Das hier besprochene Buch ist Teil einer Reihe. Die Rezension des ersten Bandes ist hier zu finden.
Hamburg im Frühsommer 1947: Ausgerechnet auf einem Blindgänger mitten auf einem Werftgelände liegt die Leiche eines Jugendlichen. Oberinspektor Frank Stave findet zwar bald heraus, dass es sich um den im Krieg verwaisten Adolf handelt, aber alles Weitere bleibt zunächst rätselhaft: Die Tante des Jungen und ihr Verlobter, bei denen er lebte, scheinen nicht sehr um ihn zu trauern, und auch unter den Schwarzmarkthändlern und Kohlendieben, die sein alltägliches Umfeld bildeten, war Adolf wohl nicht beliebt. Allein die minderjährige Prostituierte Hildegard scheint ihn zu vermissen. Als sie und auch Staves ursprünglicher Hauptverdächtiger kurz darauf ebenfalls ums Leben kommen, rückt eine Lösung des Falls in immer weitere Ferne – und das könnte üble Folgen nicht nur für den Polizisten, sondern auch für seinen Freund, den britischen Geheimdienstler MacDonald, nach sich ziehen. Auch Staves Privatleben wird von der eigentlich heißersehnten Rückkehr seines Sohnes aus der Kriegsgefangenschaft kräftig durcheinandergewirbelt, und so drohen die Probleme, die er binnen kürzester Zeit bewältigen muss, ihm gehörig über den Kopf zu wachsen …
Anders als im Trümmermörder, dem ersten Band seiner im Hamburg der Nachkriegszeit angesiedelten Krimireihe, stellt Cay Rademacher im zweiten Teil Der Schieber kein ungeklärtes historisches Verbrechen in den Mittelpunkt des Romans, sondern einen fiktiven Fall, der sich allerdings – für Rademacher generell nicht untypisch – wieder dadurch auszeichnet, dass die Ermordeten ohnehin schon zu den Verletzlichen und Benachteiligten der Gesellschaft gehören. Diesmal ist es das Phänomen der sogenannten Wolfskinder und anderer Kriegswaisen, das eine zentrale Rolle spielt und es umso schrecklicher wirken lässt, dass viele der Schuldigen und Mitläufer 1947 schon wieder fest im Sattel sitzen und erstaunlich gut durch die schweren Zeiten kommen – ganz im Gegensatz zu ihren Opfern und den mittelbar von ihnen Geschädigten.
Wie gewohnt lassen Rademachers Ortskenntnisse und seine gründlichen historischen Recherchen die Kulisse des kriegszerstörten Hamburg sehr plastisch erscheinen und machen Lebensbedingungen, Konflikte und – oft nur rudimentäre – Vergangenheitsbewältigung einer tristen Epoche greifbar. Die Figuren sind glaubhaft gezeichnet, und es macht viel Spaß, dass sich hier Staves Freundschaft mit MacDonald Stück für Stück vertieft und die beiden im dramatischen Finale sogar gemeinsam in ein nicht ganz legales Abenteuer ausziehen dürfen. Zudem gewinnt der jüdische Staatsanwalt Ehrlich, der die Nazizeit im englischen Exil überlebt hat, hier mehr Tiefe, da neben seinem beruflichen Engagement nun auch persönliche Belange (wie die Suche nach seiner verschollenen Kunstsammlung) stärker thematisiert werden.
Der Kriminalfall selbst ist spannend aufgebaut und gewinnt dadurch ein gewisses Maß an Realismus, dass Stave letzten Endes zwar vieles, aber nicht alles aufklären kann: Bei einem der drei gewaltsamen Todesfälle wird zwar eine mögliche Erklärung, wie es dazu gekommen sein könnte, angeboten, aber die genauen Hintergründe sind für den Ermittler nicht mehr festzustellen. Aber die Morde sind ohnehin nur ein Aspekt des Buchs: Wichtiger ist eigentlich die Schilderung einer Situation, in der nicht nur Not und Mangel den Menschen das Leben schwer machen, sondern alle – ob nun Täter, Opfer oder schweigende Zuschauer – nach einem großen Umbruch in einer unwiderruflich gewandelten Welt zurechtkommen müssen. Auf alle Fälle hält Der Schieber die Lust auf den dritten Band wach und weckt leises Bedauern, dass die Reihe über diesen hinaus nie fortgeführt worden ist.
Cay Rademacher: Der Schieber. Kriminalroman. Köln, DuMont, 2013, 368 Seiten.
ISBN: 978-3-8321-6254-2