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Germanen

Kaum eine Bezeichnung für eine vor- oder frühgeschichtliche Kultur ist so umstritten und politisiert wie „Germanen“. Dass es sich dabei um einen Oberbegriff für recht heterogene Gruppen handelt, die sich nach heutigem Wissensstand nicht als Einheit empfunden haben dürften, ist dabei noch das geringste Problem. Weit schwerer wiegt der Missbrauch, der im 19. und 20. Jahrhundert und insbesondere in der Nazizeit mit einer Gleichsetzung von Deutschen und Germanen getrieben wurde. Oft überlagert und erschwert das Abarbeiten an dem damals entstandenen Zerrbild, das in manchen populären Vorstellungen noch fortwirkt, die Beschäftigung mit den eigentlichen archäologischen und historischen Quellen. In diesem Spannungsfeld bewegt sich auch die als Ausstellungsbegleitband entstandene Aufsatzsammlung Germanen. Eine archäologische Bestandsaufnahme, die, anders als der Untertitel suggerieren könnte, eben nicht nur den archäologischen Aspekt in den Vordergrund rückt, sondern auch eine Auseinandersetzung mit dem Germanennamen und der Forschungsgeschichte ist.

Wie bei jedem Sammelband mit einer Fülle unterschiedlicher Beteiligter stehen dabei manchmal unvereinbar gegensätzliche Positionen nebeneinander (etwa bereits im ersten Oberkapitel bei der Frage, wie naturbelassen und waldreich die römerzeitliche Germania denn nun eigentlich war). Bis auf einen einzigen Aufsatz, der in seiner inneren Widersprüchlichkeit eher verwirrend als erhellend wirkt, sind aber alle Beiträge lohnender Lesestoff und tragen ihren Teil zu einem notwendigerweise bruchstückhaften, aber darum nicht minder beeindruckenden Wissensmosaik über die Germanen bei.

Nach einem Vorwort von Matthias Wemhoff und Michael Schmauder umreißt Letzterer unter dem Titel des Gesamtbandes die Zielsetzung des Ausstellung in Berlin und Bonn und des zugehörigen Buchs: Neben der historischen Germania und ihren Bewohnern stehen auch der Germanenname an sich und seine wechselvolle Rezeption von seiner Etablierung oder mindestens Popularisierung durch Caesar bis in die heutige Zeit im Zentrum.

Schon im ersten Oberkapitel, Von Wohnstallhäusern und dunklen Wäldern, treffen (Fehl-)Vorstellungen über Germanen und archäologische Befunde aufeinander. Gleich eingangs räumt Heiko Steuer aus Archäologensicht Zehn Vorurteile antiker und moderner Historiker aus, darunter eben auch das einer dicht von urwüchsigen Wäldern bedeckten Germania, aber auch zahlreiche von römischen Autoren verwendete Barbarentopoi.
Hans-Jörg Karlsen schildert in Zwischen Tradition und Innovation, was sich über Siedlungsmuster und die regional durchaus unterschiedliche Architektur ermitteln lässt. Thematisch ähnlich, aber mit einem stärkeren Fokus auf den möglichen Zusammenhang zwischen Bauformen und Sozialstrukturen, ist Jan Schusters Beitrag Vom Pfosten zum aus zum Gehöft gelagert. Eine einzelne germanische Siedlung nimmt schließlich Sven Gustavs in den Blick, wenn er über den Fundort Klein Köris in der Nähe von Berlin schreibt.
Susanne Jahns ist nicht nur mit dem Titel ihres Beitrags, Silvis horrida aut paludibus foeda, ganz bei Tacitus: Im Gegensatz zu Steuer sieht sie ein Germanien vor sich, das „zum großen Teil mit dichtem Wald bestanden“ (S. 111) war, und erläutert dies am Beispiel von Pollendiagrammen aus Brandenburg.

Das zweite Großkapitel Zwischen Selbstversorgung und Spezialistentum erhellt punktuell das Alltagsleben in der Germania magna. Angela Kreuz untersucht anhand römischer Schriftquellen und archäobotanischer Studien Frühgermanische Landwirtschaft und Ernährung und bietet sogar zwei rekonstruierte Rezepte (für einen Gersteneintopf und einen Hirsebrei), die nachkochbar machen, was sich aus Funden über die germanische Ernährung vermuten lässt.
Michael Meyer zeigt unter der Überschrift Eisen – Keramik – Kalk, wie Rohstoffe – gerade im Fall des Eisens teilweise recht zentralisiert und systematisch – abgebaut und weiterverarbeitet wurden. Wichtige Handwerker waren die Schmiede, die Hans-Ulrich Voß unter der Überschrift „Polytechniker“ – Spezialisten – Künstler beschreibt und die nicht nur archäologisch, sondern auch in Schriftquellen und in der Sagenwelt ihre Spuren hinterließen. Aber nicht alles in der Germania wurde direkt dort hergestellt: Importe aus dem römischen Reich spielten eine bedeutende Rolle, wie Patrick Könemann anhand der Siedlung Kamen-Westick zeigt, die sich durch eine solche Fülle von Funden römischen Ursprungs auszeichnet, dass man in ihr einen besonderen Ort – vielleicht einen Handelsplatz – vermuten kann.
Anders als Metall- und Keramikgegenstände erhalten sich Textilien nur selten, so dass Die Textilien der frühgeschichtlichen Wurt Feddersen Wierde eine Ausnahme darstellen, über die Christina Peek mit genauen Beobachtungen zu Machart und Qualität der gefundenen Reste von Stoffen, Schnüren und Fäden einen gelungenen Überblick gibt. Mit Funden aus Feddersen Wierde beschäftigt sich auch Katrin Struckmeyer, etwa mit Kämmen, für die Knochen, Geweih und Horn als Rohmaterial dienten.

Im dritten Kapitel ist man Den germanischen Gesellschaften auf der Spur. Hochinteressant ist gleich der erste Beitrag, in dem Matthias Egeler Kontinuitäten, Brüche und überregionale Verflechtungen der Religionsgeschichte in der Germania aufzeigt, Überschneidungen mit Keltischem und Römischem nachzeichnet und belegt, dass bei aller Skepsis, die man leichtfertigen Gleichsetzungen gegenüber wahren sollte, beispielsweise bei den Namen bestimmter mythologischer Figuren teilweise eine erstaunliche lange Tradierung nachweisbar ist.
Der ebenfalls sehr lesenswerte Beitrag von Babette Ludowici steht unter der Frage Germanisches Understatement? Hier geht es um Bestattungsbräuche, die – gerade im Fall der häufigen Leichenverbrennungen – den dabei getriebenen Aufwand für spätere Zeiten unsichtbar machten, da die Funde auf den ersten Blick wenig spektakulär wirkten, was aber nicht heißen muss, dass nicht gewaltige Werte an Beigaben in Flammen aufgingen, wie einzelne Überreste ahnen lassen.
Der Aufsatz Aktuelle Forschungen zur Sozialstruktur der Germanen im östlichen Mitteleuropa von Kalina Skóra und Adam Cieśliski behandelt mit anthropologischen Untersuchungen zu Gräbern der Wielbark-Kultur zwar kein uninteressantes Thema, ist aber der einzige Beitrag des Bandes, der einen ratlos zurücklässt, weil er sich ständig selbst widerspricht.1 Ob sich hier die beiden Autoren uneinig waren oder einfach nur ungeschickt versucht wurde, unterschiedliche Forschungshypothesen unter einen Hut zu bringen, lässt sich nicht entscheiden.
Weitaus besser nachvollziehbar ist der Inhalt glücklicherweise im folgenden Beitrag von Andrzej Kokowski, der Die archäologischen Kulturen des Gotenkreises, darunter eben auch die Wielbark-Kultur, im Abgleich mit antiken Quellen unter dem Aspekt der allmählichen Migration der Goten nach Süden betrachtet.

In historischen Quellen tauchen unterschiedliche germanische Gruppierungen vor allem im Hinblick auf ihre Auseinandersetzungen mit dem römischen Reich auf, so dass es folgerichtig erscheint, dass mit Krieg – ein weites Feld ein eigenes Oberkapitel bewaffneten Konflikten nicht nur mit der römischen Welt gewidmet ist. Aber natürlich ist der Kampf gegen Rom ein so zentrales Thema, dass Michael Meyer ihn gleich im Eingangsbeitrag anhand der Schlachtfelder von Kalkriese und vom Harzhorn untersucht und die Ausschnitthaftigkeit des aus den dortigen archäologischen Funden Rekonstruierbaren deutlich macht.
Die Vorgänge am Harzhorn beschäftigen auch Lothar Schulte in Rom vs. Unbekannt?, wenn er auslotet, aus welchem Gebiet die Germanen gekommen sein könnten, die sich hier 235 n. Chr. mit den Römern unter ihrem Kaiser Maximinus Thrax Gefechte lieferten.
Innergermanische Kämpfe stecken dagegen wohl hinter den Opfern von Waffen und Ausrüstungsteilen im Thorsberger Moor, die Ruth Blankenfeldt in Kampf und Kult bei den Germanen nicht nur unter forschungshistorischen Gesichtspunkten betrachtet, sondern auch differenziert und klar strukturiert analysiert. Hier erfährt man nicht nur über die Bewaffnung von Heeren und deren Zusammensetzung sehr viel, sondern auch über die mögliche religiöse und soziale Funktion großer Opferrituale.

Unter dem Titel Rom: Ein nützlicher Gegner sind weitere Beiträge zu den römisch-germanischen Beziehungen zusammengefasst. Ein schöner Aufsatz mit einem Blick für Details eröffnet den Reigen: Petra Rosenplänter stellt in „A missing link“, wie schon der Untertitel verrät, Ein Terra-Sigillata-Derivat aus dem Hinterland der Ems vor. Dort gefundene Scherben zeigen, dass jemand in der Germania magna versucht haben muss, ein römisches Gefäß mitsamt seiner Ornamentik nachzubilden, sich dabei aber einer ganz eigenen Technik bediente.
Ein ungleich berühmterer Fund steht im Mittelpunkt des nächsten Beitrags: Benjamin Wehry zeigt in Germanischer Prunk und römische Technik, wie der im sogenannten Fürstengrab von Gommern gefundene Schildbuckel aus einem römischen Silbergefäß umgearbeitet und seiner neuen Funktion angepasst wurde und wie man sich den gesamten Schild vorzustellen hat.
Dass unter Augustus Römischer Blei- und Silberbergbau rechts des Rheins im Bergischen Land betrieben, aber nach relativ kurzer Zeit wieder aufgegeben wurde, erläutern Jan Bemmann und Tosten Rünger.
In eine wesentlich spätere Epoche führt der Beitrag von Izabela Szter und Anna Zapolska: Der Hortfund von Frauenburg, Kr. Braunsberg – also aus dem heutigen Frombork (Polen) – stammt aus der frühen Völkerwanderungszeit und enthält neben allerlei Fibeln und Schnallen auch römische Münzen. Galt der Hortfund zunächst als im Zweiten Weltkrieg verloren, stellte sich später heraus, dass er in Wirklichkeit ins Depot des Berliner Museums für Vor- und Frühgeschichte gelangt war, so dass sich nun die Möglichkeit zu einer Neuanalyse bot.
Die Frage Grabmal oder öffentliches Monument? stellt sich bei einem Relief mit einer Gefangenendarstellung aus Mainz. Marion Witteyer kann den ursprünglichen Zweck zwar nicht endgültig bestimmen, geht aber von der Zugehörigkeit zu einem größeren Monument aus. Auf jeden Fall hat man es aber mit einem Bespiel für die römische Sicht auf die Germanen zu tun, was eine passende Überleitung zum nächsten Abschnitt bildet, der ganz dem Germanennamen gewidmet ist.

Das Kapitel Germanen: Sichtweisen auf einen umstrittenen Begriff  weist bei einer kontinuierlichen Lektüre des Bandes gewisse Längen auf, nicht etwa, weil einer der Beiträge darin an und für sich uninteressant wäre, sondern weil aufgrund des doch relativ begrenzten Quellenkorpus zum antiken Germanenbegriff zwangsläufig vieles mehrfach referiert wird, was sich in einer Monographie zusammenfassend hätte abhandeln lassen.
Originell ist der von Ernst Baltrusch gewählte Ansatz, die Römische Ethnographie nicht nur nach ihrem Germanenbild zu befragen, sondern auch ihre Sicht auf die Juden zu untersuchen und so herauszuarbeiten, inwieweit die antike Bewertung beider Kulturen Ansatzpunkte für die verheerende spätere Rezeption bot. Hervorhebenswert ist auch, dass Baltrusch nicht nur die Bezeichnung „Germanen“ problematisiert, sondern auch kritisch den heute in der Wissenschaft gängigen Sprachgebrauch hinterfragt, der mit der Bezeichnung barbaricum als Ersatz für „Germanien“ letzten Endes ein Schimpfwort aus der Antike übernimmt.
Sebastian Brather fragt nach der Tauglichkeit des Begriffs Germanen als Kategorie der Forschung? und kommt zu dem Schluss, dass man ihn nicht vorschnell verwerfen sollte, solange man sich seiner historischen Genese bewusst bleibt.
Noch knapper fragt Stefan Burmeister nach Germanen? und arbeitet die Problematik der pauschalisierenden Sammelbezeichnung nicht nur für eine Vielzahl unterschiedlicher Gruppen, sondern auch für von verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen untersuchte Phänomene (ob nun Sprache oder materielle Hinterlassenschaften) heraus.
Hans-Ulrich Voß spürt in „Germanen“ und „Römer“ der Art nach, wie man frühe archäologische Funde mit dem aus den Schriftquellen über Römer und Germanen bekannten in Einklang zu bringen versuchte und welche Rolle römisches Importgut in der Germania magna dabei spielte.
Germanenname und Germanenbegriff in der Antike dagegen werden von Reinhard Wolters beleuchtet, der die Entwicklung vom Aufkommen der Germanenbezeichnung unter Caesar bis zu ihrem (vorläufigen) Verschwinden in der Spätantike nachzeichnet.
Zurück in die Neuzeit geht es mit Wojciech Nowakowski, der Die Germanen in der polnischen Archäologie unter dem Aspekt der Forschungsgeschichte vorstellt und dabei deutlich macht, dass nicht die deutsche Wissenschaft allein im 20. Jahrhundert auf politisch motivierte Irrwege geriet: Da man auch in Polen eine Kontinuität von den Germanen zu den verständlicherweise verhassten Deutschen annahm, wollte man so wenig „Germanisches“ wie möglich auf polnischem Staatsgebiet haben, bemühte sich um den Nachweis einer slawischen Ureinwohnerschaft und spielte die Präsenz germanischer Gruppen eher herunter.

Dem neuzeitlichen Germanenbild auch über die Fachwissenschaft hinaus widmet sich das abschließende Kapitel Rezeption: Zwischen Wagner-Oper und musealer Präsentation. Einen Überblick dazu liefern Susanne Grunwald und Kerstin P. Hofmann in Wer hat Angst vor den Germanen? Von Opernkostümen mit Hörnerhelmen über die völkisch-nationalistischen Abwegen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis hin zu heutigen fragwürdigen Ansätzen wie dem Aufspüren „germanischen“ Erbguts bei kommerziellen DNA-Analysen findet hier so manches Erwähnung, das eher von einer unreflektierten Inanspruchnahme der historischen Germanen als von einer echten Auseinandersetzung mit dem, was wir über sie wissen und vermuten können, zeugt.
Germanenbilder werden natürlich nicht zuletzt auch von der musealen Präsentation von Fundstücken geprägt. Marion Bertram geht in ihrem Beitrag „In dem schwankenden Meere prähistorischer Hypothesen“ der Frage nach, wie Germanisches von den Anfängen bis 1945 im Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte ausgestellt und inszeniert wurde.
Wer hier nur mit typischer Germanentümelei rechnet, dürfte etwas von dem überrascht sein, was Matthias Wemhoff unter der Überschrift Germanenkult oder Mythengeschichte? über den heute nur noch partiell erhaltenen Gemäldefries von 1855 im sogenannten „Vaterländischen Saal“ des Neuen Museums herausarbeitet. Nationalistisches – bezogen auf ein vereintes Deutschland, das damals noch Zukunftsmusik war – klingt in den Darstellungen aus der nordischen Mythologie eher unterschwellig an; stattdessen wird, vermengt mit antiken und christlichen Vorstellungen, eine diffuse Friedens- und Erlösungsbotschaft vermittelt.

Ein kleiner Katalogteil, der zu den Aufnahmen ausgewählter Stücke leider nur knappe Angaben anstelle eigentlicher Begleittexte bietet, rundet den Band ab und macht wie die im ganzen Buch qualitätvolle Bebilderung aus Fotos, Rekonstruktionszeichnungen von Benoit Clarys, Übersichtsgrafiken und Kartenmaterial diesen Streifzug durch die germanische Welt anschaulich und greifbar. Insgesamt hat man den Eindruck, dass die im Untertitel versprochene archäologische Bestandsaufnahme durchaus geglückt und darüber hinaus noch einiges geboten ist. Als Einführung für Interessierte in das Thema Germanen eignet sich das Werk allerdings nur bedingt. Besser ist es, schon ein bisschen Vorwissen gerade auch aus dem ereignishistorischen Bereich mitzubringen, um die oft nur Schlaglichter setzenden Beiträge in einen größeren Kontext einordnen zu können.

Thorsten Valk, Matthias Wemhoff (Hrsg.): Germanen. Eine archäologische Bestandsaufnahme. Darmstadt, Theiss (WBG), 2020, 640 Seiten.
ISBN: 978-3-8062-4261-4

  1. So folgen auf die kategorische Aussage „Die germanische Familie lebte monogam“ (S. 236) noch auf derselben Seite Spekulationen über Polygamie als mögliche Ursache eines ungleichen Geschlechterverhältnisses auf bestimmten Gräberfeldern. Auch ob es nun Wahrsagerinnen gab (so S. 242) oder „Prophezeiungen eine rein männliche Angelegenheit“ (S. 243) waren, wird nicht klar. Etwas misstrauisch stimmt auch die Aussage, man habe zwar Tote im Alter von 50 Jahren oder mehr, aber nur selten „Reste von Verstorbenen mit einem Alter von über 60 Jahren“ (S. 235) gefunden, wenn man wenig später informiert wird, dass „eine genaue Diagnose des Sterbealters ab 50 bis 60 Jahren nicht mehr möglich“ ist (S. 247). Auch die Aussagekraft des Hinweises, dass, anders als in der Przeworsk-Kultur, in keinem Frauengrab der Wielbark-Kultur Waffen gefunden wurden, für die jeweiligen Handlungsspielräume einzelner Frauen in beiden Kulturen dürfte eher gering sein, wenn man bedenkt, dass man schon zuvor erfahren hat, dass auch Männergräber der Wielbark-Kultur keine Waffenbeigaben enthalten (vgl. S. 227).

Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Vergils Aeneis

Vergils Aeneis gilt als das römische Epos schlechthin und wird seit zweitausend Jahren immer wieder rezipiert, interpretiert und als Inspirationsquelle genutzt. Wer vor dem Hintergrund daran zweifelt, dass es überhaupt noch etwas Neues über das Werk zu sagen gibt, ist mit einem Blick in Markus Jankas Einführung Vergils Aeneis gut beraten, die einen frischen und bisweilen unerwarteten Zugang zu der alten Geschichte über den Flüchtling aus Troja bietet, der sich auf göttlichen Ratschluss hin nach Italien begibt.

Von einer einzigen Geschichte zu sprechen, ist dabei aber vielleicht verfehlt, denn Markus Janka deutet die Aeneis vielmehr als Abfolge von ihren zwölf Büchern entsprechenden zwölf Heldengeschichten um dreizehn zentrale Figuren (Aeneas, Laocoon, Achaemenides, Dido, Anchises, Sibylla, Latinus, Euander, Nisus und Euryalus, Pallas, Camilla sowie Turnus, wobei das Freundespaar Nisus und Euryalus aufgrund seiner gemeinsamen Geschichte als Einheit behandelt wird).

Nach vier den Rahmen absteckenden Kapiteln, in denen die homerischen und hellenischen Vorbilder der Aeneis, ihre Stellung im Werk Vergils und ihre historische Verortung im Prinzipat des Augustus behandelt werden, bildet den Schwerpunkt der Einführung daher eine Art interpretierende Nacherzählung der zwölf Bücher der Aeneis mit einzelnen Zitaten, vor allem aber auch vielen zweisprachig wiedergegebenen Einzelbegriffen, die in ihrer Bedeutung für das Epos diskutiert werden.

Die Übersetzung der lateinischen Wörter entspricht dabei nicht immer dem Gewohnten. So gibt Janka etwa die charakteristische pietas des Aeneas mit „Bravheit“ (S. 7) wieder – eine Formulierung, die überrascht, wenn man selbst (wie die Rezensentin) den pius Aeneas spontan vielleicht eher als einen „pflichtergebenen“ Mann beschrieben hätte, die aber zugleich mehr als ein Denkanstoß ist, sondern einen zentralen Ausgangspunkt der Deutung des Werks bildet. Sonst oft betonte Aspekte wie das Augustuslob oder der römische Ursprungsmythos werden zwar nicht ausgeblendet, aber vor allem zeichnet Janka die Geschichte des Aeneas als die eines Mannes, der zwar zunächst „brav“ beginnt (und damit den wenig sozialverträglichen homerischen Helden überlegen ist), dessen Bild aber mit dem Fortschreiten der Handlung immer mehr Risse bekommt.

Ist Aeneas schon in seinem Umgang mit Dido letzten Endes der moralisch Unterlegene, lassen ihn nach seiner Ankunft in Italien die blutigen Kriegshandlungen, in die er sich verstrickt, immer weiter von seinem ursprünglichen Anstand abkommen, bis er mit Menschenopfern und ganz am Ende mit der Verweigerung der Gnade, um die der unterlegene Turnus fleht, auch für römische Begriffe weit vom richtigen Handeln entfernt ist. Erinnert man sich daran, dass Aeneas als Vorfahr der Römer gilt, schwingt in seinem moralischen Abstieg, der mit dem Aufstieg im Machtgefüge der Welt einhergeht, also die Mahnung an Rom mit, sich von Durchsetzungskraft und Kampferfolgen nicht verleiten zu lassen, seine ursprünglichen Überzeugungen zu verraten – eine Warnung, die zu beherzigen dem aufstrebenden Imperium und mancher Einzelperson in ihm vielleicht gutgetan hätte.

Ein kurzer Ausblick auf die heutige Aeneis-Rezeption in Film und Literatur und Schaubilder mit schematischen Darstellungen zum Aufbau des Werks runden das Buch ab. Ganz gleich, ob man sich Jankas Interpretation vorbehaltlos anschließen oder sich eher kritisch damit auseinandersetzen möchte, ist die kleine Einführung auch dank dieser Übersichten eine gute Einstiegsmöglichkeit in Vergils Schaffen und eine hilfreiche Begleitung bei der eigenen Lektüre der Aeneis.

Markus Janka: Vergils Aeneis. Dichter, Werk und Wirkung. München, C. H. Beck, 2021, 128 Seiten.
ISBN: 98-3-406-72688-0


Genre: Kunst und Kultur

Das minoische Kreta

Stiersprung und Paläste, Labyrinth und Doppelaxt, potenzielles Matriarchat oder gar Atlantis-Vorbild – die Assoziationen, die die Kultur weckt, die nach dem kretischen König Minos aus der griechischen Mythologie als die minoische bezeichnet wird, ohne dass bekannt wäre, wie sie sich selbst nannte, sind vielfältig. Was aber wissen wir eigentlich wirklich über das bronzezeitliche Kreta? Viel und wenig zugleich, wie Diamantis Panagiotopoulos in seinem Buch Das minoische Kreta überzeugend darlegt. Gut lesbar und mit vielen Fotos und Grafiken illustriert schildert er, was sich über die Situation auf Kreta zwischen 3100 v. Chr. und 1200 v. Chr. sagen lässt, als sich nach und nach zuerst eine eher agrarisch denn maritim geprägte Lebensweise entwickelte, in der sich über Jahrhunderte mehrere vielleicht miteinander konkurrierende, aber wohl auf alle Fälle voneinander unabhängige Palastzentren herausbildeten, unter denen schließlich der Palast von Knossos die Dominanz und vermutlich eine Art Oberherrschaft erlangte, bis es dann unter ungeklärten Umständen zu einer Übernahme der festländischen mykenischen Kultur kam und der kretische Sonderweg in der griechischen Welt aufging.

Ziel und Anspruch des Autors ist es dabei, sowohl ein Fachpublikum als auch Interessierte abseits des akademischen Kontexts anzusprechen – ein Vorhaben, das nicht zuletzt aufgrund seiner tiefen Liebe zum damaligen wie zum heutigen Kreta gelingt, die in seinen Schilderungen immer wieder spürbar wird. Sein Bemühen, die Minoer zu verstehen, geht deshalb nicht nur von den gleichwohl gut beschriebenen und differenziert interpretierten archäologischen Funden allein aus, sondern von den epochenübergreifenden naturräumlichen Besonderheiten Kretas. Daneben legt Panagiotopoulos großen Wert darauf, nicht nur eine abstrakte „Kultur“ zu schildern, sondern das Individuum in seiner Interaktion mit der Welt sichtbar zu machen.

Das allerdings ist für das minoische Kreta nicht ganz einfach: Die Schriftquellen (in kretischen Hieroglyphen und Linear A) sind immer noch nicht entschlüsselt, und so lebendig die erhaltenen Bilder auch wirken mögen, weisen sie doch Besonderheiten auf, die sie nicht als unverfälschte Wiedergabe der minoischen Realität erscheinen lassen. Beispielsweise gibt es, anders als gleichzeitig in Ägypten oder im Alten Orient, unter den zahlreichen Gemälden und Statuen keine, die sich eindeutig als Darstellungen konkreter Einzelpersonen, also quasi als Portraits, identifizieren lassen. In den häufigen Fest- und Alltagsszenen, die es stattdessen gibt, agieren meist nur junge Erwachsene – Kinder sind selten, ältere Menschen gar nicht abgebildet. Die Gründe dafür sind unklar.

Nicht nur deshalb ist die moderne Rezeption der minoischen Kunst und auch anderer Funde oft stark von Spekulationen geprägt. Seinen Teil dazu beigetragen hat Arthur Evans, der Ausgräber von Knossos, dessen Rekonstruktionen eher phantasievoll waren. Panagiotopoulos verteufelt ihn dennoch nicht, sondern zeigt bei aller Kritik auf, dass Evans durchaus viel leistete und nicht unbedingt wild fabulierte, sondern von seiner Zeit und seinem Bildungshintergrund geprägte Schlüsse zog.

Wie leicht das auch mit dem heutigen erweiterten Kenntnisstand geschehen kann, demonstriert der Autor anhand eines Wandgemäldes, das prominent Frauen in Szene setzt: Je nachdem, wie man sie sehen möchte, könnten sie von Würdenträgerinnen und Priesterinnen einer eher matriarchal geprägten Gesellschaft bis hin zu Haremsdamen in einem extremen Patriarchat so gut wie alles sein. Was man selbst an die bronzezeitlichen Zeugnisse heranträgt, prägt deren (vermeintliche) Aussage, dafür hat Panagiotopoulos einen wachen Blick. Entsprechend vorsichtig fallen auch seine eigenen Überlegungen aus, die oft eher Möglichkeiten aufzeigen, als in Stein gemeißelt zu erscheinen. Nur an wenigen Stellen wagt er unbelegbare Vermutungen, so etwa in der Deutung des in der minoischen Kunst oft wiedergegebenen Stiersprungs, der für ihn weder Initiationsritual noch Mythos, sondern ein wiederholter Akt der Selbstdarstellung der jungen, männlichen Angehörigen der kretischen Elite ist.

Abgesehen von hochinteressanten Informationen über Archäologie und Forschungsgeschichte des minoischen Kreta bietet das Buch daher auch ein überzeugendes Plädoyer dafür, sich im Umgang mit der Vergangenheit der Subjektivität von Rezeption und der eigenen Rezipientenrolle stets bewusst zu bleiben. Lesenswert ist es daher nicht nur für diejenigen, die sich mit der kretischen Bronzezeit beschäftigen möchten, sondern generell für alle, denen vor- und frühgeschichtliche Kulturen am Herzen liegen.

Diamantis Panagiotopoulos: Das minoische Kreta. Abriss einer bronzezeitlichen Inselkultur. Stuttgart, W. Kohlhammer, 2021, 312 Seiten.
ISBN: 978-3-17-021269-5


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Von Raben und Krähen

Rabenvögel sind bei manchen Menschen eher unbeliebt – sehr zu Unrecht, wie Britta Teckentrup findet, die in Von Raben und Krähen die faszinierenden Vögel kenntnisreich und voller Sympathie porträtiert. Dabei besticht das Buch durch seine wunderschönen, oft ganzseitigen Illustrationen und seine insgesamt gelungene Gestaltung (begonnen schon mit der Rückseite, auf der zwei Krähen munter den Barcode auseinandernehmen). Der künstlerische Anteil beschränkt sich aber nicht auf das Äußerliche, denn der Text umfasst neben interessanten biologischen und kulturhistorischen Fakten auch eine Sammlung literarischer Auftritte von Raben und Krähen.

Der Sachbuchteil kommt leicht und locker, aber nicht anspruchslos daher und vermittelt auf unterhaltsame Weise alle möglichen Informationen über Raben und Krähen, von ihrer Kommunikation über ihr Verhalten, ihre Lernfähigkeit und ihre Problemlösungsstrategien bis hin zu ihren Gefühlen (soweit diese für Menschen zu erschließen sind) – denn auch Rabenvögel können trauern und sind übrigens auch weitaus bessere Eltern, als die abfällige Bezeichnung „Rabeneltern“ erst einmal vermuten lassen könnte. Nebenbei werden auch noch kurz verschiedene Rabenvögel vorgestellt. Darunter sind heimische Arten wie der Eichelhäher und die Dohle, aber auch Tiere aus aller Welt, von denen man noch nicht unbedingt etwas gehört hat, wie etwa die Spatelbaumelster oder der Erzrabe.

Ein eigenes Kapitel ist den Raben in der Mythologie gewidmet, in der sie in den verschiedensten Kulturen eine wichtige Rolle spielen, von der Schöpfergestalt über mit Weisheit, Erinnerung und Magie assoziierte kluge Vögel bis hin zu wahren Unglücksboten, die als Aasfresser für Tod und Verderben stehen und darum nichts Gutes verheißen.

Die liebevoll zusammengetragenen literarischen Texte schließlich decken ein breites Spektrum ab, vom Raben in der Fabel bei Äsop über Märchen und Gedichte bis hin zu dem leider so tragisch endenden Hans Huckebein von Wilhelm Busch.

Zum Abschluss wird noch einmal die Beziehung zwischen Rabenvögeln und Menschen in den Blick genommen, die trotz aller Vorurteile eng ist (nicht nur, was Kuriosa wie die Raben im Londoner Tower betrifft): So sind gerade Krähen als Kulturfolger in vielen großen Städten vertreten, und man erfährt ein paar verblüffende Details darüber, wie sie sich in Berlin, New York und Tokio mit dem urbanen Leben arrangiert haben.

Ein Buch, um wissenschaftlich tief in das Thema einzusteigen, ist Von Raben und Krähen zwar nicht, aber eine anregende und in jeder Hinsicht liebevoll gestaltete Möglichkeit, etwas über Rabenvögel zu erfahren. Für alle Fans von Raben und Krähen ist dieses literarische Schmuckstück ohnehin ein Hochgenuss und wärmstens zu empfehlen.

Britta Teckentrup: Von Raben und Krähen. Berlin, Jacoby & Stuart, 2021, 164 Seiten.
ISBN: 978-3-96428-089-3


Genre: Kunst und Kultur, Sachbuch allgemein

Notre-Dame

Die Kathedrale Notre-Dame in Paris, deren Brand 2019 weltweit Entsetzen auslöste, ist zwar ein katholisches Gotteshaus, aber das Gebäude an sich gehört dem Staat. Diese eigentümliche Situation geht auf die Französische Revolution zurück, passt aber gar nicht schlecht zur Geschichte des Bauwerks, das neben seiner religiösen Funktion immer auch der weltlichen Repräsentation diente.

Dieser Doppelrolle, die nicht erst in unserer Zeit noch um eine dritte als Touristenmagnet zu ergänzen ist, spürt Thomas W. Gaehtgens in Notre-Dame. Geschichte einer Kathedrale nach. Er möchte sein Buch dabei ausdrücklich nicht als Führer durch die Kathedrale verstanden wissen, sondern strebt bei aller Liebe zum Detail in der Architekturschilderung ein umfassenderes Bild an, das auch entscheidende historische Ereignisse und Entwicklungen mit einbezieht. Ausgangspunkt seiner lebendigen Betrachtung ist denn auch nicht der Baubeginn der heutigen Kathedrale 1163, sondern ihre Bedeutung beim Herrschaftsantritt der mittelalterlichen französischen Könige, die zwar in Reims gekrönt wurden, aber vor dem Hauptportal von Notre-Dame der Kirche einen Schwur leisten mussten.

Das erste Kapitel, Die gotische Kathedrale, ist dennoch im Wesentlichen eine Baugeschichte der mittelalterlichen Substanz Notre-Dames. Bei der Lektüre empfiehlt es sich, ein Architekturwörterbuch in greifbarer Nähe zu haben, denn für ein Buch mit dem für die Reihe C. H. Beck Wissen typischen Einführungscharakter werden hier doch recht viele Fachbegriffe vorausgesetzt und nicht im Text selbst oder in einem Glossar erläutert.

Im zweiten Abschnitt, Die Kathedrale der Könige, der sich mit der Zeit ab dem 16. Jahrhundert befasst, rückt neben politischen Ereignissen die Innenausstattung der Kathedrale stärker in den Vordergrund. Während durch die Bourbonen veranlasste Umbauten, insbesondere im Zuge der von Ludwig XIII. und seinem Sohn Ludwig XIV. intensiv propagierten, gegenreformatorisch geprägten Marienfrömmigkeit, noch heute zum Teil sichtbar und im allgemeinen Bewusstsein präsent sind, gilt das nicht für die bedeutenden und über Jahrhunderte hinweg unübersehbaren Stiftungen aus bürgerlichen Kreisen – auch aufgrund der Tatsache, dass viel davon zerstört oder zumindest, wie etwa Gemälde namhafter Künstler, im Zuge der Revolution aus der Kirche entfernt wurde.

Die mit dem politischen Umsturz auch für Notre-Dame verbundenen Verwerfungen leiten das dritte Kapitel, Tempel und Kirche der Nation, ein, doch geht es hier im weiteren Verlauf auch um das für die heutige Wahrnehmung des Gebäudes ungemein prägende 19. Jahrhundert, in dem nicht nur Victor Hugos berühmter Roman über die Kathedrale entstand, sondern auch eine weitreichende Restaurierung durch die Architekten Lassus und Viollet-le-Duc vorgenommen wurde. Insbesondere das heute oft kritisierte Vorgehen des Letzteren, der recht frei eigene Ergänzungen vornahm und in der Hoffnung auf die Wiederherstellung eines vermeintlichen Originals historisch gewachsene Bauzustände beseitigen ließ, nimmt Gaehtgens dabei vor dem Hintergrund von Forschungsstand und Kunstverständnis seiner Zeit in Schutz.

Das abschließende vierte Kapitel Die Kathedrale der Republik widmet sich der durchaus ironischen Situation, dass Notre-Dame dem eigentlich strikt laizistisch ausgerichteten französischen Staat bis heute als feierlicher Rahmen etwa für die Aufbahrung verstorbener Präsidenten dient – oder besser gesagt bis 2019 diente. Den dadurch notwendig gewordenen Restaurierungs- und Wiederaufbauarbeiten sieht Gaehtgens optimistisch entgegen, da viel Beschädigtes wohl durchaus noch zu retten ist.

An einer Stelle enthält das Buch leider eine Fehlübersetzung: Die französische Bezeichnung einer berühmten Dämonenskulptur, „Le Stryge“, wird auf Deutsch mit „der Streit“ (S. 112) wiedergegeben, während es sich in Wirklichkeit um einen Ausdruck für diese Art von Ungeheuer handelt, so dass es besser „Striga“ hätte heißen sollen.

Abgesehen von solchen Kleinigkeiten liest Notre-Dame sich jedoch gut und bietet auf kleinem Raum eine Fülle hochinteressanter Informationen. Besonders schärft das Buch das Bewusstsein dafür, wie sehr die Kathedrale auch abseits von großen Einschnitten wie der Revolution und dem Brand in jüngster Vergangenheit schon ab der Bauphase ständigen Veränderungen unterworfen war. Auch insgesamt erfährt man viel, was man über Notre-Dame nicht unbedingt weiß – Kuriosa wie eine riesenhafte Christophorus-Statue, die bis ins 18. Jahrhundert im Kirchenschiff aufgestellt war, mit inbegriffen. Nicht nur, aber ganz besonders auch für Mittelalterinteressierte und Frankreichfans lohnt sich daher die Lektüre.

Thomas W. Gaehtgens: Notre-Dame. Geschichte einer Kathedrale. München, C. H. Beck, 2020, 128 Seiten.
ISBN: 978-3-406-75048-9


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Journeys

Insbesondere als Tolkien-Illustratorin ist Jenny Dolfen eine feste Größe, aber auch mit anderen literarischen sowie historischen und mythologischen Themen hat sie sich schon künstlerisch auseinandergesetzt. In Journeys. Artbook 2015 – 2019 stellt sie eine Auswahl aus ihrem Schaffen in dem erwähnten Zeitraum mit berührenden und interessanten, immer wieder aber auch humorvollen Begleittexten zusammen. Das ist optisch traumhaft schön (mit einem Hauch von Art Nouveau), in Wort und Bild oft wunderbar nerdig und alles in allem ein großes Lese- und Schauvergnügen.

Hauptattraktion sind natürlich die Zeichnungen und Aquarelle selbst, die, oft ganzseitig, in guter Bildqualität reproduziert sind und bestechend lebendig wirken. Die Sujets sind oft Tolkiens Werken entnommen und reichen von dramatischen Schlachtenszenen bis hin zu sensiblen Figurenstudien (gerade Fans der Söhne Feanors dürften hier voll auf ihre Kosten kommen). Aber auch andere fiktive Welten haben Anregungen geliefert (z.B. Star Wars). Daneben findet man viel Mythologie (vor allem keltische), aber auch zarte, spontane Skizzen von Reisen (ganz entzückend z.B. die eines Rotkehlchens aus Glastonbury, wie ohnehin Vögel aller Art ein wiederkehrendes Motiv auf vielen Bildern sind).

Wie schon bei Jenny Dolfens empfehlenswertem Roman Darkness over Cannae macht es großen Spaß, in ihren Bildern auf die Suche nach Einzelheiten zu gehen. So taucht etwa in einer eindrucksvollen Darstellung durch die Luft reitender Walküren ein sehr authentisch wirkendes spätantikes Drachenfeldzeichen auf (nicht unähnlich z.B. dem Fund von Niederbieber und doch etwas ganz Eigenes). Genauso nett ist es, auf einem Bild des Helden Tuor aus Tolkiens Silmarillion als Schmuckelement an den Ärmeln seiner Tunika ein Wellenornament zu entdecken, das eine gewisse Hokusai-Inspiration nicht verleugnen kann und gut dazu passt, dass in Tuors Geschichte das Meer und mit ihm assoziierte höhere Mächte eine zentrale Rolle spielen. Ohnehin ist die Detailverliebtheit bei den Kostümen wunderbar, bis hin dazu, dass die Figuren in Tolkiens (früh-)mittelalterlich inspirierter Welt sichtlich wendegenähte Schuhe tragen (hübsch zu erkennen etwa auf dem Bild As little might be thought). Umso lustiger ist es, wenn die Künstlerin für Tolkiens Ostlinge einmal ganz bewusst vom Hörnerhelm bis zur zottigen Pelzgarderobe alles auffährt, was es an ahistorischen Barbarenklischees in der Populärkultur so gibt – und die Reaktion darauf schildert, dass manche Leute darin Wikinger als Vorbild zu erkennen meinen …

Bei allem Witz und Humor ist es aber doch eine sehr ernste und betroffen stimmende persönliche Reise, die Jenny Dolfen in ihren englischsprachigen Begleittexten Stück für Stück erzählt. Ein Trauerfall und gesundheitliche Probleme sind nicht ohne Auswirkungen auf ihre Kunst geblieben, und die Einblicke, die sie hier in ihren Umgang mit den Härten des Lebens gestattet, bleiben am Ende stärker im Gedächtnis als die ebenfalls enthaltenen technischen Hinweise (z.B. zur Arbeit mit Bildvorlagen und Modellen, die – im Falle einer Katze – auch schon einmal wenig kooperativ sein können).

Die im Titel versprochenen Journeys, auf die man hier mitgenommen wird, führen also nicht nur in grandios heraufbeschworene fremde Welten, sondern auch in Überlegungen, die einen mitfühlen lassen und einem zum Denkanstoß werden können. Allen Kunst- und Fantasyfans sei das Artbook daher wärmstens ans Herz gelegt.

Jenny Dolfen: Journeys. Artbook 2015 – 2019, o.O. 2019, 100 Seiten.
Ohne ISBN, erhältlich bei Etsy.


Genre: Kunst und Kultur

Geister, Hexen, Menschenfresser

Geister, Hexen, Menschenfresser – der Titel verweist ins Reich der Schauergeschichten, und tatsächlich verspricht der Untertitel von Rudolph Kremers Buch auch Gruselgestalten im alten Rom. Das greift allerdings fast zu kurz, denn auch wenn es unter anderem um Spuk und Fabelwesen geht, spielen auch Aberglauben und Alltagsleben der Antike in die Darstellung mit hinein, die also viel mehr als nur ein Kompendium unheimlicher Imagination bietet.

Mit ein Grund dafür dürfte sein, dass zumindest einige der angekündigten Gruselgestalten gar nicht ausschließlich grausig, sondern eher ambivalent sind. So hängt es nach römischer Überzeugung zum Beispiel bei den Totengeistern, die neben Naturgeistern wie Nymphen und Faunen das erste Kapitel bevölkern, im hohen Maße vom Umgang der Lebenden mit ihnen und den Überresten ihrer Körper ab, ob sie erschreckende Aktivitäten entfalten oder zu wohlwollenden Laren werden, die Schutz und Hilfe bieten.

Auch bei den im Mittelpunkt des zweiten Kapitels stehenden Zauberkundigen, denen in der römischen Literatur alle möglichen Schandtaten bis hin zu grausamen Kinderopfern zugeschrieben werden, ist auf den zweiten Blick eine große Bandbreite feststellbar: Ist es in der Fiktion oft die (weibliche) Hexe, die Böses im Sinn hat, traten im realen Leben Männer wie Frauen als Magieexperten auf, die zwar einerseits oft in die Nähe verachteter Gewerbe wie der Prostitution gerückt wurden, andererseits aber auch positiv konnotierte Dienstleistungen etwa auf dem Gebiet der Heilkunde anboten. Ob man an die Wirksamkeit magischer Praktiken glaubte, war allerdings auch im alten Rom schon Ansichtssache: Skeptische Meinungen sind durchaus überliefert, aber archäologische Funde wie z.B. die zahlreichen Fluchtäfelchen deuten darauf hin, dass viele Menschen dennoch auf Zauberei setzten.

Ohne reale Entsprechung sind Untote, Blutsauger und Menschenfresser, die im dritten Kapitel ihr Unwesen treiben. Anders als heute war manche Monsterrolle dabei geschlechtsspezifisch besetzt: So sind antike Vampire in Gestalt der Empusen, die es auf junge Männer abgesehen haben, weiblich, während man sich Werwölfe männlich vorzustellen hat. Das letzte Kapitel um Riesen und Monster im alten Rom lässt schließlich allerlei Fabel- und Mischwesen auftreten, von denen viele wie z.B. die Sirenen aus der klassischen Mythologie bekannt sind. Doch auch ungewöhnlichere und heutzutage der Allgemeinheit unbekanntere Geschöpfe finden sich hier, so etwa der Leucrocotta, der mit Hirschbeinen, Löwenkörper und Dachskopf ausgestattet ist und mit menschlicher Stimme seine Opfer anlockt – vermutlich, um Rache für auf der Jagd erlegte Wildtiere zu nehmen.

Illustriert ist der Band nicht nur mit Fotos antiker Kunstwerke aller Art (und einzelner mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Bilder, die von Schilderungen aus dem Altertum beeinflusst sind), sondern auch mit modernen Zeichnungen und Gemälden zum Thema, an denen vor allem Pulp-Fans ihre helle Freude haben dürften. Rätselhaft bleibt allerdings, warum als Begleitung zu einer Begebenheit um römische Soldaten und eine drachenhafte Riesenschlange in Afrika ausgerechnet das Foto einer Schlange zum Einsatz kommt, bei der es sich laut Bildunterschrift um eine „Anakonda aus Lateinamerika“ (S. 107) handelt, deren Berührungspunkte mit dem alten Rom ja doch eher gering sein dürften.

Insgesamt aber gelingt es Rudolph Kremer gut, aufzuzeigen, dass schon in römischer Zeit das Verhältnis zu vermeintlichen übernatürlichen Bedrohungen zwischen allgemein menschlichen Ängsten und Spaß am vergnüglichen Grusel (etwa in der Unterhaltungsliteratur oder beim Austausch von Erzählungen beim Gastmahl) changierte. Während die spezifische Ausprägung der besprochenen Spukgestalten in der römischen Kultur verankert war, sind die grundlegenden Tendenzen daher auch für uns Heutige noch nachvollziehbar. Wer Rom also einmal von seiner Nachtseite kennenlernen und ein paar schaurige bis amüsante Geschichten über menschenfressende Drachen oder Politiker bei okkulten Aktivitäten mitnehmen möchte, findet hier die richtige Lektüre.

Rudolph Kremer: Geister, Hexen, Menschenfresser. Gruselgestalten im alten Rom. Darmstadt, Philipp von Zabern (WBG), 2021, 112 Seiten.
ISBN: 978-3-8053-5300-7 (Sonderheft der Zeitschrift „Antike Welt“; ISBN Buchhandelsausgabe: 978-3-8053-5299-4)

 


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Sagas aus der Vorzeit III

Das hier besprochene Buch ist der dritte Band einer Reihe.
Auf Ardeija.de gibt es auch Rezensionen zu Band I und Band II.

Mit den Trollsagas schließen Rudolf Simek und sein Team ihre Neuübersetzung der im Hoch- und Spätmittelalter entstandenen, aber zumeist vor der Besiedlung Islands im 9. Jahrhundert spielenden Sagas aus der Vorzeit ab. Inhaltlich ist die Abgrenzung dieses dritten Teils zu den Wikingersagas des zweiten Bandes nicht ganz einfach, stehen doch in beiden Sagatypen Abenteuerfahrten, Brautwerbungen und oft auch Begegnungen und Konflikte der Helden mit Zauberkundigen und Trollen im Mittelpunkt. Wenn die Trollsagas etwas ganz besonders auszeichnet, dann wohl, dass in ihnen Fiktionalität und Fabulierfreude – oft etwas augenzwinkernd – noch bewusster herausgestrichen werden als in den Wikingersagas, so dass die Texte erkennbar gar nicht darauf angelegt sind, allzu ernst genommen zu werden.

Von der Brutalität der Kämpfe bis hin zur Monstrosität der Trolle ist vieles bis ins Groteske gesteigert, und die Hauptfiguren handeln oft moralisch fragwürdig. Trotz aller eingeflochtenen literarischen Bezüge ist die Zielsetzung erkennbar nicht, altehrwürdige Stoffe respektvoll aufzubereiten. Vielmehr soll gute Unterhaltung geboten werden, und das gelingt häufig durchaus. Atmosphärisch noch am ehesten vergleichbar ist die in einem ähnlichen zeitlichen Kontext entstandene aventiurehafte Dietrichepik, die ebenfalls mit märchenhaften Elementen und gelegentlich etwas boshaftem Humor arbeitet.

Gleich die erste in diesem Band enthaltene Geschichte, die Saga von Sturlaug dem Vielgeplagten, präsentiert einen sich seiner Rolle als Sagaheld sehr bewussten Protagonisten, der eine mit Hintergedanken ausgesprochene Einladung explizit auch deshalb annimmt, weil „unsere Saga kurz“ bliebe (S. 22), wenn er es nicht täte, und sich erfolgreich durch allerlei Abenteuer schlägt.

Sturlaugs Sohn ist der Held der anschließenden Saga von Göngu-Hrolf. Er erleidet ein ähnliches Schicksal wie die Gänsemagd im Grimm’schen Märchen und ist gezwungen, einem Schurken, der sich an seiner Stelle als mächtiger Krieger ausgeben will, Sklavendienste zu leisten. Nicht zuletzt dank der Unterstützung eines toten Königs wendet sich das Blatt jedoch, wobei auch das Pferd Dulcifal eine wichtige Rolle spielt, das – man höre und staune – zur „Gattung der Dromedare“ (S. 59) gehört.

Dagegen hat die Saga von Bosi und Herraud einige ziemlich deftig geschilderte amouröse Abenteuer zu bieten, die man in der maßgeblichen Textausgabe aus dem 19. Jahrhundert lieber herauskürzte. Der Königssohn Herraud und sein Freund Bosi gehen zusammen durch dick und dünn, selbst nachdem Bosi Herrauds Bruder getötet hat und der Todesstrafe nur entgeht, weil seine Ziehmutter den zürnenden König anderenfalls zu verfluchen droht. So bekommt Bosi die Erlaubnis, Wiedergutmachung zu leisten, indem er ein Greifenei beschafft, doch das wird für Herraud und ihn nicht unbedingt einfach.

Gute Freunde werden nach anfänglichem Konflikt auch die Helden der Saga vom einhändigen Egil und dem Berserkertöter Asmund. Beide haben schon eine recht wilde Jugendzeit hinter sich, als sie aufeinandertreffen und dann gemeinsam ausziehen, um zwei entführte Königstöchter zu befreien. Die Trollfrau, deren Hilfe sie dazu benötigen, möchte aber zunächst ihre jeweilige Lebensgeschichte hören und auch ihre eigene zum Besten geben, so dass mehrere kleine Erzählungen in die Rahmenhandlung eingebettet sind.

Auch die Hauptfigur der Saga von Sörli dem Starken freundet sich nach anfänglichem Konflikt mit einer Trollfrau an und kommt weit in der Welt herum (unter anderem in ein sehr exotisches Afrika mit seltsamen katzenäugigen Bewohnern), muss sich nach allem Abenteuern aber vor allem in einem Rachekrieg gegen den Königssohn Högni bewähren.

In Gefilde fern von Europa führt auch die Saga von Hjalmther und Ölver, in der die beiden Titelhelden jedoch von dem zum Schweinehirten herabgewürdigten arabischen Prinzen Hörd alias Hring übertroffen werden, der viel unternehmen muss, um den Fluch zu brechen, mit dem ihm seine zauberkundige Stiefmutter belegt hat. Was die Schilderung von Schwarzen betrifft, ist die Geschichte aus heutiger Sicht leider nicht ohne rassistische Untertöne.

In der Saga von Halfdan, Eysteins Sohn liegt der Schwerpunkt wieder auf Nord- und Osteuropa. Der eroberungslustige König Eystein löst durch einen Feldzug, bei dem das Reich König Hergeirs an sich bringt, eine verwickelte Kampf- und Rachegeschichte aus, in der bald unterschiedliche Personen unter falschem Namen unterwegs sind und der Titelheld Halfdan es mit einer Reihe waldbewohnender Unholde zu tun bekommt, bevor er mit Hergeirs Tochter Ingigerd zusammenfindet und nach langen Auseinandersetzungen endlich Frieden geschlossen werden kann.

Um einen anderen Halfdan dreht sich die Saga von Halfdan, dem Schützling der Brana. Nach einem Wikingerangriff muss der junge Dänenprinz Halfdan zusammen mit seiner Schwester aus seiner Heimat fliehen und gelangt bis nach Nordamerika, wo er sich auf ein Liebesverhältnis mit der Halbtrollin Brana einlässt, die ihn daraufhin auch nach seiner Rückkehr nach Europa bei weiteren Abenteuern und sogar bei der Werbung um eine standesgemäße Ehefrau unterstützt.

Auch in der kurzen Saga von Illugi, dem Schützling der Grid, verschlägt es einen Mann – hier den mit einem Prinzen befreundeten Bauernsohn Illugi – zu einer Trollfrau, doch diese erweist sich, nachdem sie Illugi im Bett ihrer Tochter einer sonderbaren Mutprobe unterzogen hat, als verfluchter Mensch.

Die letzten beiden Sagas des Bandes sind eher untypische Vertreter der Trollsagas, und das nicht nur, weil ihre Handlungszeit weit später liegt als die der üblichen Vorzeitsagas. Vielmehr spielt hier die Bekehrung zum Christentum jeweils die zentrale Rolle. In der Saga von Yngvar dem Weitgereisten missionieren der wohl von einer historischen Persönlichkeit des 11. Jahrhunderts inspirierte Yngvar und später sein Sohn in Russland, während in der Saga von Eirek dem Weitgereisten der zunächst noch heidnische Titelheld mit seinem gleichnamigen Freund nach Byzanz gelangt, zum Christentum konvertiert und eine intensive Jenseitsvision erlebt. Magische Elemente und Fabelwesen haben aber auch diese beiden Geschichten zu bieten.

Wie schon in den ersten Bänden wirken die Übersetzungen frisch und modern, so dass auch dieser dritte Teil eine für ein allgemeines Publikum gut geeignete Leseausgabe und einen würdigen Abschluss der Sagas aus der Vorzeit bildet. Als nettes Extra liegt diesmal ein loses Blatt bei, das auf einer Seite einen Stammbaum einiger der vielfach untereinander verwandten Sagahelden, auf der anderen eine aus dem Weltbild der Sagas rekonstruierte und auch äußerlich vage historisch anmutende Landkarte von Nordeuropa und dem Nordatlantik bietet.

Rudolf Simek, Jonas Zeit-Altpeter, Valerie Broussin (Hrsg. unter Mitwirkung von Maike Hanneck): Sagas aus der Vorzeit. Band III: Trollsagas. Stuttgart, Alfred Kröner Verlag, 2020, 432 Seiten.
ISBN: 978-3-520-61501-5


Genre: Kunst und Kultur, Märchen und Mythen

Sagas aus der Vorzeit II

Das hier besprochene Buch ist der zweite Band einer Reihe.
Die Rezension des ersten Teils ist hier zu finden.

Der zweite Band der von Rudolf Simek und seinem Team neu übersetzten und herausgegebenen Sagas aus der Vorzeit – derjenigen im Hoch- und Spätmittelalter entstandenen Sagas also, die vor der Besiedlung Islands im 9. Jahrhundert spielen – umfasst die sogenannten Wikingersagas, Geschichten, in denen anders als in den Heldensagas überwiegend keine alten Sagenstoffe im Vordergrund stehen, sondern die oft, wenn auch nicht immer weit weniger tragisch ausgehenden Kämpfe, Plünderungszüge und Brautwerbungen abenteuerlustiger Protagonisten.

Den Anfang macht mit der Saga von Thorstein, Vikings Sohn gleich der vielleicht unterhaltsamste Text dieser Gattung. Der Titelheld Thorstein wird durch die Unbedachtheit seines Bruders in eine lange Rachefehde mit dem Königssohn Jökul verstrickt, der dank der Unterstützung des schurkischen Zauberers Ogautan wohl eindeutig im Vorteil wäre, könnte Thorstein seinerseits nicht auf die Hilfe eines dankbaren Zwergs und einer in Trollgestalt verwandelten Prinzessin zählen …

Thorsteins Sohn Fridthjof wiederum ist der Protagonist der relativ kurzen Saga von Fridthjof dem Kühnen, in der er sich um die Hand der Prinzessin Ingibjörg bemüht, deren Brüder aber einiges gegen diese Verbindung einzuwenden haben.

Durch größere Kontraste in Stimmung und Handlung geprägt ist Die Saga von Gautrek oder Saga von Gaben-Ref, in der sich einerseits Düsteres abspielt (so wird z.B. ein König als Menschenopfer an Odin dargebracht, und in einer Familie hat Selbstmord schon geradezu Tradition), andererseits aber auch eine schräg-humorvolle umgekehrte Hans-im-Glück-Geschichte mit einem listigen Jarl quasi in der Rolle eines gestiefelten Katers abläuft, verhilft er doch durch allerlei Winkelzüge dem titelgebenden Gaben-Ref dazu, sich immer wertvolleren Besitz zu ertauschen und gesellschaftlich aufzusteigen.

Die Saga von Hrolf, Gautreks Sohn dagegen stellt wieder das Brautwerbungsmotiv in den Vordergrund. Hrolf und weitere Männer in seinem Umfeld haben es auf Partnerinnen abgesehen, die es ihnen entweder selbst nicht leicht machen (wie etwa die kriegerische Thornbjörg) oder aber aus anderen Gründen nur unter zahlreichen Abenteuern zu erobern sind. Das sorgt für viele Kämpfe, aber auch für einige Situationskomik.

Schwärzer wird der Humor in der von einem Bauernsohn handelnden Saga von Ketil Lachs, denn dieser tötet auch schon einmal einen Spötter mit einem gut gezielten Fischwurf und ist auch sonst zu allen Handgreiflichkeiten bereit, um zu demonstrieren, dass diejenigen, die ihn unterschätzen, sich im Irrtum befinden.

Ketils Sohn Grim ist die zentrale Figur in der anschließenden kurzen Saga von Grim Zottelwange. Grim hat das Pech, dass seine zukünftige Frau kurz vor der Hochzeit spurlos verschwindet, und muss sich mit Trollen und Berserkern auseinandersetzen, bevor sein Leben doch noch eine glückliche Wendung nimmt.

Weitaus umfangreicher und auch tragischer ist Die Saga von Pfeile-Odd, die das Leben von Grims Sohn Odd schildert, der zwar ein großer Bogenschütze ist und im Laufe seiner Abenteuer mehrere Zauberpfeile erringt, aber zugleich mit einer unheilverkündenden Prophezeiung leben muss und sich in eine Dauerfehde mit dem schurkischen Ögmund verstrickt, die einen ganz anderen Ausgang nimmt, als man vielleicht erwarten könnte.

Zu Ketils Nachfahren zählt auch die Hauptfigur der Saga von An Bogenbieger, die das Motiv des unterschätzten und für dumm gehaltenen Jünglings aufgreift, der sich dann doch mit ungeahnter Schläue und äußerster Brutalität durchzusetzen weiß.

In der anschließenden Saga von Hromund, Greips Sohn ist es dagegen ein Grabraub (komplett mit Konflikt mit dem untoten Grabherrn), der sich als entscheidend für den Erfolg des Helden erweist.

Näher am Bereich der Heldensage als die anderen Texte des Buchs ist die letzte enthaltene Geschichte, Die Saga von Asmund Heldentöter, wird doch der darin auftretende Antagonist namens Hildibrand in der Forschung oft mit dem Hildebrand des Hildebrandslieds in Verbindung gebracht (wobei die fiktiven Biographien der beiden Gestalten allerdings merkliche Unterschiede aufweisen). Bevor er Hildibrand gegenübersteht, erlebt der Protagonist Asmund jedoch schon zahlreiche andere Kampfabenteuer.

Allen hier versammelten Wikingersagas ist gemeinsam, dass sich an ihnen klarer als bei den Heldensagas des ersten Teils die Spielregeln der Gattung, der sie angehören, ablesen lassen, wird doch deutlich, wie stark die Verfasser immer wieder aus einem bestimmten Motiv- und auch Namensrepertoire schöpften, um unterhaltsame literarische Abenteuer zu schaffen. An manchen Stellen kann man sich dabei auch fragen, ob den Autoren die antike Sagenwelt vertraut war, denn es finden sich hier und da Anklänge, so z.B. an Odysseus‘ Aufenthalt in der Höhle des Polyphem oder an den Tod des Orest. Diesen Einzelheiten nachzuspüren, macht Vergnügen, aber auch ansonsten sind die Geschichten mit ihrer Mischung aus Dramatik, immer wieder aufblitzendem Humor und gelegentlicher Derbheit heute durchaus noch lesenswert.

Wie bereits im ersten Band liegt auch mit diesem zweiten Teil der Sagas aus der Vorzeit eine zugängliche, moderne Leseausgabe vor, die dank knapper Einleitungen, Glossar und einer dem Weltbild der Sagas angepassten Landkarte die Geschichten allgemeinverständlich erschließt.

Rudolf Simek, Jonas Zeit-Altpeter, Valerie Broussin (Hrsg. unter Mitwirkung von Maike Hanneck): Sagas aus der Vorzeit. Band II: Wikingersagas. Stuttgart, Alfred Kröner Verlag, 2020, 448 Seiten.
ISBN: 978-3-520-61401-8


Genre: Kunst und Kultur, Märchen und Mythen

Der Olymp

Der Olymp ist einerseits ein ganz irdischer Berg in Griechenland, andererseits aber schon seit den Zeiten Homers als Sitz der Götter und insbesondere des Zeus legendenumwoben. Es ist diese Dichotomie zwischen realem Ort und mythischem Idealbild, der der Archäologe Achim Lichtenberger in seinem Buch Der Olymp. Sitz der Götter zwischen Himmel und Erde nachspürt.

Ausgehend von der heute noch immer allgemeinen Bekanntheit des mythischen Olymp, der etwa als werbeträchtiger Namensträger für Produkte herhalten muss, erkundet der Autor zunächst die antiken literarischen und bildlichen Darstellungen des Olymp als Göttersitz, der diesseitigen menschlichen Erfahrungen entrückt blieb und mit dem Himmel assoziiert wurde.

Diesem imaginierten Olymp gegenübergestellt wird der reale Olymp, der, zwischen den Landschaften Thessalien und Makedonien gelegen, mit einer Kultstätte auf einem seiner Nebengipfel durchaus eine religiöse Nutzung erfuhr, aber auch ganz handfest zum Kriegsschauplatz werden konnte und nicht zuletzt eine bedeutende ideologische und politische Rolle spielte. Insbesondere die makedonischen Könige, die gern als Griechen anerkannt sein wollten, nutzten die Nähe des Berges und die mit ihm verbundene Zeusverehrung aus, um sich kulturell zu profilieren.

Die Idee des Olymp als Göttersitz war aber nicht strikt ortsgebunden, sondern auf unterschiedlichste geographische Regionen übertragbar, wie Lichtenberger anhand des etymologisch übrigens bisher nicht eindeutig erklärbaren Bergnamens Olymp nachweist, der auch anderen Bergen beigelegt wurde. Insbesondere, aber nicht nur im östlichen Mittelmeerraum konnten dabei die Olympvorstellung und das verbreitete Phänomen als heilig verehrter oder doch zumindest kultisch genutzter Berge ineinandergreifen. Hier haben dann auch die pagane griechische Religion und das alte Israel ungeahnte Berührungspunkte (wenn sich etwa auf dem Berg Garizim neben der Jahwe-Verehrung der Samaritaner auch ein Kult für Zeus Olympios ansiedelte).

Am Beispiel des Olymp gelingt Lichtenberger so eine überzeugende Charakterisierung der altgriechischen Religion, die zwar einerseits übergreifend einen ganzen Kulturraum prägte, andererseits aber auch immer wieder flexibel regionalen und lokalen Gegebenheiten angepasst werden konnte. Die zunächst mit einem spezifischen realen Berg verknüpfte Vorstellungswelt ließ sich so beliebig verlagern, ergänzen und mit örtlichen Glaubensüberzeugungen verschmelzen.

Die reiche Bebilderung erhöht die Anschaulichkeit des Buchs. Verbesserungswürdig ist in Einzelfällen allerdings die Abbildungsgröße (z.B. ist die Nummerierung der Karte auf S. 120 [Abb. 47], die einen Überblick über die Verbreitung der Bezeichnung „Olymp“ im östlichen Mittelmeerraum bietet, so winzig abgedruckt, dass man schon sehr genau hinsehen muss, um die einzelnen Punkte der Legende zuordnen zu können). Ein umfangreiches Glossar erleichtert Leserinnen und Lesern, die sich mit der Antike und ihrer Mythologie nicht näher auskennen, den Zugang zum Thema. Wer sich nicht nur speziell mit dem Olymp befassen will, kann das Buch daher auch gut als Einstieg nutzen, um zu verstehen, was antike Religiosität auszeichnete und wie sie mit (durchaus auch wechselnden) Orten verbunden sein konnte.

Achim Lichtenberger: Der Olymp. Sitz der Götter zwischen Himmel und Erde. Stuttgart, W. Kohlhammer, 2021, 218 Seiten.
ISBN: 978-3-17-039616-6


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur