt.
Der Hase war nämlich flinker als alle anderen, sah jede Gefahr kommen und war klug: Er wusste schließlich, dass er nicht geradeaus davonlaufen durfte, sondern Haken schlagen musste, um sich auf Umwegen all denen zu entziehen, die Zähne und Klauen hatten. Wer selbst kein Krieger war, aber so listig und gerissen, jeden Kämpfer in die Irre zu führen, war also ein Hase, ein Hasenmann, eine Hasenfrau, und musste einen starken Hasenschutzgeist haben, der ihm den scharfen Verstand bewahrte.
Das gefiel Hortensia, und etwas an der Art, wie sie Gorta ansah, veränderte sich; das Zurückzucken vor dem Undenkbaren war verschwunden und einer gewissen Neugier gewichen, als könnte jemand, der einen »Hasenfrau« nannte, so schlimm nicht sein. Das wiederum gefiel Gorta, und sie redeten, bis es Zeit war, wieder hinauf unter das Dach zu klettern, um Tabiti gar nicht erst erklären zu müssen, warum sie unvorsichtig gewesen waren.