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Die Sachsen

Die Sachsen führt Babette Ludowicis kurzes Buch zwar im Titel, doch über die frühmittelalterliche Bevölkerung vor allem im norddeutschen Raum, die von Karl dem Großen unterworfen und dem fränkischen Herrschaftsbereich einverleibt wurde, dann aber mit dem Familienverband der Liudolfinger im 10. und beginnenden 11. Jahrhundert die ottonischen Kaiser stellte, erfährt man dabei noch am wenigsten. Der Titel eines Unterkapitels, Von Sachsen keine Spur, ist sehr ernst zu nehmen, denn vor allem geht es Ludowici darum, mit überkommenen Forschungsansichten aufzuräumen – so gründlich, dass am Ende wenig historische Realität dahinter greifbar bleibt.

Den zuerst in der Spätantike sicher belegten Namen Saxones, aus dem sich später das Wort Sachsen entwickelte, sieht Ludowici zunächst nicht auf eine spezifische gens bezogen, sondern eher als Sammelbegriff für recht heterogene Gruppen, der sich wohl aus deren Tätigkeit als Plünderer und Seeräuber ergab, im Ursprung also ähnlich wie später Wikinger. Erst in oder nach der Konfrontation der Bewohner Norddeutschlands mit Karl dem Großen habe sich dort insbesondere unter den Eliten überhaupt eine Eigenidentifizierung als Sachsen entwickelt, gefördert durch Werke wie die Sachsengeschichte Widukinds von Corvey, der dabei viele Fremdzuschreibungen übernommen habe. In diesem Zusammenhang weist Ludowici auch auf die Notwendigkeit hin, Quellenkritik zu üben und nach „dem historischen Standort und den Darstellungsabsichten“ (S. 66) der jeweils über die Sachsen Berichtenden zu fragen.

Wendet man dieses Prinzip auf Ludowicis eigenes Buch an, wird schnell deutlich, dass es vor allem von dem Willen getragen ist, sich entschieden gegen die oft völkisch und nationalistisch geprägten Forschungsansätze im 19. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 20. abzugrenzen und deutlich zu machen, dass eine Glorifizierung und Romantisierung frühmittelalterlicher gentes und ein Gründen eigener Identität auf fälschlich angenommenen Kontinuitäten unangebracht sind und meist böse enden.

Das ist ein legitimes und absolut verständliches Bedürfnis, das sich allerdings hier in manchen Fällen dann doch in einem Messen mit zweierlei Maß niederschlägt, wenn Ludowici es z. B. für angebracht hält, ein Grab als thüringisch oder bestimmte Trachtbestandteile und Waffen als typisch fränkisch anzusprechen, aber bei den Sachsen bzw. Saxones vor einer leichtfertigen Gleichsetzung von archäologischen (Be-)Funden mit aus den Schriftquellen bekannten Gruppen ausdrücklich warnt, und das mit einer Unbedingtheit, die fast den Eindruck hinterlässt, dass Sachsen bzw. Saxones für sie eine Phantombezeichnung ohne große Anknüpfungspunkte in der Wirklichkeit ist. Hier fragt man sich dann doch, ob die Autorin nicht in dem Wunsch, Fehlvorstellungen von einem uralten sächsischen „Stamm“ zu widerlegen, etwas über das Ziel hinausschießt und den Titelgebern ihres Werks einen geringeren Realitätsgehalt zugesteht als deren Zeitgenossen.

Dennoch ist das Buch immer dann noch am besten, wenn Ludowici sich mit konkreten archäologischen Erkenntnissen befasst und z. B. Indizien dafür zusammenträgt, dass es in den wohl als sächsisch besiedelt anzusprechenden Regionen auch schon vor den Eroberungszügen Karls des Großen Christen und Parteigänger der fränkischen Könige gab, so dass das einheitliche Bild paganer Sachsen in geschlossener Opposition gegen die Franken auf den Prüfstand gestellt werden muss.

Bei den sehr gerafften ereignisgeschichtlichen Darstellungen dagegen ist manches in fast schon missverständlicher Weise verkürzt, gerade im abschließenden 6. Kapitel, das die allmähliche Verlagerung von „Sachsen“ als geographische Bezeichnung in das heute unter dem Namen bekannte Gebiet um Dresden behandelt, und die historische Argumentation ist bisweilen abenteuerlich. So spricht für Ludowici gegen die von ihr entschieden verneinte These von einer territorialen Expansion der Sachsen auf dem Kontinent, dass diese, soweit wir wissen, keine Könige hatten und deshalb doch gewiss nicht „ohne die Initiative einer zentralen Führungsfigur zielgerichtet Eroberungen vorangetrieben und Herrschaft an sich gerissen“ (S. 65) haben könnten. Gerade die von ihr im anderen Kontext bemühten Wikinger zeigen aber – wenn auch einige Jahrhunderte später – recht gut, dass solche Bestrebungen keiner zentralen Herrschergestalt über eine gesamte kulturelle Gruppe bedürfen.

Gewöhnungsbedürftig ist phasenweise der Sprachstil, nicht nur aufgrund Ludowicis schon in ihrem Beitrag zum Sammelband Germanen feststellbarer Tendenz, gern im Perfekt statt im Präteritum zu formulieren, und einiger seltsamer Formen bei lateinischen Begriffen (ob z. B. tatsächlich ein mir grammatikalisch nicht ganz erklärlicher princeps milites – so mehrfach auf S. 54 – statt des üblichen princeps militiae oder princeps militum als Ausdruck für „Heerführer, Oberbefehlshaber“ möglich ist, entzieht sich meiner Kenntnis, ich halte es aber für unwahrscheinlich). Auffällig sind vielmehr manche bewusst moderne Ausdrücke (so liest man etwa vom „Military-Look“, S. 80, germanischer Kämpfer in römischen Diensten).

Mag man zu einem solchen Bemühen um umgangssprachliche Publikumsnähe stehen, wie man will, niedrigschwellig zugänglich ist die über einen separaten Karten- und Abbildungsteil verfügende Darstellung immerhin. Ob es allerdings sinnvoll ist, ganz ohne Vorwissen an das als Einführung gedachte Buch heranzugehen und somit auch Ludowicis Deutungen nicht mit eigenen Kenntnissen und Einschätzungen abgleichen zu können, sei einmal dahingestellt.

Babette Ludowici: Die Sachsen. München, C. H. Beck, 2022, 128 Seiten.
ISBN: 978-3-406-79076-8

 


Genre: Geschichte

Schöner schimpfen auf Latein

Wer die Antike für besonders erhaben und ihre überlieferte Literatur für durchgängig anspruchsvoll hält, hat sich noch nicht mit ihrem eindrucksvollen Bestand an Schimpfwörtern und Obszönitäten befasst. Abhilfe schaffen kann da Karl-Wilhelm Weebers Schöner schimpfen auf Latein, ein handliches Büchlein, das allerdings den Rahmen über die eigentlichen Kraftausdrücke, die der Titel erwarten lässt, hinaus erweitert und auch allerlei verwandte Bereiche des Böswilligen und Unanständigen abdeckt.

Die genutzten Quellen sind dabei vielfältig: Von den Komödien des Plautus (in dessen Werk mit deglupta maena – „gehäutete Sardine“ – auch mein Favorit unter den aufgelisteten Beschimpfungen überliefert ist) über Reden Ciceros, der geradezu lustvoll Gegner zerlegt, Schleuderbleie mit Verunglimpfungen von Bürgerkriegsgegnern und Fluchtäfelchen (von denen ein auf Maultiere spezialisierter Tierarzt aus unbekannten Gründen gleich vier auf sich zog) bis hin zu Graffiti aus Pompeji sind alle möglichen Varianten schriftlich festgehaltener Äußerungen unfreundlicher Art dabei. Andere zitierte Textpassagen zielen dagegen nicht darauf ab, eine (lebende) Person direkt zu attackieren, sondern suhlen sich einfach nur in Unflat und Pornographie, ob nun Gedichte über die dauererregte Gottheit Priapus, deren Abbild mit mächtigem Glied apotropäische Wirkung zugesprochen wurde, oder ein sonderbarer Wandbildzyklus aus Ostia, der den Sieben Weisen Lehren zuschreibt, die sich auf körperliche Ausscheidungen konzentrieren. Daneben lernt man einiges Vokabular zu den entsprechenden Bereichen kennen. Harmloser, aber durchaus amüsant ist die Beobachtung, dass erstaunlich viele römische Cognomina unschmeichelhafte Eigenschaften beschreiben oder zumindest erahnen lassen.

Wie aus Karl-Wilhelm Weebers immer lesenswerten Büchern gewohnt, gelingt es dem Autor auch hier wieder gut, Kontinuitäten und Zeitloses herauszuarbeiten und mit dem zu kontrastieren, was spezifisch römisch war und hier und heute in den meisten Kontexten zum Glück in dieser Form oder doch in einem solchen Ausmaß eher unüblich ist: Die Art etwa, wie in Senatsreden in drastischer Wortwahl die angebliche sexuelle Devianz politischer Gegenspieler angeprangert wurde, würde im modernen Parlamentsbetrieb wohl für einen handfesten Skandal sorgen.

Aber nicht nur bezüglich des in bestimmten Situationen als hinnehmbar Betrachteten war manches am römischen Schmähen und Schimpfen schlicht anders gewichtet als im heutigen Deutsch: Fäkalsprache gab es zwar durchaus, aber sie kam in weitaus geringerem Maß zu Beleidigungszwecken zum Einsatz, als wir es kennen. Dagegen scheint sich an der Tendenz, unliebsame Menschen als dumm oder verrückt zu bezeichnen, in den letzten Jahrtausenden wenig geändert zu haben.

Weeber schreibt wie immer allgemeinverständlich und in Teilen umgangssprachlich, mit viel Humor und spürbarer Begeisterung für seinen Gegenstand. Charmant ist, dass sogar Grammatiktipps für die korrekte Anwendung lateinischer Schimpfwörter gegeben werden: Will man jemandem eine ganz besonders üble Beleidigung an den Kopf werfen, dann doch bitte im angemessenen Vokativ! Dank netter Details dieser Art ist der Abstieg in die Niederungen des Lateinischen und die zugehörigen menschlichen Abgründe trotz der teilweise eher unappetitlichen Themen ein großes Lesevergnügen.

Karl-Wilhelm Weeber: Schöner schimpfen auf Latein. Stuttgart, Reclam, 2022, 128 Seiten.
ISBN: 978-3-15-014308-7

 

 


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Der Taucher von Paestum

Der sogenannte Taucher von Paestum – das aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. stammende Bild eines jungen Mannes, der einen Kopfsprung ins Meer macht – gehört zu den lebendigsten und ansprechendsten Kunstwerken der griechischen Antike. Da es als Verzierung der Deckplatte im nach ihm benannten Grab des Tauchers in Paestum gefunden wurde, hat die Forschung oft versucht, in dem Gemälde symbolische Bezüge zu Tod und Sterben zu entdecken (etwa in der Form, dass der Sprung ins Wasser den Übergang ins Jenseits darstellen würde). Gegen solche Interpretationen wendet sich Tonio Hölscher in seinem elegant geschriebenen und sehr lesenswerten Buch Der Taucher von Paestum. Jugend, Eros und das Meer im antiken Griechenland.

Für Hölscher ist in dem Bild eine Szene aus dem Leben dargestellt, deren Übergangscharakter nicht etwa in einem Verlassen dieser Welt liegt, sondern im Alter des Kopfspringers, in dem er einen Epheben sieht, also einen Jüngling an der Schwelle zwischen Jugendzeit und Erwachsenenalter, wie er auch in dem erotisch aufgeladenen Gastmahl, mit dem die Wände der Grabkammer bemalt sind, mehrfach im Beisammensein mit reiferen Männern erscheint.

Im Zentrum der weiteren Betrachtung steht daher die Meeresküste als besonders mit diesem Lebensabschnitt verknüpfter Ort. Beim Bad im Meer (oder beim Sprung hinein) hatte man nicht nur die Möglichkeit, seinen Körper und seine athletischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Vielmehr bot der Aufenthalt am Meer oder an anderen Gewässern außerhalb der Stadt mit ihren festgefügten Regeln männlichen Jugendlichen und, wenn auch in weitaus geringerem Maße, jungen Mädchen die Gelegenheit zum Erleben einer Phase relativer Freiheit vor dem Eintritt in die Verpflichtungen der Erwachsenen.

Hinweise auf diese Verknüpfung zwischen Jugend und Meer finden sich nicht nur an ganz realen Orten (etwa in Form von Felsinschriften auf der Insel Thasos, die ältere Liebhaber oder Bewunderer für Jugendliche an der Küste hinterließen), sondern auch in der Vasen- und Grabmalerei sowie in Literatur und Mythos.  Zugleich ist in Bildern und Geschichten der Aufenthalt im oder am Meer oft mit Erotik oder ganz allgemein mit Sinnenfreuden verknüpft. So finden sich beispielsweise auch Vasenmalereien, die im Wasser mit aufgeblasenen Weinschläuchen spielende Satyrn oder einen wie ein Mensch auf einer Doppelflöte musizierenden Delphin zeigen.

Da anzunehmen ist, dass diese Assoziationen im 5. Jahrhundert auch in der damals griechischen Stadt Poseidonia (dem späteren Paestum) bekannt waren, schlägt Tonio Hölscher die Deutung vor, dass das Bild des Tauchers nicht als Todessymbol zu verstehen ist, sondern wie die Gemälde des Gastmahls dazu diente, dem Verstorbenen eine seiner gehobenen sozialen Stellung und seinem jugendlichen Alter angemessene Umgebung gewissermaßen mitzugeben – ebenso, wie ihm bestimmte charakteristische Gegenstände (Salböl und Leier) als Grabbeigaben ins Jenseits folgten.

Die darauf hinführende Argumentation wird essayistisch und beschwingt, von wissenschaftlicher Trockenheit weit entfernt, entwickelt. Wer allerdings an den Details von Hölschers Auseinandersetzung mit der bisherigen Forschung zum Thema interessiert ist, findet in der ausführlich kommentierten Bibliographie im Anhang alles Notwendige. Aber auch dann, wenn man sich dem Bild des jungen Kopfspringers nur von der Unmittelbarkeit der Darstellung angezogen nähert, ist Der Taucher von Paestum eine lohnende Lektüre, die einem keine konstruierte Interpretation aufdrängt, sondern das Kunstwerk in den Rahmen der Lebenswelt, in der es entstand, einzubetten versucht. Allen an der Antike Interessierten ist das Buch deshalb nur zu empfehlen.

Tonio Hölscher: Der Taucher von Paestum. Jugend, Eros und das Meer im antiken Griechenland. Stuttgart, Klett-Cotta, 2021,160 Seiten.
ISBN: 978-3-608-96480-6


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Germanen

Kaum eine Bezeichnung für eine vor- oder frühgeschichtliche Kultur ist so umstritten und politisiert wie „Germanen“. Dass es sich dabei um einen Oberbegriff für recht heterogene Gruppen handelt, die sich nach heutigem Wissensstand nicht als Einheit empfunden haben dürften, ist dabei noch das geringste Problem. Weit schwerer wiegt der Missbrauch, der im 19. und 20. Jahrhundert und insbesondere in der Nazizeit mit einer Gleichsetzung von Deutschen und Germanen getrieben wurde. Oft überlagert und erschwert das Abarbeiten an dem damals entstandenen Zerrbild, das in manchen populären Vorstellungen noch fortwirkt, die Beschäftigung mit den eigentlichen archäologischen und historischen Quellen. In diesem Spannungsfeld bewegt sich auch die als Ausstellungsbegleitband entstandene Aufsatzsammlung Germanen. Eine archäologische Bestandsaufnahme, die, anders als der Untertitel suggerieren könnte, eben nicht nur den archäologischen Aspekt in den Vordergrund rückt, sondern auch eine Auseinandersetzung mit dem Germanennamen und der Forschungsgeschichte ist.

Wie bei jedem Sammelband mit einer Fülle unterschiedlicher Beteiligter stehen dabei manchmal unvereinbar gegensätzliche Positionen nebeneinander (etwa bereits im ersten Oberkapitel bei der Frage, wie naturbelassen und waldreich die römerzeitliche Germania denn nun eigentlich war). Bis auf einen einzigen Aufsatz, der in seiner inneren Widersprüchlichkeit eher verwirrend als erhellend wirkt, sind aber alle Beiträge lohnender Lesestoff und tragen ihren Teil zu einem notwendigerweise bruchstückhaften, aber darum nicht minder beeindruckenden Wissensmosaik über die Germanen bei.

Nach einem Vorwort von Matthias Wemhoff und Michael Schmauder umreißt Letzterer unter dem Titel des Gesamtbandes die Zielsetzung des Ausstellung in Berlin und Bonn und des zugehörigen Buchs: Neben der historischen Germania und ihren Bewohnern stehen auch der Germanenname an sich und seine wechselvolle Rezeption von seiner Etablierung oder mindestens Popularisierung durch Caesar bis in die heutige Zeit im Zentrum.

Schon im ersten Oberkapitel, Von Wohnstallhäusern und dunklen Wäldern, treffen (Fehl-)Vorstellungen über Germanen und archäologische Befunde aufeinander. Gleich eingangs räumt Heiko Steuer aus Archäologensicht Zehn Vorurteile antiker und moderner Historiker aus, darunter eben auch das einer dicht von urwüchsigen Wäldern bedeckten Germania, aber auch zahlreiche von römischen Autoren verwendete Barbarentopoi.
Hans-Jörg Karlsen schildert in Zwischen Tradition und Innovation, was sich über Siedlungsmuster und die regional durchaus unterschiedliche Architektur ermitteln lässt. Thematisch ähnlich, aber mit einem stärkeren Fokus auf den möglichen Zusammenhang zwischen Bauformen und Sozialstrukturen, ist Jan Schusters Beitrag Vom Pfosten zum aus zum Gehöft gelagert. Eine einzelne germanische Siedlung nimmt schließlich Sven Gustavs in den Blick, wenn er über den Fundort Klein Köris in der Nähe von Berlin schreibt.
Susanne Jahns ist nicht nur mit dem Titel ihres Beitrags, Silvis horrida aut paludibus foeda, ganz bei Tacitus: Im Gegensatz zu Steuer sieht sie ein Germanien vor sich, das „zum großen Teil mit dichtem Wald bestanden“ (S. 111) war, und erläutert dies am Beispiel von Pollendiagrammen aus Brandenburg.

Das zweite Großkapitel Zwischen Selbstversorgung und Spezialistentum erhellt punktuell das Alltagsleben in der Germania magna. Angela Kreuz untersucht anhand römischer Schriftquellen und archäobotanischer Studien Frühgermanische Landwirtschaft und Ernährung und bietet sogar zwei rekonstruierte Rezepte (für einen Gersteneintopf und einen Hirsebrei), die nachkochbar machen, was sich aus Funden über die germanische Ernährung vermuten lässt.
Michael Meyer zeigt unter der Überschrift Eisen – Keramik – Kalk, wie Rohstoffe – gerade im Fall des Eisens teilweise recht zentralisiert und systematisch – abgebaut und weiterverarbeitet wurden. Wichtige Handwerker waren die Schmiede, die Hans-Ulrich Voß unter der Überschrift „Polytechniker“ – Spezialisten – Künstler beschreibt und die nicht nur archäologisch, sondern auch in Schriftquellen und in der Sagenwelt ihre Spuren hinterließen. Aber nicht alles in der Germania wurde direkt dort hergestellt: Importe aus dem römischen Reich spielten eine bedeutende Rolle, wie Patrick Könemann anhand der Siedlung Kamen-Westick zeigt, die sich durch eine solche Fülle von Funden römischen Ursprungs auszeichnet, dass man in ihr einen besonderen Ort – vielleicht einen Handelsplatz – vermuten kann.
Anders als Metall- und Keramikgegenstände erhalten sich Textilien nur selten, so dass Die Textilien der frühgeschichtlichen Wurt Feddersen Wierde eine Ausnahme darstellen, über die Christina Peek mit genauen Beobachtungen zu Machart und Qualität der gefundenen Reste von Stoffen, Schnüren und Fäden einen gelungenen Überblick gibt. Mit Funden aus Feddersen Wierde beschäftigt sich auch Katrin Struckmeyer, etwa mit Kämmen, für die Knochen, Geweih und Horn als Rohmaterial dienten.

Im dritten Kapitel ist man Den germanischen Gesellschaften auf der Spur. Hochinteressant ist gleich der erste Beitrag, in dem Matthias Egeler Kontinuitäten, Brüche und überregionale Verflechtungen der Religionsgeschichte in der Germania aufzeigt, Überschneidungen mit Keltischem und Römischem nachzeichnet und belegt, dass bei aller Skepsis, die man leichtfertigen Gleichsetzungen gegenüber wahren sollte, beispielsweise bei den Namen bestimmter mythologischer Figuren teilweise eine erstaunliche lange Tradierung nachweisbar ist.
Der ebenfalls sehr lesenswerte Beitrag von Babette Ludowici steht unter der Frage Germanisches Understatement? Hier geht es um Bestattungsbräuche, die – gerade im Fall der häufigen Leichenverbrennungen – den dabei getriebenen Aufwand für spätere Zeiten unsichtbar machten, da die Funde auf den ersten Blick wenig spektakulär wirkten, was aber nicht heißen muss, dass nicht gewaltige Werte an Beigaben in Flammen aufgingen, wie einzelne Überreste ahnen lassen.
Der Aufsatz Aktuelle Forschungen zur Sozialstruktur der Germanen im östlichen Mitteleuropa von Kalina Skóra und Adam Cieśliski behandelt mit anthropologischen Untersuchungen zu Gräbern der Wielbark-Kultur zwar kein uninteressantes Thema, ist aber der einzige Beitrag des Bandes, der einen ratlos zurücklässt, weil er sich ständig selbst widerspricht.1 Ob sich hier die beiden Autoren uneinig waren oder einfach nur ungeschickt versucht wurde, unterschiedliche Forschungshypothesen unter einen Hut zu bringen, lässt sich nicht entscheiden.
Weitaus besser nachvollziehbar ist der Inhalt glücklicherweise im folgenden Beitrag von Andrzej Kokowski, der Die archäologischen Kulturen des Gotenkreises, darunter eben auch die Wielbark-Kultur, im Abgleich mit antiken Quellen unter dem Aspekt der allmählichen Migration der Goten nach Süden betrachtet.

In historischen Quellen tauchen unterschiedliche germanische Gruppierungen vor allem im Hinblick auf ihre Auseinandersetzungen mit dem römischen Reich auf, so dass es folgerichtig erscheint, dass mit Krieg – ein weites Feld ein eigenes Oberkapitel bewaffneten Konflikten nicht nur mit der römischen Welt gewidmet ist. Aber natürlich ist der Kampf gegen Rom ein so zentrales Thema, dass Michael Meyer ihn gleich im Eingangsbeitrag anhand der Schlachtfelder von Kalkriese und vom Harzhorn untersucht und die Ausschnitthaftigkeit des aus den dortigen archäologischen Funden Rekonstruierbaren deutlich macht.
Die Vorgänge am Harzhorn beschäftigen auch Lothar Schulte in Rom vs. Unbekannt?, wenn er auslotet, aus welchem Gebiet die Germanen gekommen sein könnten, die sich hier 235 n. Chr. mit den Römern unter ihrem Kaiser Maximinus Thrax Gefechte lieferten.
Innergermanische Kämpfe stecken dagegen wohl hinter den Opfern von Waffen und Ausrüstungsteilen im Thorsberger Moor, die Ruth Blankenfeldt in Kampf und Kult bei den Germanen nicht nur unter forschungshistorischen Gesichtspunkten betrachtet, sondern auch differenziert und klar strukturiert analysiert. Hier erfährt man nicht nur über die Bewaffnung von Heeren und deren Zusammensetzung sehr viel, sondern auch über die mögliche religiöse und soziale Funktion großer Opferrituale.

Unter dem Titel Rom: Ein nützlicher Gegner sind weitere Beiträge zu den römisch-germanischen Beziehungen zusammengefasst. Ein schöner Aufsatz mit einem Blick für Details eröffnet den Reigen: Petra Rosenplänter stellt in „A missing link“, wie schon der Untertitel verrät, Ein Terra-Sigillata-Derivat aus dem Hinterland der Ems vor. Dort gefundene Scherben zeigen, dass jemand in der Germania magna versucht haben muss, ein römisches Gefäß mitsamt seiner Ornamentik nachzubilden, sich dabei aber einer ganz eigenen Technik bediente.
Ein ungleich berühmterer Fund steht im Mittelpunkt des nächsten Beitrags: Benjamin Wehry zeigt in Germanischer Prunk und römische Technik, wie der im sogenannten Fürstengrab von Gommern gefundene Schildbuckel aus einem römischen Silbergefäß umgearbeitet und seiner neuen Funktion angepasst wurde und wie man sich den gesamten Schild vorzustellen hat.
Dass unter Augustus Römischer Blei- und Silberbergbau rechts des Rheins im Bergischen Land betrieben, aber nach relativ kurzer Zeit wieder aufgegeben wurde, erläutern Jan Bemmann und Tosten Rünger.
In eine wesentlich spätere Epoche führt der Beitrag von Izabela Szter und Anna Zapolska: Der Hortfund von Frauenburg, Kr. Braunsberg – also aus dem heutigen Frombork (Polen) – stammt aus der frühen Völkerwanderungszeit und enthält neben allerlei Fibeln und Schnallen auch römische Münzen. Galt der Hortfund zunächst als im Zweiten Weltkrieg verloren, stellte sich später heraus, dass er in Wirklichkeit ins Depot des Berliner Museums für Vor- und Frühgeschichte gelangt war, so dass sich nun die Möglichkeit zu einer Neuanalyse bot.
Die Frage Grabmal oder öffentliches Monument? stellt sich bei einem Relief mit einer Gefangenendarstellung aus Mainz. Marion Witteyer kann den ursprünglichen Zweck zwar nicht endgültig bestimmen, geht aber von der Zugehörigkeit zu einem größeren Monument aus. Auf jeden Fall hat man es aber mit einem Bespiel für die römische Sicht auf die Germanen zu tun, was eine passende Überleitung zum nächsten Abschnitt bildet, der ganz dem Germanennamen gewidmet ist.

Das Kapitel Germanen: Sichtweisen auf einen umstrittenen Begriff  weist bei einer kontinuierlichen Lektüre des Bandes gewisse Längen auf, nicht etwa, weil einer der Beiträge darin an und für sich uninteressant wäre, sondern weil aufgrund des doch relativ begrenzten Quellenkorpus zum antiken Germanenbegriff zwangsläufig vieles mehrfach referiert wird, was sich in einer Monographie zusammenfassend hätte abhandeln lassen.
Originell ist der von Ernst Baltrusch gewählte Ansatz, die Römische Ethnographie nicht nur nach ihrem Germanenbild zu befragen, sondern auch ihre Sicht auf die Juden zu untersuchen und so herauszuarbeiten, inwieweit die antike Bewertung beider Kulturen Ansatzpunkte für die verheerende spätere Rezeption bot. Hervorhebenswert ist auch, dass Baltrusch nicht nur die Bezeichnung „Germanen“ problematisiert, sondern auch kritisch den heute in der Wissenschaft gängigen Sprachgebrauch hinterfragt, der mit der Bezeichnung barbaricum als Ersatz für „Germanien“ letzten Endes ein Schimpfwort aus der Antike übernimmt.
Sebastian Brather fragt nach der Tauglichkeit des Begriffs Germanen als Kategorie der Forschung? und kommt zu dem Schluss, dass man ihn nicht vorschnell verwerfen sollte, solange man sich seiner historischen Genese bewusst bleibt.
Noch knapper fragt Stefan Burmeister nach Germanen? und arbeitet die Problematik der pauschalisierenden Sammelbezeichnung nicht nur für eine Vielzahl unterschiedlicher Gruppen, sondern auch für von verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen untersuchte Phänomene (ob nun Sprache oder materielle Hinterlassenschaften) heraus.
Hans-Ulrich Voß spürt in „Germanen“ und „Römer“ der Art nach, wie man frühe archäologische Funde mit dem aus den Schriftquellen über Römer und Germanen bekannten in Einklang zu bringen versuchte und welche Rolle römisches Importgut in der Germania magna dabei spielte.
Germanenname und Germanenbegriff in der Antike dagegen werden von Reinhard Wolters beleuchtet, der die Entwicklung vom Aufkommen der Germanenbezeichnung unter Caesar bis zu ihrem (vorläufigen) Verschwinden in der Spätantike nachzeichnet.
Zurück in die Neuzeit geht es mit Wojciech Nowakowski, der Die Germanen in der polnischen Archäologie unter dem Aspekt der Forschungsgeschichte vorstellt und dabei deutlich macht, dass nicht die deutsche Wissenschaft allein im 20. Jahrhundert auf politisch motivierte Irrwege geriet: Da man auch in Polen eine Kontinuität von den Germanen zu den verständlicherweise verhassten Deutschen annahm, wollte man so wenig „Germanisches“ wie möglich auf polnischem Staatsgebiet haben, bemühte sich um den Nachweis einer slawischen Ureinwohnerschaft und spielte die Präsenz germanischer Gruppen eher herunter.

Dem neuzeitlichen Germanenbild auch über die Fachwissenschaft hinaus widmet sich das abschließende Kapitel Rezeption: Zwischen Wagner-Oper und musealer Präsentation. Einen Überblick dazu liefern Susanne Grunwald und Kerstin P. Hofmann in Wer hat Angst vor den Germanen? Von Opernkostümen mit Hörnerhelmen über die völkisch-nationalistischen Abwegen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis hin zu heutigen fragwürdigen Ansätzen wie dem Aufspüren „germanischen“ Erbguts bei kommerziellen DNA-Analysen findet hier so manches Erwähnung, das eher von einer unreflektierten Inanspruchnahme der historischen Germanen als von einer echten Auseinandersetzung mit dem, was wir über sie wissen und vermuten können, zeugt.
Germanenbilder werden natürlich nicht zuletzt auch von der musealen Präsentation von Fundstücken geprägt. Marion Bertram geht in ihrem Beitrag „In dem schwankenden Meere prähistorischer Hypothesen“ der Frage nach, wie Germanisches von den Anfängen bis 1945 im Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte ausgestellt und inszeniert wurde.
Wer hier nur mit typischer Germanentümelei rechnet, dürfte etwas von dem überrascht sein, was Matthias Wemhoff unter der Überschrift Germanenkult oder Mythengeschichte? über den heute nur noch partiell erhaltenen Gemäldefries von 1855 im sogenannten „Vaterländischen Saal“ des Neuen Museums herausarbeitet. Nationalistisches – bezogen auf ein vereintes Deutschland, das damals noch Zukunftsmusik war – klingt in den Darstellungen aus der nordischen Mythologie eher unterschwellig an; stattdessen wird, vermengt mit antiken und christlichen Vorstellungen, eine diffuse Friedens- und Erlösungsbotschaft vermittelt.

Ein kleiner Katalogteil, der zu den Aufnahmen ausgewählter Stücke leider nur knappe Angaben anstelle eigentlicher Begleittexte bietet, rundet den Band ab und macht wie die im ganzen Buch qualitätvolle Bebilderung aus Fotos, Rekonstruktionszeichnungen von Benoit Clarys, Übersichtsgrafiken und Kartenmaterial diesen Streifzug durch die germanische Welt anschaulich und greifbar. Insgesamt hat man den Eindruck, dass die im Untertitel versprochene archäologische Bestandsaufnahme durchaus geglückt und darüber hinaus noch einiges geboten ist. Als Einführung für Interessierte in das Thema Germanen eignet sich das Werk allerdings nur bedingt. Besser ist es, schon ein bisschen Vorwissen gerade auch aus dem ereignishistorischen Bereich mitzubringen, um die oft nur Schlaglichter setzenden Beiträge in einen größeren Kontext einordnen zu können.

Thorsten Valk, Matthias Wemhoff (Hrsg.): Germanen. Eine archäologische Bestandsaufnahme. Darmstadt, Theiss (WBG), 2020, 640 Seiten.
ISBN: 978-3-8062-4261-4

  1. So folgen auf die kategorische Aussage „Die germanische Familie lebte monogam“ (S. 236) noch auf derselben Seite Spekulationen über Polygamie als mögliche Ursache eines ungleichen Geschlechterverhältnisses auf bestimmten Gräberfeldern. Auch ob es nun Wahrsagerinnen gab (so S. 242) oder „Prophezeiungen eine rein männliche Angelegenheit“ (S. 243) waren, wird nicht klar. Etwas misstrauisch stimmt auch die Aussage, man habe zwar Tote im Alter von 50 Jahren oder mehr, aber nur selten „Reste von Verstorbenen mit einem Alter von über 60 Jahren“ (S. 235) gefunden, wenn man wenig später informiert wird, dass „eine genaue Diagnose des Sterbealters ab 50 bis 60 Jahren nicht mehr möglich“ ist (S. 247). Auch die Aussagekraft des Hinweises, dass, anders als in der Przeworsk-Kultur, in keinem Frauengrab der Wielbark-Kultur Waffen gefunden wurden, für die jeweiligen Handlungsspielräume einzelner Frauen in beiden Kulturen dürfte eher gering sein, wenn man bedenkt, dass man schon zuvor erfahren hat, dass auch Männergräber der Wielbark-Kultur keine Waffenbeigaben enthalten (vgl. S. 227).

Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Das Römerreich und seine Germanen

Gerade in populärwissenschaftlichen Darstellungen werden Römer und Germanen gern als unversöhnliche Gegner gezeichnet und eine letztendliche Eroberung oder Zerstörung des römischen Reichs durch germanische Gruppen postuliert. Dass die Realität weitaus komplizierter war und beide Kulturen letztlich nur in ihrer gegenseitigen Verflechtung und Beeinflussung zu verstehen sind, zeigt der bekannte Historiker Herwig Wolfram in Das Römerreich und seine Germanen. Laut Untertitel soll das Werk Eine Erzählung von Herkunft und Ankunft bieten, und das gelingt auch durchaus, aber viel stärker noch ist es womöglich eine Erzählung von den Erzählungen, mit denen nicht nur die Zeitgenossen, sondern auch die Menschen späterer Epochen sich auf vermeintliche Kontinuitäten beriefen und sich selbst in Abgrenzung von anderen darzustellen versuchten.

Die ersten Jahrhunderte der römisch-germanischen Beziehungen bis etwa zu den Markomannenkriegen sind dabei fast nur etwas wie ein Vorspiel zu dem Versuch germanischer Gentes in der Spätantike, sich auf dem Boden und im Rahmen des Imperium Romanum zu etablieren. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt daher auf der Völkerwanderungszeit und der tiefgreifenden Transformation, die sie sowohl für die römische als auch für die barbarische Welt bedeutete. Dass die Goten dabei besondere Aufmerksamkeit erfahren, kann angesichts von Herwig Wolframs Forschungsinteressen nicht überraschen. Dementsprechend greift er hier und da auch auf den Textbestand älterer eigener Werke zurück, legt dies allerdings immer redlich offen.

Ein bloßes Wiederholen altbekannter Fakten und Theorien ist Das Römerreich und seine Germanen aber ganz und gar nicht, sondern neben einem Panorama einer bewegten Epoche auch eine ebenso differenzierte wie glänzend geschriebene aktuelle Auseinandersetzung mit altbekannten Annahmen. Wolfram verschont dabei auch eigene frühere Thesen nicht (etwa die Vermutung, es habe bei den Germanen ursprünglich ein weitverbreitetes Sakralkönigtum gegeben), räumt aber vor allem mit den scheinbaren Gewissheiten auf, die seit dem Humanismus, aber insbesondere auch im 19. und 20. Jahrhundert ein fruchtbarer Nährboden für eine Berufung auf Germanisches unter sehr unguten Vorzeichen waren. Teilweise geschieht das mit herrlich subtilem Humor (wenn etwa zur durch das Gedicht August von Platens heute noch relativ bekannten Geschichte über die Bestattung des Gotenkönigs Alarich im Busento angemerkt wird, dass die Mühe vergebens gewesen sein dürfte, weil der Fluss regelmäßig so weit austrocknet, dass man eigentlich keine Grabstätte dauerhaft darin verstecken kann).

Doch auch abseits seines Umgangs mit Halbwahrheiten und Anekdoten bietet Wolfram oft eine sehr klare und frische Perspektive. So liegt zum Beispiel die Antwort auf die Frage, warum dem Frankenreich anders als dem Ostgotenreich Theoderichs des Großen ein dauerhafterer Bestand beschieden war, für Wolfram nicht nur in der oft angeführten Entscheidung des Frankenkönigs Chlodwig für den unter der romanischen Bevölkerung verbreiteten Katholizismus (anstelle der von den Goten favorisierten arianischen Kirche), sondern stärker noch in der Geographie. Der Raum, in dem Chlodwig sich seine Machtbasis schuf, war von Konstantinopel schlicht weit genug entfernt, um ihn vor einem ständigen Eingreifen der oströmischen Kaiser zu bewahren.

Ein Buch, das man völlig voraussetzungslos zur Hand nehmen sollte, um einführende Informationen über Rom und die Germanen zu erhalten, ist Das Römerreich und seine Germanen allerdings nicht. Bei aller Detailfreude und Quellennähe wird doch ein gewisses Maß an Grundwissen über die (Spät-)Antike und über den Blick der Moderne darauf vorausgesetzt. Bringt man diese Basis mit, ist die Lektüre ein großer Gewinn und nur zu empfehlen.

Herwig Wolfram: Das Römerreich und seine Germanen. Eine Erzählung von Herkunft und Ankunft. Köln / Weimar / Wien, Böhlau, 2018, 480 Seiten.
ISBN: 978-3-412-50767-1


Genre: Geschichte

Barbarenmacht

Ob nun Schmuck, Votivgaben, Trinkgefäße oder Spielsteine – das Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle hat viele eindrucksvolle Fundstücke aus Spätantike und Völkerwanderungszeit zu bieten. Ein ansprechender Führer durch den Teil der Dauerausstellung, der sich mit diesen Epochen befasst, liegt mit Barbarenmacht vor.

Die Autoren Arnold Muhl und Ralf Schwarz beschränken sich nicht darauf, die Schätze des Museums vorzustellen, sondern skizzieren auch die kulturhistorische Entwicklung vom 3. Jahrhundert an bis etwa zum Tod Attilas 453. Das heutige Sachsen-Anhalt war zwar kein Teil des römischen Reichs, aber es wird deutlich, dass die Geschichte der dort siedelnden germanischen Gruppen stark von ihren Beziehungen zu Rom geprägt war, ganz gleich, ob sie den Römern nun feindlich gegenüberstanden, als Soldaten in ihre Dienste traten oder im Laufe eines Lebens je nach Situation beide Rollen übernahmen.

Einen einfachen Kontrast zwischen beiden Welten zu konstruieren, wie es in populären Darstellungen manchmal immer noch gern geschieht, greift jedenfalls zu kurz, und das nicht nur, weil als Geschenke, Beutestücke oder Habseligkeiten von Einzelpersonen allerlei römische Gegenstände in die Germania magna gelangten und dort teilweise zweckentfremdet wurden (wie etwa ein Silbergefäß, das eine neue Verwendung als Schildbuckel fand). Vielmehr sind auch geistige Einflüsse feststellbar, ob nun auf direktem Wege wie bei der Übernahme römischer Trinksitten (und des entsprechenden Geschirrs) und Repräsentationsformen oder in eher indirekter Weise, vor allem in der Hinsicht, dass die Tatsache, dass das römische Reich über Jahrhunderte hinweg so oder so ein Betätigungsfeld für germanische Kämpfer bot, eine ursprünglich wohl primär bäuerlich geprägte Kultur immer stärker in die Betonung eines kriegerischen Ethos trieb, was auch Auswirkungen auf Gesellschaftsstruktur, Herrschaftsausübung und Religion hatte. In späterer Zeit dagegen wuchs der kulturelle Einfluss von Steppennomadenkulturen wie den Hunnen, von denen neben speziellen Schmucktypen auch eine aus heutiger Sicht eher bizarr anmutende Sitte wie die künstliche Schädelverformung entlehnt wurde.

Einem Ausstellungsführer angemessen, sind die Texte knapp und zweckmäßig gehalten, bieten aber gute Einstiegsinformationen für ein allgemeines Publikum. Nur in ganz wenigen Passagen hat man den Eindruck, dass Vermutungen etwas zu selbstbewusst als Tatsachen hingestellt werden (etwa wenn eine mögliche Biographie des im sogenannten Fürstengrab von Gommern bestatteten Mannes rekonstruiert wird).

Doch den größten Reiz des schmalen Bändchens macht die Bebilderung aus, die sich nicht auf die ansprechend auf dunklem Grund inszenierten Fundfotos beschränkt, sondern auch – teilweise zum Ausklappen – Kartenmaterial und lebendige Rekonstruktionsgemälde des Künstlers Karol Schauer bietet. Der Charme liegt dabei im Detail (z. B. in den hübschen Tierstilverzierungen, mit denen die Landkarten liebevoll gerahmt sind). So ist Barbarenmacht ein Büchlein, das nicht nur beim Lesen, sondern auch beim Anschauen großen Spaß macht und auch unabhängig von der gleichwohl sehr empfehlenswerten Dauerausstellung des Museums in Halle mehr als nur einen Blick wert ist.

Arnold Muhl, Ralf Schwarz: Barbarenmacht. Spätantike und Völkerwanderungszeit. Hrsg. von Harald Meller. Begleithefte zur Dauerausstellung im Landesmuseum für Vorgeschichte Halle Bd. 7. Halle, Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, 2019, 130 Seiten.
ISBN: 978-3-944507-91-0


Genre: Geschichte

Häfen für die Ewigkeit

Jean-Claude Golvins ebenso präzise wie ästhetisch ansprechende Rekonstruktionszeichnungen antiker Architektur und Topographie gehören zu den schönsten ihrer Art. Wie gut seine einprägsamen Darstellungen mit den Texten von Gérard Coulon harmonieren, hat schon ihr gemeinsamer Bildband Architekten des Imperiums bewiesen. Die Erwartungen, mit denen man ihr neues gemeinsames Werk Häfen für die Ewigkeit zur Hand nimmt, sind also von vornherein hoch, werden aber mühelos übertroffen.

Wie der Untertitel verrät, steht im Mittelpunkt des von Birgit Lamerz-Beckschäfer kenntnisreich und gut lesbar ins Deutsche übersetzten Buchs die Maritime Ingenieurskunst der Römer. Denn auch wenn man die Römer – anders als etwa die Griechen oder die Phönizier bzw. Karthager – vielleicht nicht auf den ersten Blick zu den großen Seefahrern der Antike zählen würde, brillierten sie im Hafenbau, und ihre diesbezüglichen Leistungen werden hier allgemeinverständlich beschrieben.

Nach einer Einleitung, die sich mit den technischen Herausforderungen des Bauens im Meer mit den Mitteln der Antike befasst, führt ein erstes Kapitel in den Bau von Häfen allgemein ein, während der nächste Abschnitt mit der Versandung von Häfen ein bis heute immer wieder aktuelles Problem in den Blick nimmt. Jeweils einzelne Kapitel widmen sich den verschiedenen Komponenten von Häfen, von Wellenbrechern und Molen über Kais, Lagerhäuser und Leuchttürme bis hin zu Werften. Im Anschluss daran werden wichtige römische Häfen an unterschiedlichen Küsten des Mittelmeers (Leptis Magna, Fréjus, die Häfen im Golf von Neapel, Portus und Ostia) genauer vorgestellt. Ein letztes Kapitel widmet sich dann noch zwei Kuriosa unter den Aufgaben der römischen Marine, dem moralisch sicher fragwürdigen, aber in technischer Hinsicht beeindruckenden Abtransport kompletter Obelisken aus Ägypten einerseits und der Bedienung der großen Sonnensegel, die Besucher von Amphitheatern schützten, andererseits. Der Epilog weist noch auf weitere Formen mit dem Wasser in Zusammenhang stehender Bauten (z. B. Fischteiche) hin.

Bei der Lektüre wird deutlich, dass zwar Teile römischer Häfen erhalten und daher archäologisch zu erschließen sind, dass aber in den vorhandenen Schriftquellen oft die genaue technische Vorgehensweise beim Hafenbau nicht geschildert wird, auch wenn es bemerkenswerte Momentaufnahmen gibt (so war z. B. Plinius der Jüngere Augenzeuge des Baus einer Mole in Civitavecchia). Ausgerechnet Vitruv, dessen Werk die Quelle schlechthin zur römischen Baukunst ist, scheint sich mit Hafenanlagen nicht besonders gut ausgekannt zu haben. So müssen oft moderne Überlegungen und Experimente weiterhelfen, um zu rekonstruieren, wie die Römer bestimmte Probleme gelöst haben könnten. Die Vorschläge, die Gérard Coulon dazu entwickelt, wirken zumindest aus Laiensicht durchaus überzeugend.

Vor allem aber machen Jean-Claude Golvins wunderbare Bilder das Buch aus, und auch abseits des Interesses an den Forschungen zum antiken Hafenbau bereitet es einfach viel Freude, seine Ansichten etwa von Karthago, Alexandria oder aber auch Narbonne und Marseille zu betrachten. Zusätzlich sind zahlreiche Fotos enthalten, die vorwiegend erhaltene Überreste römischer Bauwerke, aber auch Einzelfunde (wie z. B. Schiffswracks oder Münzen mit Hafendarstellungen) zeigen. Der Ausflug in die römische Antike besticht daher durch seine große Anschaulichkeit, und gerade der Reiz der Bilder verlockt dazu, den Band auch nach dem ersten Lesen noch einmal zur Hand zu nehmen.

Jean-Claude Golvin, Gérard Coulon: Häfen für die Ewigkeit Maritime Ingenieurskunst der Römer. Darmstadt, Philipp von Zabern (WBG), 2021, 224 Seiten.
ISBN: 978-3-8053-5321-2

 


Genre: Geschichte

Jesus. Leben und Wirkung

Für die religiösen Überzeugungen unzähliger Menschen spielt Jesus seit zwei Jahrtausenden eine zentrale Rolle, aber ob und in welchem Maße man Aussagen über die historische Persönlichkeit treffen kann, die zum Ausgangspunkt so vieler Glaubenssätze und Legenden wurde, ist in der Forschung eine ewige Streitfrage. Der evangelische Theologe Jens Schröter beantwortet sie eher optimistisch, und so spürt er in Jesus. Leben und Wirkung dem historischen Jesus nach und versucht zu ermitteln, wie viel von einem realen Kern hinter allen späteren Deutungen und Zuschreibungen heute noch fassbar ist.

Nach einem einleitenden Überblick über die Forschungssituation befasst sich das Kapitel Biblische und außerbiblische Quellen mit den Texten, die uns über Jesus zur Verfügung stehen. Neben den Evangelien (von denen laut Schröter interessanterweise oft das spät entstandene Johannesevangelium historisch wahrscheinlichere Informationen liefert als die drei synoptischen Evangelien) und weiteren Büchern des Neuen Testaments sind das zum einen die Apokryphen, zum anderen aber jüdische und pagane Schriften der Antike. Unter dem Stichwort Indirekte Zeugnisse stellt Schröter zudem archäologische Funde vor, die zwar nicht unmittelbar in Bezug zu Jesus stehen, aber – wie etwa ein im See Genezareth gefundenes Boot aus dem 1. Jahrhundert – die Lebenswelt fassbar machen, in der er sich bewegte.

Folgerichtig erhält Der geschichtliche Kontext auch ein eigenes Kapitel, in dem einerseits mit dem damaligen Judentum der geistesgeschichtliche Hintergrund des Auftretens Jesu erläutert wird, während andererseits ein Abschnitt die Lebens- und Herrschaftsverhältnisse in Galiläa schildert, mithin also der Region, in der Jesus nicht nur aufwuchs, sondern auch als Wanderprediger umherzog und Anhänger fand. Die Grundzüge des Wirkens Jesu beleuchtet daher auch das nächste Kapitel, das nicht nur das Verhältnis Jesu zu dem ebenfalls als Prediger aktiven Johannes dem Täufer unter die Lupe nimmt, sondern auch mit dem Begriff der „Gottesherrschaft“ eine zentrale Vorstellung aus den Lehren Jesu einführt und tiefer in die biblischen Texte einsteigt, um zu überprüfen, welche Aussagen tatsächlich auf Jesus selbst zurückgehen könnten, statt ihm nur zugeschrieben worden zu sein.

Wie das nächste Kapitel, Die Erneuerung Israels, vertiefend deutlich macht, sind nämlich spätere christliche Deutungen nicht unbedingt immer identisch mit dem, was Jesus bezweckt haben könnte, und mit seinem Selbstverständnis, in dem die Darstellung als „Sohn des Menschen“ bzw. „Menschensohn“ eine zentrale Rolle spielte. Was seine theologischen Aussagen betraf, bewegte er sich aber durchaus innerhalb der Spielräume, die das Judentum seiner Zeit kannte, so dass der Konflikt, in den er mit den religiösen Autoritäten geraten zu sein scheint, nicht allein mit seinen Lehren erklärbar ist. Die Passionsereignisse und der Tod in Jerusalem – so der Titel des letzten größeren Kapitels – zeigen laut Schröter vielmehr, dass er als politische Bedrohung wahrgenommen wurde: von den Römern als Unruhestifter, von der jüdischen Priesterschaft vermutlich deshalb, weil diese ein blutiges Vorgehen der römischen Besatzungsmacht gegen weitere Kreise für den Fall fürchtete, dass er und seine Anhänger tatsächlich einen Aufstand anzetteln könnten, so dass eine Positionierung gegen ihn Selbstschutz in einer als bedrohlich empfundenen Lage war. Unter dem Stichwort Jesus und die Entstehung des christlichen Glaubens wird abschließend noch knapp ein ansatzweiser Ausblick auf die frühchristliche Sicht auf Jesus gegeben.

Durch seine klare Gliederung und allgemeinverständliche Sprache, aber auch durch das hilfreiche Kartenmaterial und die auflockernden Abbildungen eignet sich das kurze Buch gut als Einstieg in die historische Jesusforschung für alle Interessierten. Aber auch diejenigen, die sich mit dem Thema schon befasst haben, können hier gerade dank der Einbeziehung der archäologischen Funde und der genauen Textarbeit noch neue Aspekte entdecken.

Jens Schröter: Jesus. Leben und Wirkung. München, C. H. Beck, 2020, 128 Seiten.
ISBN: 978-3-406-75601-6

 


Genre: Biographie, Geschichte

Die Entdeckung der Medizin

Während Medizin im Sinne einer Versorgung von Kranken und Verletzten schon seit den Anfängen der Menschheit existiert, gehört das alte Griechenland zu den ersten Kulturen, für die neben anderen Ansätzen auch das Bemühen um eine naturwissenschaftliche Herangehensweise an die Heilkunde nachgewiesen ist. Ab dem 5. Jahrhundert v. Chr. entstanden Schriften, die Leiden und ihre Behandlung ohne den Rückgriff auf göttliches Einwirken zu erklären versuchten – eine Entwicklung, die dem bekannten Althistoriker Robin Lane Fox als Die Entdeckung der Medizin (im englischen Original gar The Invention of Medicine) im heutigen Sinne erscheint. Viele der entsprechenden Werke werden in der Forschung zum sogenannten Corpus Hippocraticum zusammengefasst, das in der Antike dem berühmten Arzt Hippokrates zugeschrieben wurde, aber, wie man heute weiß, von unterschiedlichen Autoren stammt. Zwei Texte daraus – das erste und dritte der sogenannten „Epidemischen Bücher“ – schreibt Lane Fox allerdings tatsächlich Hippokrates selbst zu und stellt sie ins Zentrum seines Buchs über die griechische Medizin.

Der Arzt, der die beiden epidemischen Bücher verfasste, hielt sich drei Jahre lang auf der Insel Thasos und danach im auf dem nahen Festland gelegenen Abdera auf und hinterließ eine Sammlung von Fallgeschichten namentlich genannter Patienten, deren Symptome er genau beobachtet und auch mit äußerlichen Faktoren – wie etwa dem Wetter oder der bisherigen Lebensweise der Erkrankten – in Verbindung zu bringen versucht. In seinen Aufzeichnungen stehen nicht so sehr Therapieansätze im Vordergrund wie die Schilderungen von Krankheitsverläufen, so dass man davon ausgehen kann, dass seine Forschungsergebnisse für andere Ärzte – vermutlich seine Schüler – als Handreichung zu Diagnose und Prognose dienen sollten. Manche Krankheiten sind so exakt beschrieben, dass man sie problemlos mit noch heute bekannten wie Mumps, Malaria oder Krebs identifizieren kann, obwohl man im 5. Jahrhundert v. Chr. die Ursachen oft noch nicht kannte (oder aus heutiger Sicht falsche Vermutungen darüber anstellte). Auch psychische Leiden tauchen unter den Fällen auf (so hatte z. B. ein junger Mann eine Angststörung).

Das Gefühl unmittelbarer Nähe zur Bevölkerung einer altgriechischen Stadt, das die Erörterung dieser Fallschilderungen erzeugt, ist sicher eine der großen Stärken des Buchs. Gelungen ist auch die Einordnung der epidemischen Bücher in den Kontext der Entwicklung der griechischen Medizin, über die in der Frühzeit zunächst nur archäologische Funde und literarische Texte Auskunft geben (wie etwa die homerischen Epen, deren Helden es oft mit Kampfwunden aller Art, aber auch mit einer von Apollo gesandten Seuche zu tun bekommen). Recht interessant sind auch Erwägungen, ob etwa der Historiker Thukydides die hippokratischen Schriften gekannt und an ihnen nicht nur sein medizinisches Verständnis, sondern auch seinen Blick auf die Welt allgemein geschult haben könnte.

So eindrucksvoll die Darstellung insgesamt ist, lässt sich ein Problem an ihr allerdings nicht leugnen: Um die Epidemischen Bücher 1 und 3 Hippokrates selbst zuschreiben zu können, muss Lane Fox sie auf die Zeit um 470 v. Chr. und damit mehrere Jahrzehnte früher als gemeinhin üblich datieren. Zu dem Zweck muss er aber auch inschriftliche Erwähnungen von Amtsträgern aus Thasos und Abdera, deren Namen als die von Patienten in den Epidemischen Büchern wiederkehren, vordatieren.

Im Prinzip ist das sicher erwägenswert, aber die Argumente, die er für seine Datierungen findet, sind leider nicht in allen Punkten überzeugend. Wenn er z. B. die Entstehungszeit eines (heute verlorenen) Gemäldes des thasischen Malers Polygnotos davon abhängig machen möchte, dass die darauf dargestellte Elpinike im traditionell dafür angenommenen Jahr 463 v. Chr. sicher schon zu alt und unattraktiv gewesen sei, um als Modell zu dienen, so dass man das Werk auf spätestens 470 v. Chr. datieren müsse, weiß man nicht recht, ob man darüber lachen oder den Kopf schütteln soll. Auf alle Fälle erwartet man von einem renommierten Historiker eigentlich Besseres als solche fragwürdigen Spekulationen.

Lesenswert bleibt Die Entdeckung der Medizin dennoch, gerade auch dank der lebendigen Einblicke in den Alltag einer griechischen Polis, die die quellennahe Darstellung immer wieder ermöglicht. Wer nicht vergisst, einzelne Behauptungen kritisch zu hinterfragen, kann daher durchaus einiges aus der Lektüre mitnehmen.

Robin Lane Fox: Die Entdeckung der Medizin. Eine Kulturgeschichte von Homer bis Hippokrates. Stuttgart, Klett-Cotta, 2021, 448 Seiten.
ISBN: 978-3-608-96479-0


Genre: Geschichte

Das minoische Kreta

Stiersprung und Paläste, Labyrinth und Doppelaxt, potenzielles Matriarchat oder gar Atlantis-Vorbild – die Assoziationen, die die Kultur weckt, die nach dem kretischen König Minos aus der griechischen Mythologie als die minoische bezeichnet wird, ohne dass bekannt wäre, wie sie sich selbst nannte, sind vielfältig. Was aber wissen wir eigentlich wirklich über das bronzezeitliche Kreta? Viel und wenig zugleich, wie Diamantis Panagiotopoulos in seinem Buch Das minoische Kreta überzeugend darlegt. Gut lesbar und mit vielen Fotos und Grafiken illustriert schildert er, was sich über die Situation auf Kreta zwischen 3100 v. Chr. und 1200 v. Chr. sagen lässt, als sich nach und nach zuerst eine eher agrarisch denn maritim geprägte Lebensweise entwickelte, in der sich über Jahrhunderte mehrere vielleicht miteinander konkurrierende, aber wohl auf alle Fälle voneinander unabhängige Palastzentren herausbildeten, unter denen schließlich der Palast von Knossos die Dominanz und vermutlich eine Art Oberherrschaft erlangte, bis es dann unter ungeklärten Umständen zu einer Übernahme der festländischen mykenischen Kultur kam und der kretische Sonderweg in der griechischen Welt aufging.

Ziel und Anspruch des Autors ist es dabei, sowohl ein Fachpublikum als auch Interessierte abseits des akademischen Kontexts anzusprechen – ein Vorhaben, das nicht zuletzt aufgrund seiner tiefen Liebe zum damaligen wie zum heutigen Kreta gelingt, die in seinen Schilderungen immer wieder spürbar wird. Sein Bemühen, die Minoer zu verstehen, geht deshalb nicht nur von den gleichwohl gut beschriebenen und differenziert interpretierten archäologischen Funden allein aus, sondern von den epochenübergreifenden naturräumlichen Besonderheiten Kretas. Daneben legt Panagiotopoulos großen Wert darauf, nicht nur eine abstrakte „Kultur“ zu schildern, sondern das Individuum in seiner Interaktion mit der Welt sichtbar zu machen.

Das allerdings ist für das minoische Kreta nicht ganz einfach: Die Schriftquellen (in kretischen Hieroglyphen und Linear A) sind immer noch nicht entschlüsselt, und so lebendig die erhaltenen Bilder auch wirken mögen, weisen sie doch Besonderheiten auf, die sie nicht als unverfälschte Wiedergabe der minoischen Realität erscheinen lassen. Beispielsweise gibt es, anders als gleichzeitig in Ägypten oder im Alten Orient, unter den zahlreichen Gemälden und Statuen keine, die sich eindeutig als Darstellungen konkreter Einzelpersonen, also quasi als Portraits, identifizieren lassen. In den häufigen Fest- und Alltagsszenen, die es stattdessen gibt, agieren meist nur junge Erwachsene – Kinder sind selten, ältere Menschen gar nicht abgebildet. Die Gründe dafür sind unklar.

Nicht nur deshalb ist die moderne Rezeption der minoischen Kunst und auch anderer Funde oft stark von Spekulationen geprägt. Seinen Teil dazu beigetragen hat Arthur Evans, der Ausgräber von Knossos, dessen Rekonstruktionen eher phantasievoll waren. Panagiotopoulos verteufelt ihn dennoch nicht, sondern zeigt bei aller Kritik auf, dass Evans durchaus viel leistete und nicht unbedingt wild fabulierte, sondern von seiner Zeit und seinem Bildungshintergrund geprägte Schlüsse zog.

Wie leicht das auch mit dem heutigen erweiterten Kenntnisstand geschehen kann, demonstriert der Autor anhand eines Wandgemäldes, das prominent Frauen in Szene setzt: Je nachdem, wie man sie sehen möchte, könnten sie von Würdenträgerinnen und Priesterinnen einer eher matriarchal geprägten Gesellschaft bis hin zu Haremsdamen in einem extremen Patriarchat so gut wie alles sein. Was man selbst an die bronzezeitlichen Zeugnisse heranträgt, prägt deren (vermeintliche) Aussage, dafür hat Panagiotopoulos einen wachen Blick. Entsprechend vorsichtig fallen auch seine eigenen Überlegungen aus, die oft eher Möglichkeiten aufzeigen, als in Stein gemeißelt zu erscheinen. Nur an wenigen Stellen wagt er unbelegbare Vermutungen, so etwa in der Deutung des in der minoischen Kunst oft wiedergegebenen Stiersprungs, der für ihn weder Initiationsritual noch Mythos, sondern ein wiederholter Akt der Selbstdarstellung der jungen, männlichen Angehörigen der kretischen Elite ist.

Abgesehen von hochinteressanten Informationen über Archäologie und Forschungsgeschichte des minoischen Kreta bietet das Buch daher auch ein überzeugendes Plädoyer dafür, sich im Umgang mit der Vergangenheit der Subjektivität von Rezeption und der eigenen Rezipientenrolle stets bewusst zu bleiben. Lesenswert ist es daher nicht nur für diejenigen, die sich mit der kretischen Bronzezeit beschäftigen möchten, sondern generell für alle, denen vor- und frühgeschichtliche Kulturen am Herzen liegen.

Diamantis Panagiotopoulos: Das minoische Kreta. Abriss einer bronzezeitlichen Inselkultur. Stuttgart, W. Kohlhammer, 2021, 312 Seiten.
ISBN: 978-3-17-021269-5


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur