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Journeys

Insbesondere als Tolkien-Illustratorin ist Jenny Dolfen eine feste Größe, aber auch mit anderen literarischen sowie historischen und mythologischen Themen hat sie sich schon künstlerisch auseinandergesetzt. In Journeys. Artbook 2015 – 2019 stellt sie eine Auswahl aus ihrem Schaffen in dem erwähnten Zeitraum mit berührenden und interessanten, immer wieder aber auch humorvollen Begleittexten zusammen. Das ist optisch traumhaft schön (mit einem Hauch von Art Nouveau), in Wort und Bild oft wunderbar nerdig und alles in allem ein großes Lese- und Schauvergnügen.

Hauptattraktion sind natürlich die Zeichnungen und Aquarelle selbst, die, oft ganzseitig, in guter Bildqualität reproduziert sind und bestechend lebendig wirken. Die Sujets sind oft Tolkiens Werken entnommen und reichen von dramatischen Schlachtenszenen bis hin zu sensiblen Figurenstudien (gerade Fans der Söhne Feanors dürften hier voll auf ihre Kosten kommen). Aber auch andere fiktive Welten haben Anregungen geliefert (z.B. Star Wars). Daneben findet man viel Mythologie (vor allem keltische), aber auch zarte, spontane Skizzen von Reisen (ganz entzückend z.B. die eines Rotkehlchens aus Glastonbury, wie ohnehin Vögel aller Art ein wiederkehrendes Motiv auf vielen Bildern sind).

Wie schon bei Jenny Dolfens empfehlenswertem Roman Darkness over Cannae macht es großen Spaß, in ihren Bildern auf die Suche nach Einzelheiten zu gehen. So taucht etwa in einer eindrucksvollen Darstellung durch die Luft reitender Walküren ein sehr authentisch wirkendes spätantikes Drachenfeldzeichen auf (nicht unähnlich z.B. dem Fund von Niederbieber und doch etwas ganz Eigenes). Genauso nett ist es, auf einem Bild des Helden Tuor aus Tolkiens Silmarillion als Schmuckelement an den Ärmeln seiner Tunika ein Wellenornament zu entdecken, das eine gewisse Hokusai-Inspiration nicht verleugnen kann und gut dazu passt, dass in Tuors Geschichte das Meer und mit ihm assoziierte höhere Mächte eine zentrale Rolle spielen. Ohnehin ist die Detailverliebtheit bei den Kostümen wunderbar, bis hin dazu, dass die Figuren in Tolkiens (früh-)mittelalterlich inspirierter Welt sichtlich wendegenähte Schuhe tragen (hübsch zu erkennen etwa auf dem Bild As little might be thought). Umso lustiger ist es, wenn die Künstlerin für Tolkiens Ostlinge einmal ganz bewusst vom Hörnerhelm bis zur zottigen Pelzgarderobe alles auffährt, was es an ahistorischen Barbarenklischees in der Populärkultur so gibt – und die Reaktion darauf schildert, dass manche Leute darin Wikinger als Vorbild zu erkennen meinen …

Bei allem Witz und Humor ist es aber doch eine sehr ernste und betroffen stimmende persönliche Reise, die Jenny Dolfen in ihren englischsprachigen Begleittexten Stück für Stück erzählt. Ein Trauerfall und gesundheitliche Probleme sind nicht ohne Auswirkungen auf ihre Kunst geblieben, und die Einblicke, die sie hier in ihren Umgang mit den Härten des Lebens gestattet, bleiben am Ende stärker im Gedächtnis als die ebenfalls enthaltenen technischen Hinweise (z.B. zur Arbeit mit Bildvorlagen und Modellen, die – im Falle einer Katze – auch schon einmal wenig kooperativ sein können).

Die im Titel versprochenen Journeys, auf die man hier mitgenommen wird, führen also nicht nur in grandios heraufbeschworene fremde Welten, sondern auch in Überlegungen, die einen mitfühlen lassen und einem zum Denkanstoß werden können. Allen Kunst- und Fantasyfans sei das Artbook daher wärmstens ans Herz gelegt.

Jenny Dolfen: Journeys. Artbook 2015 – 2019, o.O. 2019, 100 Seiten.
Ohne ISBN, erhältlich bei Etsy.


Genre: Kunst und Kultur

Geister, Hexen, Menschenfresser

Geister, Hexen, Menschenfresser – der Titel verweist ins Reich der Schauergeschichten, und tatsächlich verspricht der Untertitel von Rudolph Kremers Buch auch Gruselgestalten im alten Rom. Das greift allerdings fast zu kurz, denn auch wenn es unter anderem um Spuk und Fabelwesen geht, spielen auch Aberglauben und Alltagsleben der Antike in die Darstellung mit hinein, die also viel mehr als nur ein Kompendium unheimlicher Imagination bietet.

Mit ein Grund dafür dürfte sein, dass zumindest einige der angekündigten Gruselgestalten gar nicht ausschließlich grausig, sondern eher ambivalent sind. So hängt es nach römischer Überzeugung zum Beispiel bei den Totengeistern, die neben Naturgeistern wie Nymphen und Faunen das erste Kapitel bevölkern, im hohen Maße vom Umgang der Lebenden mit ihnen und den Überresten ihrer Körper ab, ob sie erschreckende Aktivitäten entfalten oder zu wohlwollenden Laren werden, die Schutz und Hilfe bieten.

Auch bei den im Mittelpunkt des zweiten Kapitels stehenden Zauberkundigen, denen in der römischen Literatur alle möglichen Schandtaten bis hin zu grausamen Kinderopfern zugeschrieben werden, ist auf den zweiten Blick eine große Bandbreite feststellbar: Ist es in der Fiktion oft die (weibliche) Hexe, die Böses im Sinn hat, traten im realen Leben Männer wie Frauen als Magieexperten auf, die zwar einerseits oft in die Nähe verachteter Gewerbe wie der Prostitution gerückt wurden, andererseits aber auch positiv konnotierte Dienstleistungen etwa auf dem Gebiet der Heilkunde anboten. Ob man an die Wirksamkeit magischer Praktiken glaubte, war allerdings auch im alten Rom schon Ansichtssache: Skeptische Meinungen sind durchaus überliefert, aber archäologische Funde wie z.B. die zahlreichen Fluchtäfelchen deuten darauf hin, dass viele Menschen dennoch auf Zauberei setzten.

Ohne reale Entsprechung sind Untote, Blutsauger und Menschenfresser, die im dritten Kapitel ihr Unwesen treiben. Anders als heute war manche Monsterrolle dabei geschlechtsspezifisch besetzt: So sind antike Vampire in Gestalt der Empusen, die es auf junge Männer abgesehen haben, weiblich, während man sich Werwölfe männlich vorzustellen hat. Das letzte Kapitel um Riesen und Monster im alten Rom lässt schließlich allerlei Fabel- und Mischwesen auftreten, von denen viele wie z.B. die Sirenen aus der klassischen Mythologie bekannt sind. Doch auch ungewöhnlichere und heutzutage der Allgemeinheit unbekanntere Geschöpfe finden sich hier, so etwa der Leucrocotta, der mit Hirschbeinen, Löwenkörper und Dachskopf ausgestattet ist und mit menschlicher Stimme seine Opfer anlockt – vermutlich, um Rache für auf der Jagd erlegte Wildtiere zu nehmen.

Illustriert ist der Band nicht nur mit Fotos antiker Kunstwerke aller Art (und einzelner mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Bilder, die von Schilderungen aus dem Altertum beeinflusst sind), sondern auch mit modernen Zeichnungen und Gemälden zum Thema, an denen vor allem Pulp-Fans ihre helle Freude haben dürften. Rätselhaft bleibt allerdings, warum als Begleitung zu einer Begebenheit um römische Soldaten und eine drachenhafte Riesenschlange in Afrika ausgerechnet das Foto einer Schlange zum Einsatz kommt, bei der es sich laut Bildunterschrift um eine „Anakonda aus Lateinamerika“ (S. 107) handelt, deren Berührungspunkte mit dem alten Rom ja doch eher gering sein dürften.

Insgesamt aber gelingt es Rudolph Kremer gut, aufzuzeigen, dass schon in römischer Zeit das Verhältnis zu vermeintlichen übernatürlichen Bedrohungen zwischen allgemein menschlichen Ängsten und Spaß am vergnüglichen Grusel (etwa in der Unterhaltungsliteratur oder beim Austausch von Erzählungen beim Gastmahl) changierte. Während die spezifische Ausprägung der besprochenen Spukgestalten in der römischen Kultur verankert war, sind die grundlegenden Tendenzen daher auch für uns Heutige noch nachvollziehbar. Wer Rom also einmal von seiner Nachtseite kennenlernen und ein paar schaurige bis amüsante Geschichten über menschenfressende Drachen oder Politiker bei okkulten Aktivitäten mitnehmen möchte, findet hier die richtige Lektüre.

Rudolph Kremer: Geister, Hexen, Menschenfresser. Gruselgestalten im alten Rom. Darmstadt, Philipp von Zabern (WBG), 2021, 112 Seiten.
ISBN: 978-3-8053-5300-7 (Sonderheft der Zeitschrift „Antike Welt“; ISBN Buchhandelsausgabe: 978-3-8053-5299-4)

 


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Sagas aus der Vorzeit III

Das hier besprochene Buch ist der dritte Band einer Reihe.
Auf Ardeija.de gibt es auch Rezensionen zu Band I und Band II.

Mit den Trollsagas schließen Rudolf Simek und sein Team ihre Neuübersetzung der im Hoch- und Spätmittelalter entstandenen, aber zumeist vor der Besiedlung Islands im 9. Jahrhundert spielenden Sagas aus der Vorzeit ab. Inhaltlich ist die Abgrenzung dieses dritten Teils zu den Wikingersagas des zweiten Bandes nicht ganz einfach, stehen doch in beiden Sagatypen Abenteuerfahrten, Brautwerbungen und oft auch Begegnungen und Konflikte der Helden mit Zauberkundigen und Trollen im Mittelpunkt. Wenn die Trollsagas etwas ganz besonders auszeichnet, dann wohl, dass in ihnen Fiktionalität und Fabulierfreude – oft etwas augenzwinkernd – noch bewusster herausgestrichen werden als in den Wikingersagas, so dass die Texte erkennbar gar nicht darauf angelegt sind, allzu ernst genommen zu werden.

Von der Brutalität der Kämpfe bis hin zur Monstrosität der Trolle ist vieles bis ins Groteske gesteigert, und die Hauptfiguren handeln oft moralisch fragwürdig. Trotz aller eingeflochtenen literarischen Bezüge ist die Zielsetzung erkennbar nicht, altehrwürdige Stoffe respektvoll aufzubereiten. Vielmehr soll gute Unterhaltung geboten werden, und das gelingt häufig durchaus. Atmosphärisch noch am ehesten vergleichbar ist die in einem ähnlichen zeitlichen Kontext entstandene aventiurehafte Dietrichepik, die ebenfalls mit märchenhaften Elementen und gelegentlich etwas boshaftem Humor arbeitet.

Gleich die erste in diesem Band enthaltene Geschichte, die Saga von Sturlaug dem Vielgeplagten, präsentiert einen sich seiner Rolle als Sagaheld sehr bewussten Protagonisten, der eine mit Hintergedanken ausgesprochene Einladung explizit auch deshalb annimmt, weil „unsere Saga kurz“ bliebe (S. 22), wenn er es nicht täte, und sich erfolgreich durch allerlei Abenteuer schlägt.

Sturlaugs Sohn ist der Held der anschließenden Saga von Göngu-Hrolf. Er erleidet ein ähnliches Schicksal wie die Gänsemagd im Grimm’schen Märchen und ist gezwungen, einem Schurken, der sich an seiner Stelle als mächtiger Krieger ausgeben will, Sklavendienste zu leisten. Nicht zuletzt dank der Unterstützung eines toten Königs wendet sich das Blatt jedoch, wobei auch das Pferd Dulcifal eine wichtige Rolle spielt, das – man höre und staune – zur „Gattung der Dromedare“ (S. 59) gehört.

Dagegen hat die Saga von Bosi und Herraud einige ziemlich deftig geschilderte amouröse Abenteuer zu bieten, die man in der maßgeblichen Textausgabe aus dem 19. Jahrhundert lieber herauskürzte. Der Königssohn Herraud und sein Freund Bosi gehen zusammen durch dick und dünn, selbst nachdem Bosi Herrauds Bruder getötet hat und der Todesstrafe nur entgeht, weil seine Ziehmutter den zürnenden König anderenfalls zu verfluchen droht. So bekommt Bosi die Erlaubnis, Wiedergutmachung zu leisten, indem er ein Greifenei beschafft, doch das wird für Herraud und ihn nicht unbedingt einfach.

Gute Freunde werden nach anfänglichem Konflikt auch die Helden der Saga vom einhändigen Egil und dem Berserkertöter Asmund. Beide haben schon eine recht wilde Jugendzeit hinter sich, als sie aufeinandertreffen und dann gemeinsam ausziehen, um zwei entführte Königstöchter zu befreien. Die Trollfrau, deren Hilfe sie dazu benötigen, möchte aber zunächst ihre jeweilige Lebensgeschichte hören und auch ihre eigene zum Besten geben, so dass mehrere kleine Erzählungen in die Rahmenhandlung eingebettet sind.

Auch die Hauptfigur der Saga von Sörli dem Starken freundet sich nach anfänglichem Konflikt mit einer Trollfrau an und kommt weit in der Welt herum (unter anderem in ein sehr exotisches Afrika mit seltsamen katzenäugigen Bewohnern), muss sich nach allem Abenteuern aber vor allem in einem Rachekrieg gegen den Königssohn Högni bewähren.

In Gefilde fern von Europa führt auch die Saga von Hjalmther und Ölver, in der die beiden Titelhelden jedoch von dem zum Schweinehirten herabgewürdigten arabischen Prinzen Hörd alias Hring übertroffen werden, der viel unternehmen muss, um den Fluch zu brechen, mit dem ihm seine zauberkundige Stiefmutter belegt hat. Was die Schilderung von Schwarzen betrifft, ist die Geschichte aus heutiger Sicht leider nicht ohne rassistische Untertöne.

In der Saga von Halfdan, Eysteins Sohn liegt der Schwerpunkt wieder auf Nord- und Osteuropa. Der eroberungslustige König Eystein löst durch einen Feldzug, bei dem das Reich König Hergeirs an sich bringt, eine verwickelte Kampf- und Rachegeschichte aus, in der bald unterschiedliche Personen unter falschem Namen unterwegs sind und der Titelheld Halfdan es mit einer Reihe waldbewohnender Unholde zu tun bekommt, bevor er mit Hergeirs Tochter Ingigerd zusammenfindet und nach langen Auseinandersetzungen endlich Frieden geschlossen werden kann.

Um einen anderen Halfdan dreht sich die Saga von Halfdan, dem Schützling der Brana. Nach einem Wikingerangriff muss der junge Dänenprinz Halfdan zusammen mit seiner Schwester aus seiner Heimat fliehen und gelangt bis nach Nordamerika, wo er sich auf ein Liebesverhältnis mit der Halbtrollin Brana einlässt, die ihn daraufhin auch nach seiner Rückkehr nach Europa bei weiteren Abenteuern und sogar bei der Werbung um eine standesgemäße Ehefrau unterstützt.

Auch in der kurzen Saga von Illugi, dem Schützling der Grid, verschlägt es einen Mann – hier den mit einem Prinzen befreundeten Bauernsohn Illugi – zu einer Trollfrau, doch diese erweist sich, nachdem sie Illugi im Bett ihrer Tochter einer sonderbaren Mutprobe unterzogen hat, als verfluchter Mensch.

Die letzten beiden Sagas des Bandes sind eher untypische Vertreter der Trollsagas, und das nicht nur, weil ihre Handlungszeit weit später liegt als die der üblichen Vorzeitsagas. Vielmehr spielt hier die Bekehrung zum Christentum jeweils die zentrale Rolle. In der Saga von Yngvar dem Weitgereisten missionieren der wohl von einer historischen Persönlichkeit des 11. Jahrhunderts inspirierte Yngvar und später sein Sohn in Russland, während in der Saga von Eirek dem Weitgereisten der zunächst noch heidnische Titelheld mit seinem gleichnamigen Freund nach Byzanz gelangt, zum Christentum konvertiert und eine intensive Jenseitsvision erlebt. Magische Elemente und Fabelwesen haben aber auch diese beiden Geschichten zu bieten.

Wie schon in den ersten Bänden wirken die Übersetzungen frisch und modern, so dass auch dieser dritte Teil eine für ein allgemeines Publikum gut geeignete Leseausgabe und einen würdigen Abschluss der Sagas aus der Vorzeit bildet. Als nettes Extra liegt diesmal ein loses Blatt bei, das auf einer Seite einen Stammbaum einiger der vielfach untereinander verwandten Sagahelden, auf der anderen eine aus dem Weltbild der Sagas rekonstruierte und auch äußerlich vage historisch anmutende Landkarte von Nordeuropa und dem Nordatlantik bietet.

Rudolf Simek, Jonas Zeit-Altpeter, Valerie Broussin (Hrsg. unter Mitwirkung von Maike Hanneck): Sagas aus der Vorzeit. Band III: Trollsagas. Stuttgart, Alfred Kröner Verlag, 2020, 432 Seiten.
ISBN: 978-3-520-61501-5


Genre: Kunst und Kultur, Märchen und Mythen

Sagas aus der Vorzeit II

Das hier besprochene Buch ist der zweite Band einer Reihe.
Die Rezension des ersten Teils ist hier zu finden.

Der zweite Band der von Rudolf Simek und seinem Team neu übersetzten und herausgegebenen Sagas aus der Vorzeit – derjenigen im Hoch- und Spätmittelalter entstandenen Sagas also, die vor der Besiedlung Islands im 9. Jahrhundert spielen – umfasst die sogenannten Wikingersagas, Geschichten, in denen anders als in den Heldensagas überwiegend keine alten Sagenstoffe im Vordergrund stehen, sondern die oft, wenn auch nicht immer weit weniger tragisch ausgehenden Kämpfe, Plünderungszüge und Brautwerbungen abenteuerlustiger Protagonisten.

Den Anfang macht mit der Saga von Thorstein, Vikings Sohn gleich der vielleicht unterhaltsamste Text dieser Gattung. Der Titelheld Thorstein wird durch die Unbedachtheit seines Bruders in eine lange Rachefehde mit dem Königssohn Jökul verstrickt, der dank der Unterstützung des schurkischen Zauberers Ogautan wohl eindeutig im Vorteil wäre, könnte Thorstein seinerseits nicht auf die Hilfe eines dankbaren Zwergs und einer in Trollgestalt verwandelten Prinzessin zählen …

Thorsteins Sohn Fridthjof wiederum ist der Protagonist der relativ kurzen Saga von Fridthjof dem Kühnen, in der er sich um die Hand der Prinzessin Ingibjörg bemüht, deren Brüder aber einiges gegen diese Verbindung einzuwenden haben.

Durch größere Kontraste in Stimmung und Handlung geprägt ist Die Saga von Gautrek oder Saga von Gaben-Ref, in der sich einerseits Düsteres abspielt (so wird z.B. ein König als Menschenopfer an Odin dargebracht, und in einer Familie hat Selbstmord schon geradezu Tradition), andererseits aber auch eine schräg-humorvolle umgekehrte Hans-im-Glück-Geschichte mit einem listigen Jarl quasi in der Rolle eines gestiefelten Katers abläuft, verhilft er doch durch allerlei Winkelzüge dem titelgebenden Gaben-Ref dazu, sich immer wertvolleren Besitz zu ertauschen und gesellschaftlich aufzusteigen.

Die Saga von Hrolf, Gautreks Sohn dagegen stellt wieder das Brautwerbungsmotiv in den Vordergrund. Hrolf und weitere Männer in seinem Umfeld haben es auf Partnerinnen abgesehen, die es ihnen entweder selbst nicht leicht machen (wie etwa die kriegerische Thornbjörg) oder aber aus anderen Gründen nur unter zahlreichen Abenteuern zu erobern sind. Das sorgt für viele Kämpfe, aber auch für einige Situationskomik.

Schwärzer wird der Humor in der von einem Bauernsohn handelnden Saga von Ketil Lachs, denn dieser tötet auch schon einmal einen Spötter mit einem gut gezielten Fischwurf und ist auch sonst zu allen Handgreiflichkeiten bereit, um zu demonstrieren, dass diejenigen, die ihn unterschätzen, sich im Irrtum befinden.

Ketils Sohn Grim ist die zentrale Figur in der anschließenden kurzen Saga von Grim Zottelwange. Grim hat das Pech, dass seine zukünftige Frau kurz vor der Hochzeit spurlos verschwindet, und muss sich mit Trollen und Berserkern auseinandersetzen, bevor sein Leben doch noch eine glückliche Wendung nimmt.

Weitaus umfangreicher und auch tragischer ist Die Saga von Pfeile-Odd, die das Leben von Grims Sohn Odd schildert, der zwar ein großer Bogenschütze ist und im Laufe seiner Abenteuer mehrere Zauberpfeile erringt, aber zugleich mit einer unheilverkündenden Prophezeiung leben muss und sich in eine Dauerfehde mit dem schurkischen Ögmund verstrickt, die einen ganz anderen Ausgang nimmt, als man vielleicht erwarten könnte.

Zu Ketils Nachfahren zählt auch die Hauptfigur der Saga von An Bogenbieger, die das Motiv des unterschätzten und für dumm gehaltenen Jünglings aufgreift, der sich dann doch mit ungeahnter Schläue und äußerster Brutalität durchzusetzen weiß.

In der anschließenden Saga von Hromund, Greips Sohn ist es dagegen ein Grabraub (komplett mit Konflikt mit dem untoten Grabherrn), der sich als entscheidend für den Erfolg des Helden erweist.

Näher am Bereich der Heldensage als die anderen Texte des Buchs ist die letzte enthaltene Geschichte, Die Saga von Asmund Heldentöter, wird doch der darin auftretende Antagonist namens Hildibrand in der Forschung oft mit dem Hildebrand des Hildebrandslieds in Verbindung gebracht (wobei die fiktiven Biographien der beiden Gestalten allerdings merkliche Unterschiede aufweisen). Bevor er Hildibrand gegenübersteht, erlebt der Protagonist Asmund jedoch schon zahlreiche andere Kampfabenteuer.

Allen hier versammelten Wikingersagas ist gemeinsam, dass sich an ihnen klarer als bei den Heldensagas des ersten Teils die Spielregeln der Gattung, der sie angehören, ablesen lassen, wird doch deutlich, wie stark die Verfasser immer wieder aus einem bestimmten Motiv- und auch Namensrepertoire schöpften, um unterhaltsame literarische Abenteuer zu schaffen. An manchen Stellen kann man sich dabei auch fragen, ob den Autoren die antike Sagenwelt vertraut war, denn es finden sich hier und da Anklänge, so z.B. an Odysseus‘ Aufenthalt in der Höhle des Polyphem oder an den Tod des Orest. Diesen Einzelheiten nachzuspüren, macht Vergnügen, aber auch ansonsten sind die Geschichten mit ihrer Mischung aus Dramatik, immer wieder aufblitzendem Humor und gelegentlicher Derbheit heute durchaus noch lesenswert.

Wie bereits im ersten Band liegt auch mit diesem zweiten Teil der Sagas aus der Vorzeit eine zugängliche, moderne Leseausgabe vor, die dank knapper Einleitungen, Glossar und einer dem Weltbild der Sagas angepassten Landkarte die Geschichten allgemeinverständlich erschließt.

Rudolf Simek, Jonas Zeit-Altpeter, Valerie Broussin (Hrsg. unter Mitwirkung von Maike Hanneck): Sagas aus der Vorzeit. Band II: Wikingersagas. Stuttgart, Alfred Kröner Verlag, 2020, 448 Seiten.
ISBN: 978-3-520-61401-8


Genre: Kunst und Kultur, Märchen und Mythen

Der Olymp

Der Olymp ist einerseits ein ganz irdischer Berg in Griechenland, andererseits aber schon seit den Zeiten Homers als Sitz der Götter und insbesondere des Zeus legendenumwoben. Es ist diese Dichotomie zwischen realem Ort und mythischem Idealbild, der der Archäologe Achim Lichtenberger in seinem Buch Der Olymp. Sitz der Götter zwischen Himmel und Erde nachspürt.

Ausgehend von der heute noch immer allgemeinen Bekanntheit des mythischen Olymp, der etwa als werbeträchtiger Namensträger für Produkte herhalten muss, erkundet der Autor zunächst die antiken literarischen und bildlichen Darstellungen des Olymp als Göttersitz, der diesseitigen menschlichen Erfahrungen entrückt blieb und mit dem Himmel assoziiert wurde.

Diesem imaginierten Olymp gegenübergestellt wird der reale Olymp, der, zwischen den Landschaften Thessalien und Makedonien gelegen, mit einer Kultstätte auf einem seiner Nebengipfel durchaus eine religiöse Nutzung erfuhr, aber auch ganz handfest zum Kriegsschauplatz werden konnte und nicht zuletzt eine bedeutende ideologische und politische Rolle spielte. Insbesondere die makedonischen Könige, die gern als Griechen anerkannt sein wollten, nutzten die Nähe des Berges und die mit ihm verbundene Zeusverehrung aus, um sich kulturell zu profilieren.

Die Idee des Olymp als Göttersitz war aber nicht strikt ortsgebunden, sondern auf unterschiedlichste geographische Regionen übertragbar, wie Lichtenberger anhand des etymologisch übrigens bisher nicht eindeutig erklärbaren Bergnamens Olymp nachweist, der auch anderen Bergen beigelegt wurde. Insbesondere, aber nicht nur im östlichen Mittelmeerraum konnten dabei die Olympvorstellung und das verbreitete Phänomen als heilig verehrter oder doch zumindest kultisch genutzter Berge ineinandergreifen. Hier haben dann auch die pagane griechische Religion und das alte Israel ungeahnte Berührungspunkte (wenn sich etwa auf dem Berg Garizim neben der Jahwe-Verehrung der Samaritaner auch ein Kult für Zeus Olympios ansiedelte).

Am Beispiel des Olymp gelingt Lichtenberger so eine überzeugende Charakterisierung der altgriechischen Religion, die zwar einerseits übergreifend einen ganzen Kulturraum prägte, andererseits aber auch immer wieder flexibel regionalen und lokalen Gegebenheiten angepasst werden konnte. Die zunächst mit einem spezifischen realen Berg verknüpfte Vorstellungswelt ließ sich so beliebig verlagern, ergänzen und mit örtlichen Glaubensüberzeugungen verschmelzen.

Die reiche Bebilderung erhöht die Anschaulichkeit des Buchs. Verbesserungswürdig ist in Einzelfällen allerdings die Abbildungsgröße (z.B. ist die Nummerierung der Karte auf S. 120 [Abb. 47], die einen Überblick über die Verbreitung der Bezeichnung „Olymp“ im östlichen Mittelmeerraum bietet, so winzig abgedruckt, dass man schon sehr genau hinsehen muss, um die einzelnen Punkte der Legende zuordnen zu können). Ein umfangreiches Glossar erleichtert Leserinnen und Lesern, die sich mit der Antike und ihrer Mythologie nicht näher auskennen, den Zugang zum Thema. Wer sich nicht nur speziell mit dem Olymp befassen will, kann das Buch daher auch gut als Einstieg nutzen, um zu verstehen, was antike Religiosität auszeichnete und wie sie mit (durchaus auch wechselnden) Orten verbunden sein konnte.

Achim Lichtenberger: Der Olymp. Sitz der Götter zwischen Himmel und Erde. Stuttgart, W. Kohlhammer, 2021, 218 Seiten.
ISBN: 978-3-17-039616-6


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Sagas aus der Vorzeit I

Die im Hoch- und Spätmittelalter auf Island entstandenen Sagas sind von der literarischen Genrezuordnung her am ehesten mit historischen Romanen zu vergleichen, allerdings mit teils größerem, teils kleinerem phantastischen und märchenhaften Einschlag. Eine besondere Gruppe unter ihnen bilden die sogenannten Sagas aus der Vorzeit (Fornaldarsögur), die überwiegend in der Völkerwanderungszeit und frühen Wikingerzeit bis zur Besiedlung Islands im 9. Jahrhundert spielen. Bei Kröner ist vor kurzem eine neue dreibändige Ausgabe dieser Sagas erschienen, deren hier besprochener erster Band die Untergruppe der Heldensagas präsentiert. Ein kurzes Vorwort führt in die Gattung und die gewählten Übersetzungsprinzipien ein, und jedem einzelnen Text ist eine knappe Einleitung vorangestellt, die eine zeitliche und inhaltliche Einordnung vornimmt.

Rudolf Simek, der als Mitherausgeber fungiert und auch einige Übersetzungen beigesteuert hat, ist natürlich eine feste Größe, wenn es um Altnordisches aller Art geht. Aber das Besondere an dem Buch ist, dass die übrigen Beteiligten bei Simek in Bonn studieren oder promovieren. Dass hier einmal nicht nur langjährig in der Wissenschaft Etablierte für Übersetzungen und Erläuterungen verantwortlich waren, tut der Qualität keinen Abbruch, im Gegenteil: Herausgekommen ist bei dem Projekt eine frische, moderne Leseausgabe, die keinen unnötig altertümelnden Sprachstil pflegt, sondern die Sagas für ein breites Publikum erschließt. Nur ganz selten hat man den Eindruck, dass eine Formulierung vielleicht etwas zu umgangssprachlich geraten ist.

Welche Texte sind nun hier versammelt?

Den Anfang macht Die Saga von Hrolf Kraki und seinen Kämpen, in der es um den dänischen König Hrolf und seine Gefolgsleute geht, unter denen besonders der zauberkundige Held Bödvar Bjarki hervorsticht. Der einer inzestuösen Beziehung entstammende Hrolf begeht den Fehler, den verkleideten Odin zu kränken, was schlimme Folgen nach sich zieht.

Die Saga von den Völsungen genießt als altnordische Ausgestaltung des Nibelungenstoffs einen hohen Bekanntheitsgrad und fällt insgesamt durch eine selbst für Sagaverhältnisse bemerkenswerte Grausamkeit auf. Hier wird ohne Unterlass selbst innerhalb von Familien munter gemordet, so dass es fast ein Wunder ist, dass am Ende immerhin noch Aslaug überlebt, die Tochter des dem Siegfried der deutschen Versionen der Geschichte entsprechenden Sigurd.

Aslaug bildet das Verbindungsglied zur Saga von Ragnar Lodbrok und seinen Söhnen, die als Inspiration für die populäre TV-Serie Vikings gedient hat und hier ergänzt um zwei Varianten des Stoffs – Die Geschichte von Ragnars Söhnen sowie Das Gedicht der Kraka – veröffentlicht wird. In dieser Saga heiratet Aslaug den abenteuerlustigen Wikinger Ragnar und hat mit ihm eine ganze Anzahl von Söhnen, die sich wie ihre Eltern kriegerisch hervortun und vor allem Rache für den Tod ihres Vaters in England nehmen. Teilweise basieren die handelnden Personen auf historischen Gestalten, auch wenn die ihnen zugeschriebenen Erlebnisse fiktiv (oder zumindest stark durch die Fiktion überformt) sind.

Die Geschichte von Norna-Gest führt in ihrer Rahmenhandlung in eine für den Kontext dieses Bandes relativ späte Epoche, nämlich ins 10. Jahrhundert an den Hof des christlichen Königs Olaf Tryggvason. Bei diesem erscheint eines Tages der geheimnisvolle Titelheld, der erst nach und nach preisgibt, dass er weitaus älter ist, als man ihm ansieht, und daher so manches selbst miterlebt hat, was die Zeitgenossen nur noch aus sagenhafter Überlieferung kennen.

Das inzwischen in Skandinavien angekommene Christentum spielt auch in der kurzen Geschichte von Sörli eine wichtige Rolle, können doch hier zwei verfluchte Könige, die mit ihren Kriegerscharen auf Odins Wunsch hin von Freyja in einen immerwährenden Konflikt getrieben worden sind, nur durch einen Christen endgültig getötet und damit aus ihrem traurigen Dasein erlöst werden.

Eine ferne Vergangenheit schildert dagegen Die Saga von Hervör und König Heidrek, in der mit Goten und Hunnen Gruppierungen aus der Völkerwanderungszeit aktiv werden. Ein König zwingt zwei Zwerge, ihm das magische Schwert Tyrfing zu schmieden, doch die Zwerge rächen sich, indem sie die Waffe verfluchen. Tatsächlich bringt Tyrfing der Familie reichlich Unglück, und erst, als das Schwert mit Angantyr, dem Enkel des ersten Besitzers, in ein Hügelgrab gebettet wird, scheint die Gefahr gebannt. Doch Angantyrs kriegerische Tochter Hervör ruht nicht, bis sie sich das Schwert gesichert hat, und damit beginnt das Verhängnis von neuem.

Mit etwas kompliziert anmutenden genealogischen Reihungen setzt als letzter Text der Sammlung Die Saga von Half und seinen Helden ein. Der titelgebende König findet nach jahrelangem Wikingerdasein durch die Hinterlist eines Vasallen den Tod, aber überlebende Gefolgsleute nehmen Rache, und Halfs Nachfahren wandern später nach Island aus.

Die Sagas bestechen auch dank der auf eine heutige Leserschaft zugeschnittenen Übersetzung durch eine für mittelalterliche Literatur nicht immer selbstverständliche unmittelbare Zugänglichkeit. Zusatzinformationen liefern ein Glossar, ein Register und eine nicht nach modernen geographischen Kriterien, sondern nach dem den Sagas zu entnehmenden Weltbild erstellte Landkarte. Dank der gelungenen Satz- und Covergestaltung durch Denis Krnjaić ist das Buch auch äußerlich ein kleines Schmuckstück. Insgesamt bildet es für alle Interessierten eine gute Möglichkeit, einen ersten Einstieg in die Welt der Sagas zu finden.

Rudolf Simek, Jonas Zeit-Altpeter, Valerie Broustin (Hrsg.): Sagas aus der Vorzeit. Von Wikingern, Berserkern, Untoten und Trollen. Band I: Heldensagas. Stuttgart, Kröner, 2020, 360 Seiten.
ISBN: 978-3-520-61301-1


Genre: Kunst und Kultur, Märchen und Mythen

Das Münchner Buch der ägyptischen Kunst

Das Staatliche Museum Ägyptischer Kunst in München verfügt über eine umfangreiche und qualitätvolle Sammlung von Kunstwerken aller Epochen der altägyptischen Geschichte von den Anfängen bis zur Spätantike. Anlässlich des Umzugs des Museums in einen Neubau 2013 wurde Das Münchner Buch der ägyptischen Kunst veröffentlicht, das nicht nur die schönsten Stücke vorstellt, sondern auch eine kleine Kunstgeschichte des Alten Ägypten bildet, die mit dem Vorurteil einer über Jahrtausende statischen Tradition aufräumt und ferne Zeiten für ein allgemeines Publikum frisch und lebendig heraufbeschwört.

Ausgangspunkt ist ein Kapitel zu den Grundlagen der ägyptischen Kunst, in dem neben ihrem speziellen Raumverständnis auch die wichtigsten Relief- und Statuenformen knapp vorgestellt werden, da die meisten erhaltenen Kunstwerke zu diesen beiden Bereichen gehören. Chronologisch geordnet folgen dann vierzehn Abschnitte, in denen jeweils eine Epoche der ägyptischen Kunstgeschichte behandelt wird. Die Überschrift bildet dabei jedes Mal ein eingängiges Adjektiv, das ein Charakteristikum des gerade betrachteten Zeitabschnitts besonders hervorhebt: Von Neugierig gelangt man so über Klassisch, Staatstragend und Historistisch irgendwann zu Neugeboren.

Da Kunst und Ereignisgeschichte nicht isoliert voneinander zu betrachten sind, erfährt man ganz nebenbei auch das Wichtigste über Aufstieg und Fall des Pharaonenreichs und über bedeutende historische Persönlichkeiten. Ägypten wird dabei nicht als isoliertes Staatsgebilde gezeichnet, sondern erscheint vielmehr als Schnittstelle zwischen den Kulturen: Einflüsse aus dem Sudan, Vorderasien und Mesopotamien sowie später Griechenland und Rom wurden aufgenommen, aber umgekehrt wirkte auch die ägyptische Kunst immer wieder auf die der benachbarten geographischen Räume. Welche stilistischen Veränderungen nicht nur dadurch entstanden und wie oft auch renaissancehaft auf die künstlerischen Ausdrucksformen vermeintlich besserer vergangener Zeiten zurückgegriffen wurde, wird in Wort und Bild sehr anschaulich verdeutlicht. Faszinierend ist daran auch, dass in frühchristlicher Zeit eine Entkoppelung von Ikonographie und bisherigen Inhalten stattfand: Das einst den alten Göttern vorbehaltene Anch als Zeichen des Lebens konnte nun die christliche Auferstehung symbolisieren, und die Formensprache von Isisstatuen floss in Madonnenbilder ein.

Obwohl es über die Jahrhunderte hinweg eine nur selten vernachlässigte Besonderheit ägyptischer Kunst blieb, auf die Darstellung heftiger Gefühle und intensiver Übergangssituationen (wie Geburt oder Sterben) größtenteils zu verzichten, verraten die besprochenen Werke nicht nur etwas über die Summe der Gesellschaft, der sie entstammen, sondern machen immer wieder selbst abseits des Königshauses auch Einzelschicksale fassbar. So schildert etwa eine Inschrift auf der Würfelstatue, die der Hohepriester Bekenchons als Achtzigjähriger für sich umarbeiten ließ, seine Karriere vom Tempelstallburschen bis hin zum höchsten geistlichen Würdenträger.

Hervorzuheben ist die exzellente Qualität der Abbildungen. Einzelne Kunstwerke sind sogar aus mehreren Perspektiven fotografiert, um auch die Rückseite zeigen zu können oder Details noch einmal besonders herauszustellen. Obwohl ein Blick ins Buch einen Museumsbesuch und das direkte Betrachten eines Originals natürlich nicht ersetzen kann, ist hier also das Bemühen erkennbar, die Nachteile einer zweidimensionalen Wiedergabe nach besten Kräften auszugleichen. Nicht zuletzt deshalb ist die hier gebotene Einführung in die ägyptische Kunst optisch wie inhaltlich voll und ganz gelungen.

Sylvia Schoske, Dietrich Wildung: Das Münchner Buch der ägyptischen Kunst. München, C. H. Beck, 2013, 204 Seiten.
ISBN: 978-3-406-64528-0


Genre: Kunst und Kultur

Reise zum Ursprung der Welt

Heliopolis, am Südostrand des Nildeltas gelegen, war jahrtausendelang ein bedeutendes Heiligtum. Anders als bei den bekannten oberägyptischen Tempeln ist von aller Pracht und Herrlichkeit jedoch bis auf einen einzigen noch aufrecht stehenden Obelisken wenig offen Sichtbares erhalten geblieben. Heute liegt Heliopolis in der Millionenmetropole Kairo und ist nicht nur von modernen Baumaßnahmen, sondern auch von einem steigenden Grundwasserspiegel bedroht. Das klingt zunächst einmal eher unspektakulär, doch mit dem Urteil läge man falsch, wie Dietrich Raue in Reise zum Ursprung der Welt beweist. Mit der Darstellung der Geschichte von Heliopolis und der neueren Ausgrabungen dort, die vor allem durch die Auffindung einer Kolossalstatue Psammetichs I. 2017 mediale Aufmerksamkeit fanden, ist ihm ein beeindruckendes Buch gelungen, das den Reiz der Ägyptologie über Fachgrenzen hinaus nachempfindbar macht.

Heliopolis (altägyptisch: Junu) galt den alten Ägyptern nicht nur als Ort der Schöpfung oder vielmehr Emanation der Welt durch den Gott Atum, sondern war auch eng mit dem Mythos um Isis, Osiris, Seth und Horus verbunden, einer Geschichte also, die unter anderem von der Durchsetzung rechtmäßiger Erbansprüche gegen eine gewaltsame Usurpation handelt. Dadurch gewann Heliopolis eine zentrale Bedeutung für die Herrschaftslegitimation. Nur ein König, der sich hier überzeugend als Garant der rechten Weltordnung inszenieren konnte, hatte Aussichten, dauerhaft an der Macht zu bleiben. Das ganz irdische Heliopolis war darum von Anfang an auch mit dem Heliopolis der religiösen, politischen und nicht zuletzt auch literarischen Vorstellungswelt verknüpft.

Es ist diese Koppelung der Imagination an einen realen Ort, die Raue im ersten Teil des Buchs – Auf der Suche nach dem Ursprung der Welt – eindringlich heraufbeschwört. Dicht an den Quellen arbeitend, macht er das aus heutiger Sicht oft fremdartig anmutende Weltbild des alten Ägypten mit seiner Fülle von Gottheiten (die auch durchaus schon einmal in Hundertfüßergestalt auftreten konnten) fass- und nachvollziehbar.

Der zweite, unter Mitarbeit von Aiman Ashmawy verfasste Teil – Kleine Geschichte eines großen Tempels – schildert chronologisch die Entwicklung des Tempels von Heliopolis, die schon im 4. Jahrtausend v. Chr. mit der Entstehung einer Siedlung an einem topographisch markanten Punkt begann, an dem es ab dem 3. Jahrtausend ein Heiligtum mit enger Anbindung an das Königshaus gab. Jahrhundertelang verewigten sich hier Pharaonen durch Stiftungen, Statuen und Inschriften oder ließen bauliche Erneuerungen größeren und kleineren Umfangs vornehmen. Wichtig war dabei oft auch der Rückgriff auf ältere Kunststile oder Sprachstufen, um die eigene Verbundenheit zur Tradition zu betonen und das jeweilige Jetzt als eine Art Renaissance einer vermeintlich guten alten Zeit zu präsentieren.

Erst im Hellenismus setzte – vermutlich nach Zerstörungen durch die Perser – der Niedergang von Heliopolis ein. Von der römischen Antike an wurden Kunstwerke wie z.B. Obelisken an andere Orte verschleppt, und die Tempelgebäude dienten als Steinbruch. Noch im islamischen Mittelalter wurden Steine aus Heliopolis in Kairo verbaut, doch zugleich gab es in dieser Zeit erste Stimmen, die sich gegen eine Zerstörung der altägyptischen Bauwerke wandten und ihren Wert als Zeugnisse vergangener Epochen betonten. Das andere, literarische Heliopolis bestand jedoch bis in die Neuzeit fort und wurde immer wieder aktuellen religiösen und ideellen Gegebenheiten angepasst. Beispielsweise existieren örtliche Überlieferungen, die Heliopolis mit dem aus dem Alten Testament bekannten Joseph in Verbindung bringen und ihn gar auf erhaltenen Reliefs dargestellt sehen wollen.

Gerade der schlechte Erhaltungszustand der Stätte, die nur über ein kleines Freilichtmuseum verfügt und nicht zu den großen Touristenattraktionen Ägyptens zählt, bringt sie aber immer wieder mit der umliegenden modernen Großstadt und ihrem Bedarf an Bauland (oder auch an Platz für Müllkippen) in Konflikt, so dass sich die heutigen Ausgrabungen, zu deren Leitern Dietrich Raue zählt, oft schwierig gestalten. Auch die unsicheren politischen Verhältnisse machen den Archäologen ihre Tätigkeit nicht einfacher. Dennoch berichtet Raue mit viel Begeisterung von seinen Forschungsergebnissen und -erlebnissen, oft auch mit merklichem Sinn für Situationskomik (wenn etwa bei der Arbeit mit ausgebüxten Kühen oder Schafbockattacken gerechnet werden muss).

Dank der üppigen Bebilderung und insgesamt gelungenen Gestaltung des Buchs stimmt auch der äußere Rahmen für diesen Ausflug in ferne und jüngere Zeiten, der neben der titelgebenden Reise zum Ursprung der Welt auch eine schrittweise Rückreise ins Heute umfasst und ein großes Lektürevergnügen nicht nur für Archäologiebegeisterte bietet.

Dietrich Raue: Reise zum Ursprung der Welt. Die Ausgrabungen im Tempel von Heliopolis. Unter Mitarbeit von Aiman Ashmawy. Darmstadt, Philipp von Zabern (WBG), 2020, 384 Seiten.
ISBN: 978-3-8053-5252-9


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

The First Fossil Hunters

Fossilien und die griechisch-römische Antike sind zwei Themenkomplexe, die eher selten in einem Atemzug genannt werden. Adrienne Mayor beweist in The First Fossil Hunters jedoch, dass es sich lohnt, der Frage nachzugehen, wie die Menschen des Altertums mit Fossilienfunden umgegangen sind, denn die Spurensuche fördert Interessantes und Überraschendes zutage.

Eine Hürde muss man bis dahin allerdings erst einmal nehmen: In ihrer Einleitung klopft Mayor sich etwas zu ungeniert dafür auf die Schulter, die Wissenschaft diesbezüglich ein gutes Stück vorangebracht zu haben. Hat man diese Selbstbeweihräucherung überstanden, beginnt jedoch eine recht spannende Mischung aus Forschung und persönlicher Entdeckungsreise.

Zum Ausgangspunkt nimmt Mayor den Greifen, ein Mischwesen aus Adler und Raubkatze, das für sie unter den Fabeltieren der Antike eine Sonderstellung einnimmt: Anders als bei Sphinx, Pegasus und anderen vergleichbaren Kreaturen gibt es keine Sagen um einen konkreten Greifen, sondern nur literarische Überlieferungen über angeblich goldhütende Greifen allgemein im asiatischen Raum. Mayor bringt diese Schilderungen mit in derselben geographischen Region offen zutage tretenden Funden von Dinosaurierfossilien der Gattung Protoceratops in Verbindung. Diese Knochen – so ihre spekulative, aber durchaus bestechende These – könnten die im Altaigebiet siedelnden Nomaden zu Geschichten über vierfüßige, aber mit einem Schnabel versehene Tiere, mithin also Greifen, inspiriert haben, eine Fossiliendeutung, die sich dann verselbständigt und bis zu anderen Völkern verbreitet habe.

Während für diese Theorie, deren entscheidender Zwischenschritt von der heute nicht mehr zu belegenden mündlichen Überlieferung einer schriftlosen Kultur abhängt, letztgültige Beweisen fehlen, kann Mayor im Folgenden Texte und paläontologische Funde direkter zusammenbringen, wenn sie untersucht, inwieweit Schriftquellen, die von der Entdeckung ungewöhnlicher Gebeine berichten, tatsächlich von Orten berichten, an denen bis heute immer wieder Überreste von Mammuts, prähistorischen Giraffen oder anderen urzeitlichen Tieren zum Vorschein kommen. Tatsächlich scheint hier die Überschneidung sehr groß zu sein, so dass man davon ausgehen kann, dass Griechen und Römer auf Fossilien stießen und sie im Rahmen ihres Weltbilds zu interpretieren versuchten.

Einige der für übergroße Knochen gefundenen Erklärungen muten nach heutigem Kenntnisstand naiv an (so glaubte man mehrfach, auf die Überreste von Riesen oder hünenhaften Helden der Vorzeit gestoßen zu sein). In anderen Fällen dagegen war man auch in der Antike schon mit Funddeutungen bemerkenswert nahe an der Wahrheit. So verband sich z.B. mit einer Fundstätte von Fossilien prähistorischer Elefantenarten in Griechenland die Sage, der Gott Dionysos habe Elefanten aus Indien dorthin geführt, um sie in den Kampf gegen die Amazonen zu schicken. Hier war man trotz aller mythischen Verbrämung schon sehr nahe daran, das korrekte Tier zu identifizieren.

In manchen Fällen ist sogar archäologisch erwiesen, dass in der Antike Fossilien entdeckt und als etwas Besonderes betrachtet wurden. So wurden etwa auf der griechischen Insel Samos und in Ägypten Fossilien gezielt als Weihegaben in Tempeln deponiert. Einen interessanten indirekten Beleg bildet auch eine Vasenmalerei, die Herakles im Kampf mit einem Monster zeigt, dessen Kopf in der Art eines fossilen Schädels dargestellt ist.

Ein Ausblick auf das umgekehrte Spiel mit Sagen und Fabelwesen – nämlich die antiken wie modernen Versuche, teils mit Fälschungsabsicht, teils nur im Scherz „Beweise“ dafür wie etwa ein vermeintliches Zentaurenskelett zu fabrizieren – beschließt Mayors Blick auf den Umgang mit Fossilien im Altertum, führt aber zugleich schon inhaltlich ein gutes Stück weit davon weg. Insgesamt bieten die First Fossil Hunters aber dennoch anregende Lektüre, die einem Lust darauf macht, tiefer ins Thema einzusteigen.

Adrienne Mayor: The First Fossil Hunters. Dinosaurs, Mammoths, and Myth in Greek and Roman Times. With a new introduction by the author. Princeton und Oxford, Princeton University Press, 2011, 362 Seiten.
ISBN: 978-0-691-15013-0


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Leonardo da Vinci und die Frauen

Der Titel Leonardo da Vinci und die Frauen überrascht auf den ersten Blick, ist von dem bis heute berühmten Renaissancekünstler doch bekannt, dass er homosexuell war und lebenslang unverheiratet blieb. Doch Kia Vahland rückt in ihrer Künstlerbiographie nicht das Privatleben Leonardos in den Vordergrund, sondern vielmehr die Bedeutung, die Frauen für sein Werk und seine Weltsicht hatten.

Während andere Biographen in Leonardo oft primär den Naturforscher, den Erfinder oder aber auch den Zeichner betonen, sind für Vahland seine nur in geringer Zahl erhaltenen Gemälde sein zentrales Vermächtnis, und bei Leonardos gemalten Menschendarstellungen, insbesondere bei seinen Portraits, sind Frauen eindeutig in der Überzahl. Seine Mona Lisa wird als eines der bekanntesten Bilder der Welt an dieser Stelle wohl jedem einfallen, aber sie markiert im Grunde nur den Endpunkt einer langen Entwicklung, die Jahrzehnte zuvor mit Madonnen und ersten Portraits begann.

So sind es neben Leonardo selbst die von ihm gemalten Frauen, denen in diesem Buch Vahlands Hauptaugenmerk gilt: neben der in der Mona Lisa verewigten Kaufmannsgattin Lisa Gherardini die Dichterin Ginevra de’Benci, deren lyrisches Ich sich in einem erhaltenen Gedichtfragment als „Bergtiger“ bezeichnet, die vitale Cecilia Gallerani, die als Geliebte des Herrschers von Mailand, Ludovico Sforza, Karriere machte, und die Unbekannte, die heute unter der irreführenden Bezeichnung La Belle Ferronnière geführt wird und möglicherweise eine weitere Geliebte Ludovicos war.

Die großen und kleinen Geschichten um sie und um Leonardos übrige Gemälde sind eingebettet in ein mit Verve entworfenes Panorama der italienischen Renaissance mit all ihren Licht- und Schattenseiten, vom Florenz der Medici über Mailand und Venedig bis Rom. Vahland schreibt eingängig und frisch, gelegentlich aber zu umgangssprachlich für eine ernsthafte Biographie (Leonardo „macht sein eigenes Ding“, S. 263, Isabella d’Este, die Markgräfin von Mantua, ist sein „größter Fan“, S. 177, Tizian ist ein „Farbrevoluzzer“, S. 193). Darüber mag man den Kopf schütteln, doch man sollte die Lektüre dennoch nicht scheuen, da Vahland – durchaus in dem Bewusstsein, dass jede Leonardo-Deutung zeitbedingt und darum nicht endgültig ist – einige interessante Erweiterungen der gängigen Perspektive vornimmt.

Vahlands zentrale These ist, dass Leonardo den malerischen Blick auf Frauen dauerhaft veränderte, indem er sie als Individuen auf Augenhöhe ernstnahm – vielleicht auch und gerade, weil er in mancherlei Hinsicht zeitlebens ein Außenseiter blieb und darum gängige Zuschreibungen und Rollenbilder stärker zu hinterfragen vermochte als fester in den gesellschaftlichen Traditionen verwurzelte Malerkollegen. Neben dieser Auseinandersetzung mit einzelnen Frauen sieht Vahland in Leonardos Œuvre jedoch auch eine Tendenz, insbesondere die mütterliche, in seinen Madonnenbildern präsente Weiblichkeit mit der Natur und schöpferischen, da lebensspendenden Fähigkeiten zu assoziieren. An dieser Einschätzung müssen sich aus ihrer Sicht daher auch Neuzuschreibungen von Werken an Leonardo messen lassen. Insbesondere die Zuweisung des unter dem Titel La Bella Principessa bekannten, eher konventionell anmutenden Mädchenportraits an Leonardo zweifelt sie daher an.

Gründlicher hätte das Lektorat vorgehen können, da einige Flüchtigkeitsfehler übersehen worden sind. So ist z.B. der im Text beschriebene Bildausschnitt aus Benozzo Gozzolis für die Medici geschaffenen Darstellungen der heiligen drei Könige dieser hier, der Lorenzo de Medici als jugendlichen König auf einem Schimmel zeigt. Aber im Buch abgedruckt (Abb. 7, S. 71) und in der Bildlegende mit der beschriebenen Gestalt identifiziert wird rätselhafterweise der Jäger mit dem Geparden hinter sich im Sattel aus diesem Teil des Bilds.

Kia Vahland: Leonardo da Vinci. Eine Künstlerbiographie. Berlin, Insel Verlag, 2020 (Original: 2019), 348 Seiten.
ISBN: 978-3-458-68113-7

 

 


Genre: Biographie, Kunst und Kultur