Ob Bach, Goethe, Liszt oder die Bauhaus-Anfänge – Weimar war über Jahrhunderte eine Stadt, in der Größen aus Kunst und Kultur wirkten. Für Helge Hesse versinnbildlicht es damit insbesondere in der Epoche der Weimarer Klassik Ein deutsches Versprechen, das nämlich, einen weltoffenen Ort für Austausch, Kreativität und geistigen Fortschritt zu bieten. Welches Potenzial in dem Zusammentreffen verschiedener wirkmächtiger Personen und Bewegungen in Weimar steckte und wie es dennoch dazu kommen konnte, dass das Versprechen nicht eingelöst wurde, sondern nur gut hundert Jahre nach Goethes Tod mit der Naziherrschaft eher – wenn trotz des bitterernsten Themas ein schlechtes Wortspiel gestattet ist – das deutsche Verbrechen schlechthin begann, zeichnet Hesse in seinem klugen Buch nach, das, so der Untertitel, Weimar 1756 – 1933 in den Blick nimmt, mithin vom Einzug der kunstsinnigen Herzogin Anna Amalia in Weimar bis zum Einsetzen einer sehr düsteren Zeit für Deutschland.
Den Schwerpunkt (mit 155 von 284 Seiten) bildet dabei das von Goethe, Herder, Wieland, Schiller und ihren Zeitgenossen geprägte Weimar der zweiten Hälfte des 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts. Auch wer meint, darüber schon so manches zu wissen, sollte das Buch nicht leichtfertig verschmähen, denn Helge Hesse versteht es wie kaum ein anderer, die Bedeutung der Topographie für die Erfahrungswelt der Menschen, die in Weimar lebten, und für ihre Beziehungen untereinander deutlich zu machen. Wie weit Goethe es etwa von seinem jeweiligen Wohnsitz aus zu verschiedenen Bekannten hatte, wie die Umgebung von Schillers Haus geartet war oder was Paul Klee auf dem Weg zur Arbeit im Bauhaus alltäglich zu sehen bekam, wird einem ebenso greifbar vor Augen geführt wie die bewusste Schaffung von Erinnerungsorten in verschiedenen Zeiten. Die Stadt ist so nicht nur Bühne des Geschehens, sondern fast ein weiterer Akteur, dessen Einfluss man nicht unterschätzen darf.
Bei aller Bewunderung für das klassische Weimar verklärt Hesse die dort Lebenden und Wirkenden jedoch nicht, sondern schildert auch menschliche Schwächen, Ehrgeiz, Kleinlichkeit und Eifersüchteleien, die vielleicht allein schon verhindert hätten, aus dem titelgebenden Versprechen mehr als das werden zu lassen, wenn nicht noch andere, Weimar allein weit übersteigende Kräfte am Werk gewesen wären. Die napoleonischen Kriege, die den Keim des später so verheerenden Nationalismus in sich trugen, nimmt man dabei als Einschnitt deutlich wahr, doch ebenso bedeutsam war wohl das Beharrungsvermögen überkommener Einstellungen sowohl im Herrscherhaus als auch in der Bevölkerung: Mochte man sich auch mit Literaten, Musikern und bildenden Künstlern schmücken (und gerade auch das Gedenken an die schon verstorbenen unter ihnen hochhalten), ging damit doch keine generelle Überwindung von Engstirnigkeit und Pochen auf das Althergebrachte einher – zuletzt dann mit fatalen politischen Folgen.
Die Erkenntnis, dass auch höchste kulturelle Leistungen kein Garant sind, dass der ihnen zugrundeliegende Geist dauerhaft beherzigt wird, sondern immer auch und vielleicht gerade an den künstlerisch blühendsten Orten mit einem Rückfall in Tyrannei und Barbarei gerechnet werden muss, stimmt auch angesichts derzeitiger Entwicklungen nachdenklich. Doch Helge Hesse lässt sein Buch nicht in Düsternis enden, sondern ruft vielmehr in Form einer stimmungsvollen Beschreibung eines Spaziergangs ausgehend von Goethes Gartenhaus im Park an der Ilm dazu auf, sich zu vergegenwärtigen, dass es so nicht kommen muss, sondern Vergangenes, das nicht zum bloßen Jubiläum erstarrt, auch als Anregung genommen werden kann. Vielleicht ist es also an uns Heutigen, zu versuchen, das Versprechen – das, wie Hesse selbst einräumt, letzten Endes dann doch nicht allein ein deutsches, sondern ein allgemein menschliches und überzeitliches ist – nach besten Kräften einzulösen.
Helge Hesse: Ein deutsches Versprechen. Weimar 1756 – 1933. Ditzingen, Reclam, 2023, 284 Seiten.
ISBN: 978-3-15-011-436-0