Das Orakel in der Fremde

Das hier besprochene Buch ist der zweite Band eines Zweiteilers. Zur Rezension des ersten Bandes führt dieser Link.

Jahrzehnte sind ins Land gegangen, seit die Runde von Vertrauten um Ardoas, die Reinkarnation der Elfenmagierin Naromee, einen schweren Schicksalsschlag hinnehmen musste. Inzwischen hat sich im Felsentempel Beskadur eine lebendige Gemeinschaft herausgebildet, die zusammen wirtschaftet und forscht. Die Schergen des Magiers Erlun, der weiterhin das Orakel Niadaris gefangen hält, ruhen aber nach wie vor nicht. Allerdings gibt es Hoffnung: Endlich scheint sich abzuzeichnen, dass Naromees für die Elfen so wichtige Erinnerungen doch wieder zugänglich werden könnten. Um das zu erleichtern, begibt sich die ehemalige Söldnerin Jerudana noch einmal nach Ilbengrund und tritt mit einem ganz besonderen Begleiter die Rückreise nach Beskadur an. Aber wird diesmal gelingen, woran sie und ihre Liebsten schon einmal knapp gescheitert sind? Helfen könnte Ardoas‘ Tante und Mentorin Zordura, doch deren derzeitiger Aufenthaltsort ist unbekannt, und die Suche nach ihr wird zum gefahrvollen Abenteuer …

Es ist James A. Sullivan ernst mit dem schon im ersten Band beschworenen Doppelweg: Der Teilerfolg, den Ardoas und die Seinen errungen haben, reicht nicht aus, und so müssen, wieder gerahmt von einer Geburtstagsfeier und einer Beerdigung, bestimmte Stationen ein zweites Mal angelaufen und die erste Queste und ihr Ergebnis noch deutlich übertroffen werden, um ans Ziel zu gelangen. Während sich aber der Held des klassischen Artusromans zumeist relativ bald nach seinen ersten Abenteuern ein zweites Mal beweisen muss, sind seit dem Erbe der Elfenmagierin über dreißig Jahre vergangen und haben ihre Spuren hinterlassen. Daludred und Jerudana sind gealtert und herangereift, und obwohl diesbezüglich für Elfen etwas andere Spielregeln als für Menschen gelten, ist auch Ardoas ein anderer, als er wieder ins Geschehen eingreift. Doch die Veränderungen beschränken sich nicht auf individuelle Schicksale. Gerade das erste Viertel des Romans befasst sich immer wieder mit dem Thema, wie Einzelpersonen oder kleine Gruppen den Anstoß zu weitreichenden Entwicklungen liefern können, die gleichwohl nicht überall auf Gegenliebe stoßen.

Dies bleibt nicht die einzige Anspielung auf aktuelle Themen, denn trotz der Ansiedlung der Geschichte in einer vormodern anmutenden Welt ist der Roman dezidiert progressiv, und so finden sich hier auch Kritik an dem, was wir heute unter dem Begriff der „kulturellen Aneignung“ fassen würden, immer wieder Verweise auf die bittere Sklavereivergangenheit der Elfen, Überlegungen zu Machtstrukturen (etwa durch Altersunterschiede in einer Liebesbeziehung) und eine selbstverständliche Vielfalt nicht nur an Fantasywesen, sondern auch an Hautfarben und Geschlechtsidentitäten (die jenseits der Unterscheidung in Frau und Mann durch ein kreatives Pronomensystem beschrieben werden). Eine große Rolle spielen abermals Reinkarnationserfahrungen, einerseits phantastisch-wörtlicher Art, dann aber auch in Form metaphorischer Wiedergeburten, wenn eine Person in ein- und demselben Leben noch einmal ein ganz neues Kapitel aufschlägt.

Als zweites Leitmotiv tritt neben das schon im ersten Band immer wieder aufscheinende des Zweifels hier dasjenige des Lobs der positiven Aspekte von Gemeinschaft und gegenseitiger Unterstützung. Ohnehin liest es sich erfrischend, wie sehr die Hauptfiguren stets um einen respekt- und vertrauensvollen Umgang miteinander und mit Dritten bemüht sind. Auch stilistisch geht James A. Sullivan teilweise neue Wege, die sich von der Fantasytradition der letzten paar Jahrzehnte absetzen: So wird im personalen Erzählen nicht immer strikt eine Perspektive durchgehalten, sondern durchaus einmal effektvoll gewechselt, und der typische Erzählerbericht wird durch Einschübe in Form von Tagebucheinträgen aufgelockert, die weniger szenisch angelegt sind. Erwartungen werden aber nicht nur in dieser Hinsicht gebrochen, sondern auch handlungsmäßig: Glaubt man, ein vertrautes Motiv vor sich zu haben, wird es oft  spielerisch abgewandelt oder ganz anders aufgelöst, als man es erwarten könnte. Kein Wunder, dass da in kritischer Situation selbst ein gestandenes Orakel angibt, das Ende nicht vorausahnen zu können!

Trotz aller modernen Elemente ist Das Orakel in der Fremde aber auch stark von James A. Sullivans Wissen über mittelalterliche Literatur geprägt (z. B. taucht ein deftiger Begriff aus dem Werk Neidharts leicht abgewandelt als Vokabel der Elfensprache auf, und es gibt eine Gestalt namens Ithaunje, deren Partner eine ähnlich ambivalente Rolle spielt wie der Geliebte der Itonje im Parzival). Hier wie auch beim Schöpfen aus einer zweiten (wenn auch von der ersten zumindest mittelbar beeinflussten) literarischen Tradition, nämlich der der abenteuerlichen Questenfantasy, ist überdeutlich, dass der Autor sich die im ersten Band auf die Elfen bezogene Maxime selbst zu eigen gemacht hat, Überkommenes zu hinterfragen, aber das Gute daran durchaus zu bewahren. Denn neben ruhigeren und philosophischen Passagen verfügt der Roman über alles, was an dieser Art von Fantasy Spaß macht: eine ausgedehnte Welt mit unterschiedlichsten Kulturen, eindrucksvolle Gebäude, actionreiche Kämpfe (darunter manche auch auf Luftschiffen), kühne Rettungsmissionen, rätselhafte Artefakte sowie magische Geheimnisse aller Art. Auch eine schön gestaltete Landkarte (in zwei Teilen) fehlt natürlich nicht.

So ist letztlich auch James A. Sullivans gelungene Rückkehr in die Fantasy ein Doppelweg eigener Art, der in vertrauten Gefilden noch einmal eine ganz neue Richtung einschlägt und aufzeigt, welche unerwarteten Möglichkeiten das Genre bieten kann, ohne dass man auf vertraute Vorzüge verzichten muss.

James A. Sullivan: Das Orakel in der Fremde. Die Chroniken von Beskadur 2. München, Piper 2022, 432 Seiten.
ISBN: 978-3-492-70672-8


Genre: Roman