Als Perseus Medusa erschlägt, ist das nicht deren Ende: Vielmehr kehrt die Gorgo in Gestalt von neun Schwestern zurück, die sich – so die Hoffnung – irgendwann einmal zu einem einzigen Wesen wiedervereinigen und dessen alte Macht zurückgewinnen werden. Doch dazu ist das Haupt der ursprünglichen Medusa unabdingbar notwendig, und das hat Perseus an sich genommen. Viele Jahrhunderte später ist Sema, eine der Medusenschwestern, mit ihrer Gefährtin, der Gargoyle Elena, auf der Flucht vor den selbsternannten Söhnen des Perseus, einem mordlüsternen Männerbund, der sich nicht nur die Auslöschung der Gorgonen auf die Fahnen geschrieben hat, sondern mit dem Medusenhaupt, das inzwischen durch viele Hände gegangen und nach einer zeitweisen Rückeroberung durch eine der Schwestern gut versteckt ist, Böses plant. Doch Umae, die Medusenschwester, die den Verwahrungsort des Kopfes kennt, kommt im Kampf gegen die Söhne des Perseus zu Tode, und so ist es nun auf einmal an Sema und Elena, die Umaes überlebende Vertraute Christabel und Hector bei sich aufnehmen und Unterstützung von dem Magier John erhalten, die langersehnte Wiedervereinigung zu einer einzigen Medusa voranzutreiben. Aber das wird allen Beteiligten große Opfer abverlangen …
Die Inhaltszusammenfassung lässt es ahnen: Medusa ist in James A. Sullivans neuem Buch Schlangen und Stein, das schwungvoll und spannend in der jüngsten Vergangenheit angesiedelte Urban Fantasy mit einer klassischen Questengeschichte kombiniert, kein böses Monster, sondern vielmehr ein Opfer von Neid und Machtgier, das in seinen Teilreinkarnationen immer wieder gegen unverdienten Hass und Vorurteile ankämpfen muss. Zugegeben, völlig neu ist die Idee, dass Perseus der Schurke der Sage und Medusa die eigentliche Gute ist, nicht (schon bei Palaiphatos findet sich eine Variante, die Medusa vermenschlicht und aus Perseus einen ruchlosen Piratenanführer macht), aber wie Sullivan sie umsetzt, ist bemerkenswert und so voll intertextueller Bezüge, dass man wahrscheinlich allein darüber ganze Aufsätze schreiben könnte.
Neben uminterpretierten antiken Mythen, Popkulturellem, Historischem und Sullivans eigenen Werken (so gibt es z. B. in der besonderen Bedeutung des Begriffs „Großzügigkeit“ eine Anspielung auf seine Chroniken von Beskadur oder in der Existenz beseelter Statuen unter anderem auch aus China eine auf seinen Letzen Steinmagier) sind es vor allem Parzival und Willehalm des Wolfram von Eschenbach, die immer wieder eine Rolle spielen (auch wenn aus dem Mittelalter zusätzlich noch eine Minnegrotte à la Tristan eine Zeitlang als Handlungsort dient), und das nicht nur, weil angeblich ein gewisser Kyot – wie sich im Laufe des Buchs zeigt, identisch mit demjenigen in der Quellenfiktion des Parzival – für das immer wieder auszugsweise zitierte Buch der Gorgonen verantwortlich zeichnet.
Denn wie immer erzählt Sullivan auf besondere Weise und lässt dadurch, dass hier Elena und Sema abwechselnd als Ich-Erzählerinnen agieren, während andere Passagen eben als Teile des Buchs der Gorgonen Einblicke in die Vorgeschichte des Romans erlauben, unterschiedliche Perspektiven und Stile zum Tragen kommen, was der Geschichte auch über die packende Handlung hinaus große Lebendigkeit verleiht.
Doch nicht nur die Art des Erzählens ist typisch Sullivan: Vielmehr gewinnt man den Eindruck, dass hier bestimmte inhaltliche Lieblingselemente des Autors (wie die Reinkarnation einer Figur in verschiedenen Gestalten bis hin zur Unsterblichkeit, romantische und sexuelle Beziehungen mit mehr als zwei Partnern, [Selbst-]Zweifel und nicht zuletzt magisch miteinander verbundene Welten) noch stärker als in seinen anderen Romanen zum Tragen kommen. Aber auch die gesellschaftlichen und politischen Missstände, deren Bekämpfung ihm besonders am Herzen liegt (vor allem Rassismus samt Versklavung und Ausbeutung, aber auch Sexismus), werden unverstellter und direkter thematisiert werden als in seinen älteren Werken, in denen sie oft in symbolischer oder verklausulierter Form erscheinen. Hier dagegen wird sehr offensichtlich, dass die zentralen Figuren auch deshalb ihren Feinden ein Dorn im Auge sind, weil sie deren Ansicht nach als Schwarze und Frauen, die über eine gewisse Macht verfügen, eine Bedrohung darstellen und zu Monstern erklärt werden müssen, um zu legitimieren, dass man sich selbst anzueignen versucht, was ihnen vermeintlich nicht zusteht.
Diese neue Eindeutigkeit ist natürlich unter anderem auch der Ansiedlung der Handlung in unserer Welt zu verdanken, durch die sich das Hauptfigurenensemble, ganz in klassischer Questen- und Reiseabentuermanier, von Irland über die Eifel, Köln (dessen Topographie besonders liebevoll ins Geschehen eingebunden wird), London und Wales bis in die ebenso eindrucksvolle wie unheimliche spätantike Nekropole von Arles bewegt. Dramatische Kämpfe fehlen dabei ebenso wenig wie reichlich Magie, aber auch zarter ausgemalte zwischenmenschliche (bzw. zwischengargoylische und -gorgonische?) Szenen. Die große Figurenfülle und die Tatsache, dass oft nicht im Voraus abzuschätzen ist, ob man es mit Verbündeten oder Gegnern zu tun hat (oder gar Verrat bei Ersteren wittern muss), lässt keine Langeweile aufkommen.
Auch abseits der oben skizzierten Zuspitzung, die James A. Sullivans große Themen erfahren, stellt sich übrigens das Gefühl ein, es hier mit einem besonders persönlichen Buch zu tun zu haben. Folgt man dem Autor in den sozialen Medien, fällt einem rasch auf, dass manches, was in seinem Umfeld unter dem Hashtag #TeamMedusa gepostet wurde, hier seinen Weg von der Realität in die Literatur gefunden hat, und auch von seiner Begeisterung für den im Roman mehrfach erwähnten Hercule-Poirot-Film Das Böse unter der Sonne dürfte man dann schon etwas mitbekommen haben.
Doch solches Hintergrundwissen ist eigentlich nicht nötig, um Schlangen und Stein mit Spannung, Interesse und Vergnügen zu lesen, bietet der Roman doch eine gelungene Verschmelzung von Epic und Urban Fantasy auch abseits der Suche nach möglichen Easter Eggs und darüber hinaus eine anrührende Dekonstruktion bestimmter vertrauter Handlungsmuster. Denn ein bei Auserwählten-Fantasy aller Art bestehendes, aber selten näher beleuchtetes Problem wird hier zwischen Sema und Elena ganz explizit angesprochen: Wenn eine Person innerhalb einer Gemeinschaft – in diesem Fall die jeweilige Medusenschwester – ganz klar die herausgehobene Figur ist, deren Mission und darin bestehender Selbstverwirklichung (hier im angestrebten Ganzwerden durch die Wiederverschmelzung der Schwestern sehr wörtlich zu nehmen) alle anderen ihre Wünsche und Bedürfnisse unterordnen (müssen), wie kommen dann die Übrigen zu ihrem Recht? Einfache Antworten gibt der Roman auf diese Frage nicht, aber dass er sie anschneidet, ist ein wichtiger Denkanstoß, der einem helfen kann, Gewohntes und damit als normal Empfundenes zu hinterfragen.
Auch durch diese Form der Auseinandersetzung mit seinem Genre kommt James A. Sullivan seinem erklärten Ziel, progressive Phantastik zu schreiben, mit diesem Roman wohl näher denn je.
James A. Sullivan: Schlangen und Stein. Das Erwachen der Medusa. München, Piper, 2024, 448 Seiten.
ISBN: 978-3-492-70673-5