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Schlangen und Stein

Als Perseus Medusa erschlägt, ist das nicht deren Ende: Vielmehr kehrt die Gorgo in Gestalt von neun Schwestern zurück, die sich – so die Hoffnung – irgendwann einmal zu einem einzigen Wesen wiedervereinigen und dessen alte Macht zurückgewinnen werden. Doch dazu ist das Haupt der ursprünglichen Medusa unabdingbar notwendig, und das hat Perseus an sich genommen. Viele Jahrhunderte später ist Sema, eine der Medusenschwestern, mit ihrer Gefährtin, der Gargoyle Elena, auf der Flucht vor den selbsternannten Söhnen des Perseus, einem mordlüsternen Männerbund, der sich nicht nur die Auslöschung der Gorgonen auf die Fahnen geschrieben hat, sondern mit dem Medusenhaupt, das inzwischen durch viele Hände gegangen und nach einer zeitweisen Rückeroberung durch eine der Schwestern gut versteckt ist, Böses plant. Doch Umae, die Medusenschwester, die den Verwahrungsort des Kopfes kennt, kommt im Kampf gegen die Söhne des Perseus zu Tode, und so ist es nun auf einmal an Sema und Elena, die Umaes überlebende Vertraute Christabel und Hector bei sich aufnehmen und Unterstützung von dem Magier John erhalten, die langersehnte Wiedervereinigung zu einer einzigen Medusa voranzutreiben. Aber das wird allen Beteiligten große Opfer abverlangen …

Die Inhaltszusammenfassung lässt es ahnen: Medusa ist in James A. Sullivans neuem Buch Schlangen und Stein, das schwungvoll und spannend in der jüngsten Vergangenheit angesiedelte Urban Fantasy mit einer klassischen Questengeschichte kombiniert, kein böses Monster, sondern vielmehr ein Opfer von Neid und Machtgier, das in seinen Teilreinkarnationen immer wieder gegen unverdienten Hass und Vorurteile ankämpfen muss. Zugegeben, völlig neu ist die Idee, dass Perseus der Schurke der Sage und Medusa die eigentliche Gute ist, nicht (schon bei Palaiphatos findet sich eine Variante, die Medusa vermenschlicht und aus Perseus einen ruchlosen Piratenanführer macht), aber wie Sullivan sie umsetzt, ist bemerkenswert und so voll intertextueller Bezüge, dass man wahrscheinlich allein darüber ganze Aufsätze schreiben könnte.

Neben uminterpretierten antiken Mythen, Popkulturellem, Historischem und Sullivans eigenen Werken (so gibt es z. B. in der besonderen Bedeutung des Begriffs „Großzügigkeit“ eine Anspielung auf seine Chroniken von Beskadur oder in der Existenz beseelter Statuen unter anderem auch aus China eine auf seinen Letzen Steinmagier) sind es vor allem Parzival und Willehalm des Wolfram von Eschenbach, die immer wieder eine Rolle spielen (auch wenn aus dem Mittelalter zusätzlich noch eine Minnegrotte à la Tristan eine Zeitlang als Handlungsort dient), und das nicht nur, weil angeblich ein gewisser Kyot – wie sich im Laufe des Buchs zeigt, identisch mit demjenigen in der Quellenfiktion des Parzival – für das immer wieder auszugsweise zitierte Buch der Gorgonen verantwortlich zeichnet.

Denn wie immer erzählt Sullivan auf besondere Weise und lässt dadurch, dass hier Elena und Sema abwechselnd als Ich-Erzählerinnen agieren, während andere Passagen eben als Teile des Buchs der Gorgonen Einblicke in die Vorgeschichte des Romans erlauben, unterschiedliche Perspektiven und Stile zum Tragen kommen, was der Geschichte auch über die packende Handlung hinaus große Lebendigkeit verleiht.

Doch nicht nur die Art des Erzählens ist typisch Sullivan: Vielmehr gewinnt man den Eindruck, dass hier bestimmte inhaltliche Lieblingselemente des Autors (wie die Reinkarnation einer Figur in verschiedenen Gestalten bis hin zur Unsterblichkeit, romantische und sexuelle Beziehungen mit mehr als zwei Partnern, [Selbst-]Zweifel und nicht zuletzt magisch miteinander verbundene Welten) noch stärker als in seinen anderen Romanen zum Tragen kommen. Aber auch die gesellschaftlichen und politischen Missstände, deren Bekämpfung ihm besonders am Herzen liegt (vor allem Rassismus samt Versklavung und Ausbeutung, aber auch Sexismus), werden unverstellter und direkter thematisiert werden als in seinen älteren Werken, in denen sie oft in symbolischer oder verklausulierter Form erscheinen. Hier dagegen wird sehr offensichtlich, dass die zentralen Figuren auch deshalb ihren Feinden ein Dorn im Auge sind, weil sie deren Ansicht nach als Schwarze und Frauen, die über eine gewisse Macht verfügen, eine Bedrohung darstellen und zu Monstern erklärt werden müssen, um zu legitimieren, dass man sich selbst anzueignen versucht, was ihnen vermeintlich nicht zusteht.

Diese neue Eindeutigkeit ist natürlich unter anderem auch der Ansiedlung der Handlung in unserer Welt zu verdanken, durch die sich das Hauptfigurenensemble, ganz in klassischer Questen- und Reiseabentuermanier, von Irland über die Eifel, Köln (dessen Topographie besonders liebevoll ins Geschehen eingebunden wird), London und Wales bis in die ebenso eindrucksvolle wie unheimliche spätantike Nekropole von Arles bewegt. Dramatische Kämpfe fehlen dabei ebenso wenig wie reichlich Magie, aber auch zarter ausgemalte zwischenmenschliche (bzw. zwischengargoylische und -gorgonische?) Szenen. Die große Figurenfülle und die Tatsache, dass oft nicht im Voraus abzuschätzen ist, ob man es mit Verbündeten oder Gegnern zu tun hat (oder gar Verrat bei Ersteren wittern muss), lässt keine Langeweile aufkommen.

Auch abseits der oben skizzierten Zuspitzung, die James A. Sullivans große Themen erfahren, stellt sich übrigens das Gefühl ein, es hier mit einem besonders persönlichen Buch zu tun zu haben. Folgt man dem Autor in den sozialen Medien, fällt einem rasch auf, dass manches, was in seinem Umfeld unter dem Hashtag #TeamMedusa gepostet wurde, hier seinen Weg von der Realität in die Literatur gefunden hat, und auch von seiner Begeisterung für den im Roman mehrfach erwähnten Hercule-Poirot-Film Das Böse unter der Sonne dürfte man dann schon etwas mitbekommen haben.

Doch solches Hintergrundwissen ist eigentlich nicht nötig, um Schlangen und Stein mit Spannung, Interesse und Vergnügen zu lesen, bietet der Roman doch eine gelungene Verschmelzung von Epic und Urban Fantasy auch abseits der Suche nach möglichen Easter Eggs und darüber hinaus eine anrührende Dekonstruktion bestimmter vertrauter Handlungsmuster. Denn ein bei Auserwählten-Fantasy aller Art bestehendes, aber selten näher beleuchtetes Problem wird hier zwischen Sema und Elena ganz explizit angesprochen: Wenn eine Person innerhalb einer Gemeinschaft – in diesem Fall die jeweilige Medusenschwester – ganz klar die herausgehobene Figur ist, deren Mission und darin bestehender Selbstverwirklichung (hier im angestrebten Ganzwerden durch die Wiederverschmelzung der Schwestern sehr wörtlich zu nehmen) alle anderen ihre Wünsche und Bedürfnisse unterordnen (müssen), wie kommen dann die Übrigen zu ihrem Recht? Einfache Antworten gibt der Roman auf diese Frage nicht, aber dass er sie anschneidet, ist ein wichtiger Denkanstoß, der einem helfen kann, Gewohntes und damit als normal Empfundenes zu hinterfragen.

Auch durch diese Form der Auseinandersetzung mit seinem Genre kommt James A. Sullivan seinem erklärten Ziel, progressive Phantastik zu schreiben, mit diesem Roman wohl näher denn je.

James A. Sullivan: Schlangen und Stein. Das Erwachen der Medusa. München, Piper, 2024, 448 Seiten.
ISBN: 978-3-492-70673-5

 


Genre: Roman

Das Orakel in der Fremde

Das hier besprochene Buch ist der zweite Band eines Zweiteilers. Zur Rezension des ersten Bandes führt dieser Link.

Jahrzehnte sind ins Land gegangen, seit die Runde von Vertrauten um Ardoas, die Reinkarnation der Elfenmagierin Naromee, einen schweren Schicksalsschlag hinnehmen musste. Inzwischen hat sich im Felsentempel Beskadur eine lebendige Gemeinschaft herausgebildet, die zusammen wirtschaftet und forscht. Die Schergen des Magiers Erlun, der weiterhin das Orakel Niadaris gefangen hält, ruhen aber nach wie vor nicht. Allerdings gibt es Hoffnung: Endlich scheint sich abzuzeichnen, dass Naromees für die Elfen so wichtige Erinnerungen doch wieder zugänglich werden könnten. Um das zu erleichtern, begibt sich die ehemalige Söldnerin Jerudana noch einmal nach Ilbengrund und tritt mit einem ganz besonderen Begleiter die Rückreise nach Beskadur an. Aber wird diesmal gelingen, woran sie und ihre Liebsten schon einmal knapp gescheitert sind? Helfen könnte Ardoas‘ Tante und Mentorin Zordura, doch deren derzeitiger Aufenthaltsort ist unbekannt, und die Suche nach ihr wird zum gefahrvollen Abenteuer …

Es ist James A. Sullivan ernst mit dem schon im ersten Band beschworenen Doppelweg: Der Teilerfolg, den Ardoas und die Seinen errungen haben, reicht nicht aus, und so müssen, wieder gerahmt von einer Geburtstagsfeier und einer Beerdigung, bestimmte Stationen ein zweites Mal angelaufen und die erste Queste und ihr Ergebnis noch deutlich übertroffen werden, um ans Ziel zu gelangen. Während sich aber der Held des klassischen Artusromans zumeist relativ bald nach seinen ersten Abenteuern ein zweites Mal beweisen muss, sind seit dem Erbe der Elfenmagierin über dreißig Jahre vergangen und haben ihre Spuren hinterlassen. Daludred und Jerudana sind gealtert und herangereift, und obwohl diesbezüglich für Elfen etwas andere Spielregeln als für Menschen gelten, ist auch Ardoas ein anderer, als er wieder ins Geschehen eingreift. Doch die Veränderungen beschränken sich nicht auf individuelle Schicksale. Gerade das erste Viertel des Romans befasst sich immer wieder mit dem Thema, wie Einzelpersonen oder kleine Gruppen den Anstoß zu weitreichenden Entwicklungen liefern können, die gleichwohl nicht überall auf Gegenliebe stoßen.

Dies bleibt nicht die einzige Anspielung auf aktuelle Themen, denn trotz der Ansiedlung der Geschichte in einer vormodern anmutenden Welt ist der Roman dezidiert progressiv, und so finden sich hier auch Kritik an dem, was wir heute unter dem Begriff der „kulturellen Aneignung“ fassen würden, immer wieder Verweise auf die bittere Sklavereivergangenheit der Elfen, Überlegungen zu Machtstrukturen (etwa durch Altersunterschiede in einer Liebesbeziehung) und eine selbstverständliche Vielfalt nicht nur an Fantasywesen, sondern auch an Hautfarben und Geschlechtsidentitäten (die jenseits der Unterscheidung in Frau und Mann durch ein kreatives Pronomensystem beschrieben werden). Eine große Rolle spielen abermals Reinkarnationserfahrungen, einerseits phantastisch-wörtlicher Art, dann aber auch in Form metaphorischer Wiedergeburten, wenn eine Person in ein- und demselben Leben noch einmal ein ganz neues Kapitel aufschlägt.

Als zweites Leitmotiv tritt neben das schon im ersten Band immer wieder aufscheinende des Zweifels hier dasjenige des Lobs der positiven Aspekte von Gemeinschaft und gegenseitiger Unterstützung. Ohnehin liest es sich erfrischend, wie sehr die Hauptfiguren stets um einen respekt- und vertrauensvollen Umgang miteinander und mit Dritten bemüht sind. Auch stilistisch geht James A. Sullivan teilweise neue Wege, die sich von der Fantasytradition der letzten paar Jahrzehnte absetzen: So wird im personalen Erzählen nicht immer strikt eine Perspektive durchgehalten, sondern durchaus einmal effektvoll gewechselt, und der typische Erzählerbericht wird durch Einschübe in Form von Tagebucheinträgen aufgelockert, die weniger szenisch angelegt sind. Erwartungen werden aber nicht nur in dieser Hinsicht gebrochen, sondern auch handlungsmäßig: Glaubt man, ein vertrautes Motiv vor sich zu haben, wird es oft  spielerisch abgewandelt oder ganz anders aufgelöst, als man es erwarten könnte. Kein Wunder, dass da in kritischer Situation selbst ein gestandenes Orakel angibt, das Ende nicht vorausahnen zu können!

Trotz aller modernen Elemente ist Das Orakel in der Fremde aber auch stark von James A. Sullivans Wissen über mittelalterliche Literatur geprägt (z. B. taucht ein deftiger Begriff aus dem Werk Neidharts leicht abgewandelt als Vokabel der Elfensprache auf, und es gibt eine Gestalt namens Ithaunje, deren Partner eine ähnlich ambivalente Rolle spielt wie der Geliebte der Itonje im Parzival). Hier wie auch beim Schöpfen aus einer zweiten (wenn auch von der ersten zumindest mittelbar beeinflussten) literarischen Tradition, nämlich der der abenteuerlichen Questenfantasy, ist überdeutlich, dass der Autor sich die im ersten Band auf die Elfen bezogene Maxime selbst zu eigen gemacht hat, Überkommenes zu hinterfragen, aber das Gute daran durchaus zu bewahren. Denn neben ruhigeren und philosophischen Passagen verfügt der Roman über alles, was an dieser Art von Fantasy Spaß macht: eine ausgedehnte Welt mit unterschiedlichsten Kulturen, eindrucksvolle Gebäude, actionreiche Kämpfe (darunter manche auch auf Luftschiffen), kühne Rettungsmissionen, rätselhafte Artefakte sowie magische Geheimnisse aller Art. Auch eine schön gestaltete Landkarte (in zwei Teilen) fehlt natürlich nicht.

So ist letztlich auch James A. Sullivans gelungene Rückkehr in die Fantasy ein Doppelweg eigener Art, der in vertrauten Gefilden noch einmal eine ganz neue Richtung einschlägt und aufzeigt, welche unerwarteten Möglichkeiten das Genre bieten kann, ohne dass man auf vertraute Vorzüge verzichten muss.

James A. Sullivan: Das Orakel in der Fremde. Die Chroniken von Beskadur 2. München, Piper 2022, 432 Seiten.
ISBN: 978-3-492-70672-8


Genre: Roman

Das Erbe der Elfenmagierin

Auf dem Elfen Ardoas ruhen große Erwartungen: Als jüngste Inkarnation der Elfenmagierin Naromee, die schon vielfach wiedergeboren worden ist, kann nur er den Schlüssel zu ihren Erinnerungen finden, die seine Gemeinschaft für entscheidend für ihr weiteres Gedeihen hält. Es gibt nur eine Schwierigkeit: All seine Seelengeschwister (wie er die vorhergehenden Inkarnationen nennt) haben bei dem Versuch, in der Fremde Naromees Erinnerungen auf die Spur zu kommen, den Tod gefunden. So soll Ardoas auf Wunsch seiner Eltern lieber friedlich seine Studien treiben, als sich in die Ferne zu wagen. Natürlich verschlägt es ihn auf Umwegen doch noch dorthin, denn ihm wird schnell klar, dass vermutlich nur das Orakel Niadaris ihm weiterhelfen kann, eine hellseherisch begabte Person, die angeblich in einem entlegenen Felsentempel lebt. Auch der junge Adlige Daludred, der ähnlich wie Ardoas gegen den Willen seiner Eltern in die Welt gezogen ist, möchte Niadaris finden, um seine eigene Sehergabe schulen zu können. Die beiden hoffen, gemeinsam ans Ziel zu kommen. Doch leider geht auch das Gerücht, dass der Tempel Schätze birgt. Das weckt natürlich Begehrlichkeiten, und so sind den jungen Männern bald ein zwielichtiger Händler, verschiedene Söldnerhaufen und ein undurchsichtiger Magierbund auf den Fersen. Die Söldnerin Jerudana scheint die besten Aussichten zu haben, die Gesuchten als Erste aufzuspüren – doch als sie erkennt, dass in den eigenen Reihen Verrat lauert, muss sie noch einmal überdenken, was sie mit Ardoas und Daludred nun eigentlich anfangen will …

Nach mehreren Science-Fiction-Romanen kehrt James A. Sullivan mit seinem neuen Buch Das Erbe der Elfenmagierin in die Fantasy zurück, die sich bei ihm – wie schon aus Nuramon gewohnt – fast wie die moderne Entsprechung eines mittelalterlichen Artusromans liest: eine Geschichte voller Abenteuer, Kämpfe und Liebe, aber auch mit dem ein oder anderen philosophischen Moment, die mit einer magiedurchtränkten Welt und einer bunten Figurenfülle aufwartet. Diesmal hat vor allem der Parzival Wolframs von Eschenbach als Inspirationsquelle gedient, und das nicht nur, weil die Ausgangssituation des Helden, der aus elterlicher Liebe von der Welt ferngehalten wird, um nicht die tödlichen Fehler vorhergehender Generationen (bzw. hier: Inkarnationen) zu wiederholen, sich gleicht (wobei im Einstieg mit einer bedeutungsvollen Geburtstagsfeier natürlich zugleich ein Augenzwinkern in Richtung Tolkien mitschwingt). Vielmehr kehrt fast leitmotivisch der Begriff des Zweifels wieder, der den vieldiskutierten zwîvel der Eingangsverse des Parzival evoziert, und auch die Art, wie Jagd und Gewaltausübung als oft unumgängliche, aber für den Helden emotional doch zweischneidige Tätigkeiten gezeichnet werden, hat bei Wolfram Vorbilder. Dass diese und manch andere Parallelen nicht etwa unbewusst eingeflossen sind, sondern Methode haben, zeigt sich an deutlicheren Anspielungen, die das Mediävistenherz erfreuen: So diskutieren z. B. zwei Romanfiguren ganz offen über die anscheinend auch in ihrer Welt für epische Dichtung typischen Doppelwege, zu denen es vorzüglich passt, dass der Roman der Einstiegsband eines Zweiteilers ist.

Doch Das Erbe der Elfenmagierin ist eben zugleich auch ein modernes Buch, das sich keinem mittelalterlichen Ethos, sondern progressiven Idealen verschrieben hat. James A. Sullivan wählt dabei den Weg, Probleme unserer Welt nicht einfach durch eine phantastische Entsprechung darzustellen, sondern hält der heutigen Gesellschaft einen Spiegel vor, indem er für Ardoas und seine Umgebung vieles, was in der Realität bestenfalls geduldet, aber doch nicht voll und ganz akzeptiert ist, schiere Normalität sein lässt. Diversität (ob nun an Hautfarben, Geschlechtsidentitäten oder sexuellen Orientierungen), Gleichberechtigung und Liebesbeziehungen, die sich nicht nur auf zwei Personen beschränken, sind hier selbstverständlich und stellen einen vor die Frage, ob das Gewohnte und Gewöhnliche tatsächlich immer naturgegeben ist oder ob Traditionen nicht auch willkürliche Elemente enthalten mögen.

Mit dem Stichwort Traditionen – die einerseits zwar als Kitt geschildert werden, der insbesondere verfolgte Gruppen zusammenhält, andererseits aber auch in ihrer Hinterfragbarkeit beleuchtet werden – ist auch schon eines der Themen benannt, die James A. Sullivan schon in seinen älteren Werken beschäftigen, hier aber noch klarer und prononcierter ausgearbeitet werden als etwa in Nuramon. In diesen Kreis gehören auch das Motiv der Fremdheitserfahrung, das der Weltenreisenden, die sich – ihrem eigenen Ursprungskontext entrissen und nach langer Zeit in der Sklaverei – selbst eine Zuflucht schaffen müssen, das des nach menschlichen Maßstäben außergewöhnlich langen (ggf. magisch verlängerten) Lebens und das der Reinkarnation. Die Kombination der beiden letztgenannten Phänomene bringt Ardoas in einige interessante Situationen, denn wie geht man etwa damit um, wenn man wiedergeboren der noch lebenden Geliebten seiner letzten Inkarnation gegenübersteht? Auch die Freude des Autors an Sprache ist dem Roman anzumerken, und so kann es auch schon einmal passieren, dass ein romantisches Nachtgespräch nahtlos in eine linguistische Erörterung derbster Flüche übergeht, um dann doch noch ebenso deftig wie elegant den Bogen zurück zum Ausgangsthema zu schlagen.

Falls das aber nun alles nach gedankenschwerer Lektüre klingt, keine Sorge: Das Erbe der Elfenmagierin verpackt all diese Überlegungen mit leichter Hand in eine spannende Handlung, die zwar noch recht beschaulich mit Bibliotheksrecherchen beginnen mag, aber im Laufe der Zeit immer mehr Fahrt aufnimmt und gegen Ende äußerst actionreich auf eine tragische Wendung hinführt, mit der man im ersten Band einer Reihe so nicht rechnet. Gut also, dass Band 2, Das Orakel in der Fremde, schon im nächsten Jahr erscheint, denn wie es weitergeht, möchte man nach der Lektüre des Erbes der Elfenmagierin (das übrigens mit einer Karte zum Ausklappen und geprägtem Cover auch äußerlich schön gestaltet ist) unbedingt wissen.

James A. Sullivan: Das Erbe der Elfenmagierin. Die Chroniken von Beskadur 1. München, Piper, 2021, 448 Seiten.
ISBN: 978-3-492-70671-1


Genre: Roman

Die Stadt der Symbionten

Nach der Verwüstung der Erde durch Außerirdische kann der letzte Rest der Menschheit nur noch in der unter einer Kuppel am Südpol gelegenen Stadt Jaskandris überleben. Dank der perfekten Steuerung der Stadt durch künstliche Intelligenz ist das auch mit einigem Komfort möglich: Der menschliche Alterungsprozess wird ab einem gewissen Punkt gestoppt, Wärme und synthetisch erzeugte Nahrung sind reichlich vorhanden. Allerdings funktioniert das System nur, solange die Bevölkerungszahl konstant bleibt. Wann immer ein neues Kind geboren wird, muss sich zum Ausgleich ein anderes Familienmitglied in einen Schlaf in den unter der Stadt gelegenen Eiskammern begeben, der durchaus Jahrzehnte andauern kann.

Aus solch einem Schlaf ist Gamil kürzlich wieder geweckt worden. Als sogenannter Symbiont, der dank besonders feiner Sinne und in seinen Körper eingesetzter technischer Bauteile gedanklich mit den Computersystemen der Stadt kommunizieren kann, könnte er eigentlich eine glänzende Zukunft an einer der konkurrierenden wissenschaftlichen Fakultäten haben. Doch seinen Verwandten ist er nicht mehr willkommen, und da sein einstiges Umfeld nicht mehr existiert, fühlt er sich oft genug fremd in der eigenen Heimat. Kein Wunder also, dass er zum besonders genauen Beobachter wird und in all den Datensätzen, die ihn umschwirren, irgendwann ein sonderbares Flüstern aufschnappt, dem er neugierig folgt, ohne zu ahnen, dass er sich damit in höchste Gefahr begibt. Denn in Jaskandris ist nicht alles, wie es scheint, und als Gamil sich bereiterklärt, einer Person zu helfen, die eine unglaubliche Entdeckung gemacht hat, ist ihm bald nicht nur die Polizei auf den Fersen, sondern auch seine Rivalin Yaldira, die wild entschlossen ist, Gamil selbst zur Strecke zu bringen …

Ein Geständnis gleich zu Beginn meiner Einschätzung dieses spannenden Romans: Eine große Science-Fiction-Leserin bin ich eigentlich nicht und fühle mich in der Regel in historisch inspirierten Welten wesentlich sattelfester als in futuristischen. Für einen Lieblingsautor wie James A. Sullivan mache ich aber durchaus einmal eine Ausnahme, und das zu tun, hat sich in diesem Fall gelohnt.

Es ist eine beklemmende, ja geradezu klaustrophobische Kulisse, die Sullivan entwirft: Die ganze bekannte Welt beschränkt sich für sein Figurenensemble auf eine einzige Stadt in einer ansonsten lebensfeindlichen Gegend. Wer aber nun glaubt, dass die Situation schon am Anfang unerfreulich genug aussieht, darf sich auf eine Enthüllung nach der anderen gefasst machen, die alles nach und nach in immer verstörenderem Licht erscheinen lässt. Sogar ganz zum Schluss, als nach einem aufregenden Showdown schon alles geklärt scheint, folgt in Sachen Weltenbau eine letzte überraschende Wendung, die die bisher gewonnenen Erkenntnisse noch einmal gehörig auf den Kopf stellt. Auch wenn die Handlung zu einem stimmigen Abschluss gebracht wird, hat man nicht zuletzt auch deshalb das Gefühl, dass die eigentliche Geschichte am Ende des Romans gerade erst beginnen könnte.

Bis dahin folgt man Gamil und seinen Verbündeten durch einen wahren Thriller, in dem an Verfolgungsjagden, Blutvergießen, List und Gegenlist kein Mangel herrscht, aber auch mit Genrekonventionen gespielt wird, um altbekannte Formeln auszuhebeln (z.B. wenn zwei Figuren, die in jedem anderen Roman vermutlich schnell ein Liebespaar werden würden, stattdessen darüber diskutieren, aus welchen Gründen ebendiese Entwicklung ausbleibt). Hinzu kommt noch ein packendes Polarabenteuer, denn der Verlauf der Geschehnisse führt dazu, dass Yaldira sich ab einem bestimmten Zeitpunkt außerhalb der Stadt wiederfindet, und dort im ewigen Eis ist mehr zu entdecken, als man zunächst zu hoffen gewagt hätte. Dieser Handlungsstrang, der Elemente einer Questengeschichte aufweist, hätte gern noch etwas ausgebaut werden können.

Zentral für den Roman ist immer wieder die Frage nach Selbst- und Fremdbestimmung und nach der Bereitschaft, aus egoistischen Gründen ungute Verhältnisse mitzutragen (oder aber eben zum eigenen Nachteil dagegen aufzubegehren). Vordergründig mag es dabei auch um die Tücken einer immer stärkeren technischen Vernetzung gehen, die einerseits die eigenen Handlungsoptionen erhöht, einen andererseits aber auch angreifbar macht. Doch die zugrundeliegenden Mechanismen sind auch abseits des Computerzeitalters durchaus denkbar. Sullivan erweist sich als kundiger Beobachter menschlicher Schwächen und Stärken, der trotz seines realistischen Blicks auf die Hierarchien, brüchigen Loyalitäten, Eifersüchteleien und offenen Konflikte, die das Zusammenleben nicht nur in seinem Roman prägen, in seiner Grundtendenz dennoch hoffnungsvoll bleibt. Wer Lust auf einen Ausflug in postapokalyptische Zeiten hat, an deren Beispiel manches geschildert wird, was sich auch auf unsere Gegenwart übertragen lässt, sollte der Stadt der Symbionten also einen Besuch abstatten.

James A. Sullivan: Die Stadt der Symbionten. München, Piper, 2019, 720 Seiten.
ISBN: 978-3-492-70419-9


Genre: Roman

Der letzte Steinmagier

Seit ein böser Zauberer die schwangere Kaiserin in Stein verwandelt und damit die dynastische Erbfolge unterbrochen hat, herrscht im Kaiserreich Niwaen-ju Bürgerkrieg. Zahlreiche Fürsten ringen um die Macht und bedienen sich dabei der Kräfte der Steinmagier, deren Zahl allerdings immer weiter zurückgeht. Die Schlacht von Wuchao, die eigentlich nur ein Etappensieg für den tyrannischen Fürsten Dayku Quan sein könnte, erweist sich als Wendepunkt, kommen in ihr doch sämtliche verbliebene Steinmagier um – bis auf einen, den jungen und oft unterschätzten Wurishi Yu, den sein Lehrmeister vorausschauend an einem sicheren Ort zurückgelassen hat.

Yu ahnt, dass weder er selbst noch die Zauberspruchsammlung seines Meisters Dayku Quan in die Hände fallen darf, der mit der Verfügungsgewalt über den letzten Rest der Steinmagie Verheerendes anrichten könnte. Die Flucht in ein Nachbarterritorium erscheint als einziger Ausweg, verläuft aber nicht so, wie Yu sie sich vorstellt. Unterwegs wird er nolens volens zum Befreier dreier Gefangener, die sich ihm anschließen. Bald braucht Yu seinerseits ihre Hilfe, denn alles deutet darauf hin, dass die ihm zugedachte Aufgabe sich beileibe nicht darauf beschränkt, magische Schriften in Sicherheit zu bringen …

James A. Sullivan entwirft in Der letzte Steinmagier eine bunte, lebendige und im wahrsten Sinne des Wortes zauberhafte Welt, die an das alte China erinnert. So lehnt sich die eindringliche Schilderung von Statuen, die einzelnen Menschen magisch zur Unsterblichkeit verhelfen können, an die Terrakotta-Armee im Grab des ersten chinesischen Kaisers an. Neben der Archäologie hat aber auch die klassische chinesische Literatur unverkennbar als Inspirationsquelle gedient. Charmant ist z.B., dass Yus Flucht zunächst explizit nach Westen verläuft, denn der Roman Die Reise nach Westen dürfte die Zusammensetzung des kleinen Gefährtentrupps, den Yu um sich schart, durchaus beeinflusst haben. Insbesondere der wohl an die Figur des Affenkönigs Sun Wukong angelehnte Dieb Sankou Yan bringt neben einiger Dynamik auch immer wieder einen guten Schuss Komik in die Geschehnisse ein.

Was sich in dieser fernöstlichen Umgebung abspielt, ist eine Questengeschichte um die Wiederherstellung der legitimen Herrschaft. Liebeswirren und Diebestouren am Rande lockern amüsant die Haupthandlung auf. Der Reiz besteht dabei insgesamt weniger in der Frage, was das Endergebnis von Yus Abenteuern sein wird – dank einer Rahmenerzählung kennt man das als Leserin oder Leser von Anfang an -, sondern in der, wie genau der Weg dorthin verläuft, und in den liebevoll ausgearbeiteten Figuren. Obwohl mehrere von ihnen mit eindrucksvollen magischen Kräften ausgestattet sind und Kämpfe, Verfolgungsjagden und Zaubererduelle in ihrem Verlauf deshalb oft das alltägliche Maß übersteigen, bleiben die Personen, wie von Sullivan gewohnt, stets menschlich und in vielen Fällen auch sympathisch.

Yu ist dabei ein Held abseits der gängigen Fantasyklischees, denn um seine Mission erfolgreich zu bewältigen, setzt er nicht primär auf kriegerische Mittel, sondern in hohem Maße auf Meditation und Bücherwissen, die auf stille Art die magischen Fertigkeiten stärken.

Das Ende der Rahmenhandlung lässt mit seinen Andeutungen über das weitere Schicksal von Yus Gefährten und den Verlauf der Wiederherstellung der kaiserlichen Macht die Möglichkeit einer Fortsetzung offen, zu der es aber bedauerlicherweise in den Jahren seit der Veröffentlichung des Letzten Steinmagiers nie gekommen zu sein scheint. Umso schöner ist es, dass der Autor auf seiner Website eine Kurzgeschichte um Sankou Yan als kostenlosen PDF-Download zur Verfügung stellt, denn wenn es schon kein Sequel gibt, so doch immerhin ein kleines Prequel.

James A. Sullivan: Der letzte Steinmagier. Hamburg, Mira, 2008, 604 Seiten.
ISBN: 978-3899414288

 


Genre: Roman