Haiku experimentell

Ein Haiku ist ein Gedicht mit 17 Silben, die sich im Schema 5 – 7 – 5 auf drei Verse verteilen? Nicht immer und nicht ganz, denn auch, wenn das die Form ist, die sich im Westen als gängigste Haiku-Variante etabliert hat, wird sie dem japanischen Vorbild nicht unbedingt gerecht, wie Heike Baller im ausführlichen Vorwort zu ihrem neuen Gedichtband Haiku experimentell angeregt durch einen Artikel des Literaturwissenschaftlers Arata Takeda erläutert. Denn aufgrund der ganz unterschiedlichen Struktur der Sprachen rechnet man bei japanischen Gedichten nicht nur eher in Moren als in Silben, sondern muss auch den jeweiligen Informationsgehalt einer Silbe oder Mora in Betracht ziehen, der in indogermanischen Sprachen wesentlich höher sein kann. Westliche Übersetzungen japanischer Haiku erscheinen Takeda daher überladen, so dass er für eine sparsamere Form zu nur 10 Silben plädiert. Auch weitere Spielregeln des japanischen Vorbilds, so die klare Verortung in einer Jahreszeit durch einen entsprechend konnotierten Begriff oder das Einfügen einer überraschenden Wendung auf knappstem Raum, werden in westlichen Nachdichtungen oder Neukreationen nicht immer beherzigt.

Sind also alle vermeintlich typischen Haiku, mithin auch die aus Heike Ballers früheren Gedichtbänden,1 eigentlich falsch? Mitnichten, denn eine literarische Form lässt sich eben nicht exakt in einer ganz anders strukturierten Sprache nachbauen, sondern muss adaptiert werden, und das auch gern, wie der Titel verspricht, experimentell.

So finden sich in diesem neuen Band, der wieder kürzer als der sehr umfangreiche vierte ist, durchaus noch Haiku im gewohnten Schema:

Auch sonst ist vieles geblieben, was man an Heike Ballers Texten kennt und schätzt, seien es nun kleine Anspielungen (so hat Mein Freund, der Baum einen Auftritt) oder die Freude daran, einen aufs Glatteis zu führen (programmatisch über der ganzen Sammlung könnte auch der Vers Ich seh es gleiten … ! stehen) und mit ungeahnten Wendungen zum Lachen oder zum Nachdenken zu bringen.  Deutet ein Windiger Gefährder erst einmal auf terroristische Umtriebe hin, hat es mit ihm etwas ganz anderes auf sich, während umgekehrt manches, was erst einmal als lyrisches Schwelgen in der Natur anmutet, sehr unromantische Ursachen in menschlichem Wirken hat. So kann man sich im Voraus nie ganz sicher sein, ob es poetisch, melancholisch und zu Herzen gehend wird, wie im kleinen Gedicht vom Nachtigallruf, das eine ganze Welt aufschließt, oder ob man mit viel Humor (von trocken bis schwarz) gezwungen wird, den Blickwinkel schlagartig zu ändern.

Aber stärker als jemals vorher spielt die Dichterin mit der Form, bricht Erwartungen und verlangt einem ein wenig mehr ab, als sich in den vertrauen Rhythmus fallen zu lassen und den Inhalt bis zu einem gewissen Grade losgelöst von der sprachlichen Gestaltung zu betrachten. Hier kann auch schon einmal ein Punkt allein den dritten Gedichtvers bilden, während er anderswo als schließendes Satzzeichen gezielt weggelassen ist und den eingefangenen Eindruck ohne klares Ende offen schweben lässt. Apropos schweben: Neben den Natureindrücken aus Flora und Fauna spielen diesmal Wolken eine große Rolle, ob ihnen nun ein (somit im Ursprung nicht allzu phantastisch-märchenhaftes) Drachenbaby entschlüpft oder ein ganzes Wolkenmaskenspiel den Blick in der Dämmerung bannt.

Ohnehin sind es die ganz eigenen Wortkreationen, die den Hang des Deutschen zu zusammengesetzten Substantiven voll ausnutzen, die Heike Ballers Sprache ihren besonderen Charme verleihen. Von den Waldgesprächsfetzen über den Angstlustjuchzer bis zum Wolkenwandelbild lässt sich hier einiges entdecken. Aber ganz der Zielsetzung getreu, hier mit Haiku zu experimentieren, gibt es auch Abstecher in Fremdsprachen (neben Englisch diesmal auch Französisch).

Fotos, die Gedichte illustrieren und Stimmungen unterstreichen, fehlen in diesem Band; stattdessen sind als Gliederungselemente drei Liedanfänge mit Noten eingefügt (das Kirchenlied Nun ruhen alle Wälder, ein Alle Vögel sind schon da mit augenzwinkernd angepasstem Text und We shall overcome), die deutlich machen, dass die Themen Naturbeobachtung, Spiritualität und menschliches Zusammenleben, die teils offen, teils subtil immer in Heike Ballers Haiku mitschwingen, auch in diesem Fall mit von der Partie sind.

So bietet Haiku experimentell eine lohnende, unterhaltsame und durchaus auch fordernde Lektüre, die eines zeigt: Ganz gleich, welchen Gestaltungsprinzipien sie folgen mögen und in was für einer Sprache sie verfasst sind, Haiku sind auch und vor allem Gedichte, die zum Mitdenken einladen und gerade in ihrer Knappheit Raum für eigene Assoziationen und Überlegungen lassen.

Heike Baller: Haiku experimentell. Norderstedt, Books on Demand, 2024, 86 Seiten.
ISBN: 978-3-7693-0936-2

 

  1. Meine Besprechungen der 4 älteren Gedichtbände von Heike Baller sind hinter den folgenden Links zu finden:
    Mein Jahr in Haiku
    Stadt – Natur
    17-Silben-Krimis
    111 Feld-, Wald- und Stadt-Haiku

Genre: Anthologie