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Träume in der Antike

Menschen träumen – das gilt für vergangene Jahrhunderte genauso wie für die heutige Zeit. Wie genau man in der Antike mit dem Phänomen Traum umging, zeigt die Altphilologin Marion Giebel in Träume in der Antike, einer kommentierten Sammlung von Quellen und literarischen Texten, die von den homerischen Epen bis zu Traumschilderungen der Spätantike zeitlich gut ein Jahrtausend abdecken.
Geordnet sind die einzelnen Beispiele jedoch nicht chronologisch, sondern in thematischen Gruppen. Das erste Kapitel nimmt Traumerzählungen aus Epos, Tragödie und Roman in den Blick und zeigt auf, wie antike Autoren von Homer über Vergil bis hin zu Apuleius ihre Figuren träumen ließen. Hier werden im fiktiven Kontext schon all die Funktionen fassbar, die Träume bzw. ihre Wiedergabe auch im realen Leben übernehmen konnten: Wie der zweite Abschnitt Die Träume der Mächtigen beweist, wurden tatsächliche oder nur vorgebliche Träume als Motivation für bestimmte Handlungen, als Vorzeichen oder als Reaktion auf Geschehnisse oft entweder propagandistisch ausgeschlachtet oder aber im Nachhinein zur Deutung historischer Vorgänge herangezogen. Die Quellen lassen erkennen, dass die Interpretation dabei durchaus von Person zu Person schwanken konnte. Während eher skeptische Zeitgenossen eine recht modern anmutende psychologische Perspektive einnahmen und Träume nur als unbewusste Verarbeitung dessen verstanden, was die Schlafenden im Wachzustand beschäftigt hatte, glaubten andere an das Wirken höherer Mächte.
Letztere Annahme steht im Kapitel Weisungen und Aufträge im Traum im Mittelpunkt, in dem sowohl pagane Gottheiten als auch der christliche Gott den träumenden Gläubigen Hinweise oder direkte Befehle zukommen lassen, die sie tunlichst befolgen sollten, um unangenehme Konsequenzen zu vermeiden.
Eine spezifische Form solcher Träume waren die in einem eigenen Abschnitt behandelten Heilträume, in denen insbesondere der Heilgott Asklepios in Erscheinung trat, was man in manchen Fällen durch ein Schlafen im Tempel gezielt herbeizuführen versuchte, um die Behebung eines Leidens zu forcieren.
Das fünfte Kapitel Literarisch ausgestaltete Traumerzählungen schlägt nicht etwa den Bogen zum Anfang des Buchs zurück, sondern betrachtet Träume im Kontext biographischen und autobiographischen Schreibens. Eine letzte Textgattung der Antike, die sich mit Träumen befasste, waren Sachbücher zum Thema, die Giebel in Form von Auszügen Aus der Traumkunst des Artemidor präsentiert. Artemidors Traumdeutungen sind aus heutiger Sicht insofern interessant, als er zwar von einer Zeichenhaftigkeit von Träumen ausging, aber zugleich bereits bestimmte psychologische Mechanismen erkannte.
Alle Texte sind zweisprachig im griechischen bzw. lateinischen Original und in Übersetzung enthalten. Die Übertragung ins Deutsche stammt in vielen Fällen von Giebel selbst, ist manchmal aber auch aus älteren Ausgaben übernommen. Neben einer allgemeinen Einleitung stellt die Herausgeberin auch kurze einführende Texte zu jedem einzelnen Traumbeispiel bereit, die eine (mentalitäts-)historische Einordnung erlauben.
Der Charme des kleinen Buchs besteht aber nicht zuletzt auch darin, dass neben der antiken Lebenswelt, die in den Details der Träume aufscheint, immer wieder auch eine allgemein menschliche Komponente fassbar wird, die auch über die Distanz der Jahrtausende hinweg einen unmittelbaren Zugang zu damaligen Erfahrungen eröffnet. Krankheiten, berufliche wie private Hoffnungen, aber auch Sorgen, Angst und Reue sind trotz aller kultur- und epochenspezifischen Unterschiede heute noch nachvollziehbar, und dass einem im Traum neben Personen und Gegenständen aus dem eigenen Alltag manchmal auch Verrücktes und im wahren Leben Unmögliches erscheint, dürfte jeder schon selbst erlebt haben. So bieten die Träume in der Antike nicht nur eine anregende und geschichtlich interessante Lektüre, sondern auch eine, bei der man sich berühmten wie unbekannten Menschen des Altertums punktuell sehr nahe fühlen kann.

Marion Giebel (Hrsg.): Träume in der Antike. Griechisch / Deutsch, Lateinisch / Deutsch. Stuttgart, Reclam, 2006, 256 Seiten.
ISBN: 978-3150183953


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Löwenmenschen und Schamanen

Lässt sich die materielle Kultur der Vor- und Frühgeschichte dank archäologischer Funde recht gut rekonstruieren, sind wir, was die geistige Welt der damaligen Menschen betrifft, auf Vermutungen angewiesen. Gerade spirituelle Vorstellungswelten erschließen sich oft nicht ohne Weiteres, obwohl man ahnen kann, dass es sie gegeben haben muss. Andrea Zeeb-Lang und Andy Reymann wagen sich in Löwenmenschen und Schamanen also an ein schwieriges Thema, wenn sie versuchen, aus Kunst, Bauwerken, Musikinstrumenten und anderen Objekten der Stein- und Bronzezeit, aber auch aus auffälligen Bestattungen Hinweise auf magische und insbesondere schamanische Praktiken abzuleiten. Da aus der behandelten Zeit selbst naturgemäß keine Schriftquellen existieren, müssen Vergleiche mit späteren Kulturen als Interpretationshilfe herangezogen werden.
Ein Überblick über das Phänomen Magie von der Antike bis heute bildet daher den Einstieg in die Untersuchung. In seiner Knappheit stellt er leider manches sehr verkürzt bis irreführend da (wenn z.B. die eigentlich primär frühneuzeitliche europäische Hexenverfolgung pauschal mit dem Mittelalter und der Inquisition verknüpft wird, entspricht das eher populären Klischees als dem aktuellen wissenschaftlichen Konsens).
Wichtiger für die Argumentation des Buchs ist glücklicherweise die ausführlicher geratene Einführung in die Thematik des Schamanismus, in der deutlich wird, dass bestimmte Erfahrungen und Praktiken kulturübergreifend auftreten: So ist etwa die Wahrnehmung geometrischer Formen in der ersten Phase der Trance weltweit belegt, und man kann davon ausgehen, dass auch schon steinzeitliche Schamanen ähnliche Eindrücke hatten. Auch das Gefühl, sich in ein Tier zu verwandeln, tritt in veränderten Bewusstseinszuständen bei Menschen der verschiedensten Hintergründe auf. Diese Beobachtung bildet den zentralen Ansatzpunkt für die darauffolgende Analyse altsteinzeitlicher Höhlenmalereien, in denen mehrfach Mischwesen aus Tier und Mensch dargestellt sind, die sich in Parallele zu Felsbildern des südafrikanischen Volks der San setzen lassen. Der Motivschatz der Kunst der San blieb über Jahrtausende relativ konstant und enthält oft Darstellungen sich in Trance tanzender und dann Tierverwandlungen durchmachender Schamanen. Eine entsprechende Interpretation hält das Autorenduo daher nicht nur für die sogenannten „Zauberer“ in der frankokantabrischen Höhlenkunst für wahrscheinlich, sondern auch für altsteinzeitliche Plastiken wie den berühmten Löwenmenschen von der Schwäbischen Alb.
Scheint hier der Fall noch klar zu sein, wird in den folgenden Kapiteln offensichtlich, dass die Deutung eines Funds oder Befunds als Anzeichen für Schamanismus oft nicht alternativlos sein muss. Ist etwa eine Rassel als bewusstseinsveränderndes Rhythmusinstrument zauberkundiger Personen oder doch nur als Kinderspielzeug anzusprechen? Sind geometrische Muster auf Gegenständen Widerspiegelungen von Tranceerfahrungen, stilisierte Wiedergabe ganz irdischer Dinge oder gar Verzierungen ohne tieferen Sinn? Weisen Begräbnisse mit für unsere Begriffe bizarren Beigaben (z.B. einem Menschenfuß) auf eine spirituelle Sonderrolle der Bestatteten hin, oder sind die Hintergründe weit prosaischer?
Zeeb-Lang und Reymann bevorzugen zwar zumeist die „magische“ Erklärungsvariante, aber ob sie überzeugender als die alltägliche wirkt, ist oft Ermessenssache.
Obwohl die beiden Autoren also nicht mit letzter Sicherheit den Nachweis führen können, dass all ihre Schlussfolgerungen der Realität entsprechen und nicht nur Spekulationen sind, liefern sie dennoch zahlreiche Möglichkeiten, Zauber und Animismus in prähistorischen Kontexten zu sehen. Ganz gleich, ob man sich ihrer Meinung immer anschließen mag oder nicht, sind das spannende Denkanstöße, die viele ihrem mentalitätsgeschichtlichen Zusammenhang entrissene Erscheinungen zumindest mit einem potentiellen Sinngehalt füllen. Die letzten Geheimnisse wird man diesem Aspekt der Vor- und Frühgeschichte wohl nie entreißen können, aber die Löwenmenschen und Schamanen zeigen, wie sehr sich die Beschäftigung damit dennoch lohnt.

Andy Reymann, Andrea Zeeb-Lanz: Löwenmenschen und Schamanen. Magie in der Vorgeschichte. Darmstadt, Theiss (WBG), 2019 (Sonderheft der „Archäologie in Deutschland“ 16/2019), 112 Seiten.
ISBN: 9783806239904


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Die andere Geschichte der Bibel

Er sei, so Robin Lane Fox in seinem Vorwort zu seiner Monographie Die andere Geschichte der Bibel, Atheist und glaube „an die Bibel, nicht aber an Gott“ (S. 8). Wer auf dieser Basis nun damit rechnet, in dem Buch, das historischen Kontext und Quellenwert der Bibel zum Thema hat, eine polemische Streitschrift à la Richard Dawkins zu finden, irrt, denn ein Großteil von dem, was Robin Lane Fox hier darlegt, dürfte auch für mit der historisch-kritischen Methode vertraute Gläubige nicht weiter aufsehenerregend sein.
Der Autor schildert die mehrere Jahrhunderte umfassende Entstehung der Bibel aus unterschiedlichen Texten und weiß anschaulich zu machen, dass in einer Epoche, die nur Schriftrollen als Bücher kannte, die Zusammensetzung einer Sammlung heiliger Schriften durchaus immer wieder wechseln konnte, so dass sich erst allmählich ein Kanon hinausbildete. Während er mehrere Bücher der Bibel (so etwa Hiob und Esther) als gezielt erstellte fiktive Erzählungen einstuft und weitere als zumindest literarisch überformt und in sich widersprüchlich betrachtet (z.B. die Weihnachtsgeschichte des Lukas), sieht er in anderen durchaus auf Augenzeugenberichten basierende Quellen von historischem Wert (im Alten Testament vor allem in den Geschichten vom Hof Davids, im Neuen Testament im Johannesevangelium und Teilen der Apostelgeschichte). Diese vom Untertitel – Fakt und Fiktion in der Heiligen Schrift – hervorgehobene Überprüfung der biblischen Texte auf Tatsachen macht allerdings nur einen Teil des Buchs aus, denn Lane Fox ist es noch um eine andere Form von Wahrheit in der Bibel zu tun – das, was er „menschliche Wahrheit“ nennt. Als Atheist negiert er zwar die religiöse Bedeutung der Bibel für sich selbst, hält sie aber durchaus für aussagekräftig hinsichtlich ihres Blicks auf die conditio humana. Seine Überlegungen dazu, und insbesondere auch der Vergleich mit der altgriechischen Perspektive, bleiben allerdings im Ansatz stecken. Hier wäre vielleicht doch der literaturwissenschaftliche Zugang sinnvoll gewesen, an dem Lane Fox ansonsten kein gutes Haar lässt (wie auch an anderen Formen der Bibeldeutung, die ihm nicht ausreichend begründet scheinen, wie z.B. der feministischen Theologie).
Angesichts der abschätzigen Bemerkungen, die der Verfasser darüber mehrfach macht, kann man sich eigentlich nur wundern, dass er es selbst manchmal an Stringenz und Nachvollziehbarkeit fehlen lässt. Wer anderen von mangelnder Quellenkritik bis hin zu Wunschdenken alle möglichen methodischen Schwächen unterstellt, sollte umgekehrt seine Prämissen und Wertungskriterien expliziter zu machen, als es hier geschieht. Wenn Lane Fox z.B. die vielfach als eher symbolisch zu verstehen interpretierte Geschichte um Hosea und seine untreue Frau als historisch glaubwürdig einstuft, wünscht man sich eine argumentative Begründung dafür, statt nur die Einschätzung des Autors wie ein Faktum präsentiert zu bekommen.
Darüber hinaus haben sich einige Flüchtigkeitsfehler eingeschlichen. So ist bei der Analyse des Buches Esther z.B. von „dem Juden Haman“ (S. 362) die Rede, während Haman in der Bibel eigentlich als äußerer Gegner der Juden, nicht als abtrünniger Glaubensbruder erscheint. Auch die Angabe, dass „Daniel (…) in einen glühenden Feuerofen geworfen wird“ (S. 430), überrascht, denn im Buch Daniel erleiden eigentlich drei andere Männer (Schadrach, Meschach und Abed-Nego) dieses Schicksal.
In einem 2018 verfassten Nachwort geht Lane Fox auf neuere Entwicklungen in der Wissenschaft ein (so etwa auf die archäologischen Forschungen von Finkelstein und Silberman, deren Schlüssen er kritisch gegenübersteht), legt aber zugleich auch ein gesundes Selbstbewusstsein an den Tag. Ob man seinem eigenen Werk z.B. vollmundig „die Energie und den Schwung (…), von denen sich die Leser anhaltend angetan zeigten“ (S. 539), bescheinigen muss, sei einmal dahingestellt.
Was man insgesamt von Der anderen Geschichte der Bibel halten soll, weiß man daher am Ende nicht so recht. Lane Fox ist auf seinen Kerngebieten – der griechischen und römischen Geschichte – eindeutig überzeugender als hier, und auch wenn die Lektüre passagenweise lohnend ist, sollte sie durchaus mit kritischem Blick erfolgen.

Robin Lane Fox: Die andere Geschichte der Bibel. Fakt und Fiktion in der Heiligen Schrift. Stuttgart, Klett-Cotta, 2019 (Original: 1991), 624 Seiten.
ISBN: 9783608981162


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Ungeheuerlich

Alte Karten und Beschreibungen von Küsten und Meeren sind voller Fabelwesen, die mit der realen Fauna der dargestellten Region allenfalls bedingt etwas zu tun haben. Der Historiker Erling Sandmo nimmt sich in Ungeheuerlich. Seemonster in Karten und Literatur 1491 – 1895 der verblüffenden, unheimlichen und oft auch sehr amüsanten Kreaturen an, die durch die Bestände der norwegischen Nationalbibliothek geistern. In kurzen Kapiteln, die sich auch sehr gut unabhängig voneinander lesen lassen, wird jeweils ein wundersames Tier oder Phänomen vorgestellt, um dann in einer meist doppelseitigen historischen Illustration auch im Bild präsentiert zu werden. Die Übersetzung von Sylvia Kall wirkt elegant und flüssig, so dass die Lektüre zur genüsslichen Entdeckungstour werden kann.
Während Seeschlangen, Meermenschen oder schiffeversenkende Riesenkraken fast schon zum Standardinventar phantasievoller Seefahrergeschichten zählen, begegnet man in Sandmos kleinem Kompendium der bizarren Meeresbewohner auch originelleren Geschöpfen, so etwa dem ebenso gierigen wie ängstlichen swamfisk, der sich im Notfall sogar selbst auffrisst.
Neben Ungeheuern im eigentlichen Sinne bevölkern auch reale Tiere, über die man Merkwürdiges berichtete, die Seiten. Vermeintliche Wunderzeichen (wie eine im 17. Jahrhundert gefangene Scholle, deren Haut ein Kreuzeszeichen aufwies, so dass man sogleich den Bischof von Bergen informierte) stehen neben ungewöhnlichen Verhaltensweisen, die man bei Walross, Rochen oder Wal beobachtet haben wollte. Darüber hinaus spielen immer wieder auch andere erstaunliche Geschichten eine Rolle. So vertrat ein Geistlicher im frühen 18. Jahrhundert etwa die Theorie, Odysseus habe nicht nur die Lofoten bereist, sondern sei überdies mit Odin gleichzusetzen.
Wie vieles in dem Buch regt diese These aus heutiger Sicht natürlich zum Schmunzeln an, aber all das Witzige, Abstruse und Unterhaltsame trägt letztlich dazu bei, eine durchaus ernsthafte Geschichte zu erzählen – die nämlich von einem Wandel des Weltbilds, das in der hier im Zentrum stehenden Frühen Neuzeit einen allmählichen Übergang von Wundergläubigkeit und mythischer Zeichenhaftigkeit zu naturwissenschaftlichen Erklärungen erlebte. Stand erst noch die Frage im Vordergrund, was Erscheinen und Verhalten eines monströsen Wesens im wahrsten Sinne des Wortes zu bedeuten hätten, überwog später der Aspekt der Erforschung. Sandmo weiß mit leichter Hand deutlich zu machen, dass die Welt im Zuge ihrer Entzauberung zwar viel von ihrem Schrecken, aber in gewisser Weise auch etwas von ihrem Charme einbüßte.
Umso schöner ist es, den heute größtenteils vergessenen Bewohnern eines mit Magie und Legenden aufgeladenen Meeres in Ungeheuerlich begegnen zu können und sich auch an der liebevollen Gestaltung zu freuen: Beispielsweise ist im vorderen Buchdeckel der Innenteil einer Windrose ausgespart, so dass einen vom Vorsatzblatt aus ein Ungeheuerauge aus dem geschlossenen Buch anblickt. Ein rundum gelungenes kleines Werk also, dem man viele begeisterte Leserinnen und Leser (sowie Betrachterinnen und Betrachter) wünscht!

Erling Sandmo: Ungeheuerlich. Seemonster in Karten und Literatur 1491 – 1895. München, Nagel & Kimche, 2018, 100 Seiten.
ISBN: 9783312010943


Genre: Kunst und Kultur, Märchen und Mythen, Sachbuch allgemein

Sonnenhymnen

Der Große und der Kleine Sonnenhymnus (um 1345 v. Chr.), die dem Pharao Echnaton zugeschrieben werden, der in ihnen als Sprecher erscheint, gehören zweifelsohne zu den bekanntesten und eindrucksvollsten Zeugnissen der altägyptischen Literatur. In Gräbern hochrangiger Ägypter als Wandinschriften überliefert, preisen die beiden Hymnen den Sonnengott nicht nur als Schöpfer, sondern auch als Lebensspender, der seine Welterschaffung täglich erneuert, und betonen sein besonderes Verhältnis zum Pharao. Die heraufbeschworenen Bilder aus Natur und Alltagsleben haben sich über die Jahrtausende hinweg ihre Frische bewahrt und wirken auch heute noch unmittelbar ansprechend.
Christian Bayers zweisprachige Ausgabe der Sonnenhymnen, die dem Originaltext in Hieroglyphen eine zeitgemäße deutsche Übersetzung gegenüberstellt, ist zum einen eine gelungene Textedition, die in minutiösen Kommentaren Interpretationsansätze liefert, aber auch sehr offen mit Überlieferungs- und Übersetzungsproblemen umgeht und Unsicherheiten nicht zu überspielen versucht. Zum anderen kann das kleine Bändchen jedoch auch wunderbar als Einführung in die Amarna-Zeit allgemein dienen und Echnaton ein wenig fassbarer machen, der hier weder als großer Visionär des Monotheismus gefeiert, noch als engstirniger Tyrann verteufelt wird. Bayer weiß vielmehr aufzuzeigen, dass der Pharao im Prinzip zunächst nur konsequent die Politik seines Vaters Amenophis III. fortsetzte, Sonnenkult und Königtum enger als je zuvor aufeinander zu beziehen, dabei aber wohl unterschätzte, wie sehr die Einengung der Sonnenverehrung auf Aton (den in der sichtbaren Sonne gegenwärtigen Aspekt der Gottheit) zuungunsten des traditionell als Götterkönig verehrten Amun als Sakrileg empfunden werden würde. Obwohl die neue Religion daher unter seinen Nachfolgern keinen Bestand hatte und es auch rasch zur Aufgabe seiner neugegründeten Residenz Achet-Iten (Achet-Aton, heute Amarna) kam, war Echnatons Wirken laut Bayer indirekt folgenreich: Der Gott Amun erlangte seine religionsbeherrschende Stellung nicht zurück, sondern blieb einer unter mehreren, und die bis zu Echnaton unangefochtene religiöse und politische Dominanz der Stadt Theben war gebrochen.
Über diese historischen Schlaglichter hinaus nimmt Bayer die Sonnenhymnen jedoch auch unter der religions- und literaturhistorisch interessanten Perspektive ihrer Ähnlichkeit zum Psalm 104 der Bibel (der in der Lutherübersetzung im Buch abgedruckt ist) in den Blick. Während sich die Hymnen in den theologischen Nuancen und in ihrer Entstehungszeit selbstverständlich von dem wesentlich jüngeren Psalm unterscheiden, dessen Verfasser wohl auch keine direkte Kenntnis der ägyptischen Texte hatte, gleichen sich manche der heraufbeschworenen Bilder und der genutzten sprachlichen Wendungen frappierend. So ist wohl davon auszugehen, dass sich bestimmte Arten des Redens über den Schöpfergott und eine Vielfalt literarischer Motive in der Welt Ägyptens und des Alten Orients über die engeren Kulturgrenzen hinaus ausbreiteten und so durch zahlreiche Glaubenstransformationen ihren Weg bis in die Moderne fanden.
Kartenmaterial und Umzeichnungen von Kunstwerken runden den empfehlenswerten kleinen Band ab, der eigentlich für alle an Ägypten Interessierten ein Muss ist.

Echnaton: Sonnenhymnen. Ägyptisch / Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Christian Bayer. Stuttgart, Reclam, 2007 (RUB 18492), 126 Seiten.
ISBN: 9783150184929


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur, Märchen und Mythen

Der Codex Manesse

Codex Manesse, Manessische Liederhandschrift, Große Heidelberger Liederhandschrift – das mittelalterliche Buch, mit dem sich Anna Kathrin Bleulers Einführung Der Codex Manesse befasst, hat viele Namen und zählt zu den berühmtesten Handschriften des deutschsprachigen Raums. Aller Wahrscheinlichkeit nach um 1300 in Zürich im Auftrag des Ratsherrn Rüdiger II. Manesse  unter Beteiligung des Dichters Johannes Hadlaub entstanden, vereint der Codex Manesse nach Autoren geordnet eine Fülle von Minneliedern und Sangspruchdichtung des 12. und 13. Jahrhunderts.
Neben dem Wunsch nach der Herstellung eines nicht zuletzt dank seines reichen Bilderschmucks als Prunkobjekt tauglichen Buchs scheint hinter der Sammlung auch der nostalgische Wunsch, die (vermeintlich) gute alte Zeit der staufischen Epoche zu bewahren, gestanden zu haben. Wie genau der Entstehungsprozess verlief und was an der Handschrift noch heute über Schreiber, Konzeptänderungen und den Umgang mit Literatur in einer mittelalterlichen Stadt allgemein zu erkennen ist, schildert Bleuler detailreich und gut verständlich.
Daneben lässt sich  Der Codex Manesse jedoch auch als kleiner Ausflug in die Welt des Minnesangs lesen, wird doch diese Form der Dichtung von den Anfängen beim Kürenberger über bekannte Dichter wie Walther von der Vogelweide und Neidhart bis hin zu Konrad von Würzburg ausführlich vorgestellt. Den besprochenen Strophen im mittelhochdeutschen Original ist dabei immer eine neuhochdeutsche Übersetzung beigefügt, so dass sich auch für Laien keinerlei sprachliche Verständnisprobleme ergeben.
Dagegen wird die Sangspruchdichtung – wohl auch der Dominanz der Minnelyrik im Codex Manesse geschuldet – gegen Ende des Buchs nur sehr knapp an einem einzigen Beispiel aus dem Werk des Tannhäusers abgehandelt. Aufgrund der Heterogenität der Texte, die unter dem Begriff „Sangspruch“ subsumiert werden, wäre hier eine repräsentative Auswahl allerdings auch wesentlich schwieriger gewesen als im Fall des Minnesangs.
Apropos Auswahl: Obwohl Bleuler größtenteils die konventionelle Forschungsmeinung zu den Dichtern und Werken wiedergibt, macht sie deutlich, dass viele Einstufungen und vor allem der Kanon mehr oder minder klassischer Minnelieder in hohem Maße auf Wertungen des 19. Jahrhunderts zurückgehen. Die Überhöhung der Stauferzeit zu einer Art Idealzustand des Rittertums und der höfischen Kultur hat ihre Wurzeln zwar schon im Spätmittelalter (s.o.), erreichte aber in den nicht selten romantisierenden Vorstellungen der frühen Germanistik eine neue Qualität und prägt unsere Sicht auf die mittelalterliche Literatur – wenn auch oft nur unbewusst – bis heute.
Dank des Aufzeigens dieser Perspektive ist das kurze Bändchen nicht nur ein guter Einstieg in die Beschäftigung mit Texten und Buchproduktion des Mittelalters, sondern auch eine Hinführung zur kritischen Auseinandersetzung mit der germanistischen Mediävistik als Fach und deshalb allen daran Interessierten nur zu empfehlen.

Anna Kathrin Bleuler: Der Codex Manesse. Geschichte, Bilder, Lieder. München, C. H. Beck, 2018, 128 Seiten.
ISBN: 9783406721342


Genre: Kunst und Kultur

Das antike Drama

Die Wurzeln des europäischen Dramas liegen in der Antike, und auch die Aufteilung in Tragödie, Komödie und die Tragikomödie als Mischgenre ist sehr alt. Die überlieferten Stücke sind trotz aller Textverluste und zu vermutenden Änderungen faszinierende und bewegende Literatur und für bestimmte Konventionen der Charakterisierung und szenischen Darstellung im Grunde bis heute prägend.
Die Latinistin Therese Fuhrer und der Gräzist Martin Hose stellen in ihrer handlichen Einführung Das antike Drama diese Anfänge der Theatertradition, die wichtigsten heute noch bekannten Dramenautoren der griechischen und römischen Antike und einzelne besonders bemerkenswerte Stücke vor. Der zeitliche Bogen spannt sich von der Entstehung der Tragödie in Athen unter der Tyrannis der Peisistratiden im 6. Jh. v. Chr. bis zur Christianisierung und Theaterkritik der Spätantike.
Nach einem kurzen Überblick über die jeweiligen kultischen Ursprünge von Tragödie und Komödie folgt die Vorstellung derjenigen Dramenverfasser, die die Erhaltung ihrer Stücke der Tatsache zu verdanken haben, dass sie von alexandrinischen und später von byzantinischen Gelehrten als wichtiger Teil des Literaturkanons begriffen wurden: Zu den Tragödiendichtern Aischylos, Sophokles und Euripides liefern Fuhrer und Hose ebenso biographische Skizzen und Werkanalysen wie zu den Komödienautoren Aristophanes und Menander.
Die Kenntnis der griechischen Dramentradition ist unabdingbar notwendig, um zu verstehen, in welcher Form die Theaterkultur ab den 3. Jh. v. Chr. von den Römern übernommen wurde, die bis dahin aus ihrem italischen Umfeld vor allem den Typus des handfesten Possenspiels mit festgelegtem Typeninventar kannten (fabula Atellana). Fast noch stärker als im Falle der griechischen Antike wird bei den frühen römischen Dramen deutlich, wie sehr der Zufall der Überlieferung unsere Wahrnehmung bestimmt. Während die oft eng am griechischen Vorbild orientierten Komödien von Plautus und Terenz als Schullektüre die Jahrtausende überdauerten, sind uns die frühen römischen Tragödien bis auf einzelne aus dem Kontext gerissene Zeilen nicht mehr zugänglich. Was bleibt, kann aber ironischerweise durchaus sehr bekannt sein: So ist das Zitat oderint, dum metuant (in etwa: „Sollen sie mich ruhig hassen, solange sie mich fürchten“) sicher schon vielen Lateinkundigen begegnet, während nur wenige sofort parat haben dürften, dass es aus dem bis auf wenige Fragmente verlorenen Atreus des Accius aus dem 2. Jh. v. Chr. stammt.
Mit Seneca erfährt schließlich auch noch ein Tragödiendichter der römischen Kaiserzeit eine ausführliche Würdigung, bevor das Buch mit einem kurzen Ausblick auf die Spätantike schließt.
Fuhrer und Hose schreiben anschaulich und allgemeinverständlich und nehmen zur Erläuterung der teils komplizierten Familienkonstellationen in den römischen Komödien auch Schaubilder zu Hilfe. Trotz der Kürze des Bands fehlen bei den Dramenanalysen auch Hinweise auf unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten nicht. Knapper abgehandelt, aber durchaus erwähnt wird die praktische Seite der antiken Theateraufführung (von der Bühnengestaltung über die Masken bis hin zu den Schauspielern). Die literarischen Texte selbst und ihre Verfasser stehen im Vordergrund und werden so gut präsentiert, dass der erste Einstieg in die Welt des antiken Dramas hier eigentlich nicht misslingen kann. Wer nähere Informationen zu Theaterbauten oder eine üppigere Bebilderung sucht, ist mit Bernd Seidenstickers Band Das antike Theater aus derselben Reihe gut beraten.

Therese Fuhrer, Martin Hose: Das antike Drama. München, C. H. Beck, 2017, 128 Seiten.
ISBN: 9783406707926


Genre: Kunst und Kultur

Trolle

Dämonische Unholde des Mittelalters, tumbe Bösewichter des neuzeitlichen Märchens, niedliche Gesellen im modernen Kinderbuch, Standardinventar der Fantasy und kitschiges Souvenir – Trolle haben schon vielen Rollen übernehmen müssen. Wie genau sich die Trollvorstellung in Mythologie, Literatur und bildender Kunst von der Wikingerzeit bis heute immer wieder gewandelt hat, zeichnet der Mediävist Rudolf Simek in seiner äußerst lesenswerten neuen Studie Trolle nach. Das üppig bebilderte Buch geht dabei gerade in seiner detailreichen Deutung literaturgeschichtlicher Zusammenhänge noch über John Lindows thematisch ähnlich konzipiertes Werk Trolls hinaus und bietet nicht nur einen glänzenden Überblick über das, was in verschiedenen Epochen den typischen Troll ausmacht, sondern auch über sprachlich mit Trollen assoziierte Ortsnamen und Begriffsfelder (historisch in Skandinavien die Zauberei, heutzutage vor allem unliebsames Verhalten im Internet).
Die Anfänge des Trollglaubens vor über 1000 Jahren liegen im Dunkeln, und die frühesten Erwähnungen erlauben noch kein allzu klares Trollbild. Trolle – so kann man nur ahnen – waren ursprünglich mit Tod und Anderswelt assoziierte Wesen, denen Gefährlichkeit für die Menschen, aber auch magische Fähigkeiten zugeschrieben wurden. Erst ab der Sagaliteratur des Hoch- und Spätmittelalters treten sie deutlicher hervor: Den Naturgewalten und der alten heidnischen Welt verbunden, sind sie oft grobschlächtige und hässliche Gegner der Helden, die gleichwohl durchaus in Trollfrauen Ziehmütter oder Geliebte finden können. In diesem Punkt ähneln sie den Waldmenschen oder wilden Frauen der mitteleuropäischen Literatur, wie überhaupt die Übergänge zu Untoten und Riesen zunächst noch fließend bleiben.
Riesengleiche Züge legen Trolle auch in vielen Märchen der Neuzeit an den Tag: Als böse, einzelgängerische Menschenfresser wahren sie ihre Bedrohlichkeit, sind jedoch aufgrund ihrer Dummheit leicht zu überlisten und haben so oft das Nachsehen. Parallel dazu entstehen im südlichen und östlichen Skandinavien jedoch Geschichten, die anstelle der gewaltigen Unholde von einst wichtel- oder elfenartig in Gemeinschaften lebende kleine Trolle in den Vordergrund rücken.
Beide Sorten von Trollen finden ihren Niederschlag auch in der modernen Literatur. Während die für Erwachsene und Jugendliche gedachte Fantasy den großen und gefährlichen Troll als Antagonisten (seltener auch als positiv besetzte Figur) kennt, sind in der Kinderliteratur seit Mitte des 20. Jahrhunderts verstärkt putzige und soziale Trolle unterwegs.
Bei der Beschäftigung damit gewinnen die Trolle teilweise den Charakter einer Streitschrift, da es dem Autor sehr wichtig zu sein scheint, gegen eine solche Verniedlichung und Verharmlosung ins Feld zu ziehen. Hier wünscht man Simek dann doch etwas mehr Toleranz und Verständnis dafür, dass gerade im Kinderbuch die Schilderung freundlicher Varianten ursprünglich bedrohlicher Gestalten aus dem Volksglauben erstens nicht verwerflich und zweitens kein auf Trolle beschränktes Phänomen ist (man denke etwa an Die kleine Hexe oder Das kleine Gespenst bei Otfried Preußler). Allerdings muss die Rezensentin zugeben, als Verfasserin von Geschichten, in denen gelegentlich hilfreiche, wenn auch nicht notwendigerweise harmlose Trolle auftauchen, eindeutig parteiisch zu sein, was die Zuschreibung sympathischer Eigenschaften an diese Wesen betrifft.
Doch ganz gleich, ob man Simeks Wertungen nun in allen Punkten unterschreiben mag oder nicht, bleibt die Qualität seines Buchs unbestritten. Positiv fällt vor allem der große Raum auf, der Primärtexten eingeräumt wird, damit sie für sich selbst sprechen können (neben kurzen Zitaten sind ein längerer Auszug aus Þorsteins Þáttr uxafóts und drei norwegische Volkserzählungen über Trolle enthalten). Auch die schiere Fülle des in die Analyse einbezogenen Materials – vom archäologischen Fund bis hin zu Film und Fernsehen – ist bemerkenswert und trägt zu dem Eindruck bei, dass wirklich so gut wie alle wichtigen Aspekte des Gegenstands zumindest angesprochen, oft aber auch ausführlich erörtert werden. Ein Glossar mit literaturwissenschaftlichen und historischen Fachbegriffen erleichtert Laien den Zugang zur Lektüre, die sich für jeden Interessierten unbedingt lohnt.
Den Wunsch, dieses Buch mögen die Trolle holen (im Altnordischen laut Simek eine sehr üble Verfluchung), hat man also nach dem Lesen gewiss nicht; damit, dabei von den Trollen auf die bestmögliche Art gefangen genommen zu werden, sollte man aber durchaus rechnen.

Rudolf Simek: Trolle. Ihre Geschichte von der nordischen Mythologie bis zum Internet. Köln u.a., Böhlau, 2018, 256 Seiten.
ISBN: 9783412507435


Genre: Kunst und Kultur, Märchen und Mythen

Münzen

Obwohl sie mittlerweile von Scheinen und bargeldlosen Transfermethoden immer weiter in den Hintergrund gedrängt werden, sind Münzen doch in gewisser Hinsicht bis heute das Geld schlechthin und waren über viele Jahrhunderte konkurrenzlos als Zahlungsmittel. Bernd Kluge, der ehemalige Leiter des Berliner Münzkabinetts, gibt in seiner kompakten Einführung Münzen einen gerafften, aber angemessen bebilderten und gut lesbaren Überblick über Geschichte, Funktion und unterschiedliche Ausprägungen des Münzgelds von den Anfängen im 7. Jahrhundert v. Chr. bis in die Gegenwart. Geographisch wird die gesamte Welt abgedeckt, der Schwerpunkt liegt aber doch eindeutig auf Europa, das in Bezug auf die historische Entwicklung seiner Münzen von der Antike bis in die Neuzeit am ausführlichsten behandelt wird.
Schnell wird dabei deutlich, dass Münzen von Anfang an weitaus mehr zu bieten hatten als nur ihren Materialwert oder ihre Funktion als Tauschobjekt. Durch ihre Gestaltung waren sie immer auch Kunstwerke, wie an eindrucksvollen Beispielen wie etwa dem Demarateion deutlich wird, einer besonders schön gestalteten Dekadrachmenmünze aus dem Syrakus des 5. Jahrhunderts v. Chr. Neben ihrem rein ästhetischen Wert dienten Münzen jedoch zugleich auch der Selbstdarstellung der Herrschenden und sind dementsprechend auch als geschichtliche Quelle nicht zu unterschätzen.
Ohne kommt der Bereich der historischen Entwicklung von Währungssystemen, Münzprägung und anderen praktischen Belangen nicht zu kurz. Ob nun mittelalterliche Münzverrufungen, verwendete Metallsorten oder Recheneinheiten, hier erfährt man auf engem Raum viel über die verschiedensten Gebiete.
Auch Kurioses kommt dabei durchaus zur Sprache. Wer z.B. schon immer einmal wissen wollte, was sich hinter den in Karl Mays Romanen so oft erwähnten Mariatheresientalern verbirgt und warum sie gerade auf orientalischen Schauplätzen immer wieder auftauchen, wird hier ebenso fündig wie derjenige, der sich für Münzen als Sammelobjekt interessiert. Hilfreiche Zusätze (wie etwa eine Übersichtstabelle über die aktuellen Währungen weltweit oder eine Zeittafel mit wichtigen Stationen der Geschichte der Münzen) runden den kleinen, aber ungeheuer kenntnisreichen Band ab.
Insgesamt weiß Bernd Kluge so zu verdeutlichen, dass die oft nur als bloße Hilfswissenschaft abgetane Numismatik gar nicht trocken und langweilig sein muss, sondern einem neben informativer auch sehr unterhaltsame Lektüre bescheren kann, die einem beim nächsten Museumsbesuch garantiert historische Münzen aufmerksamer und neugieriger betrachten lässt als bisher.

Bernd Kluge: Münzen. Eine Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart. München, C. H. Beck, 2016, 128 Seiten.
ISBN:9783406697746


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Akanthus und Zitronen

Im römischen Reich spielten Zier- und Nutzgärten in allen Epochen eine wichtige Rolle. Anders als viele Aspekte der materiellen Kultur der Antike sind sie jedoch erst in den letzten Jahrzehnten verstärkt erforscht worden, und bis heute sind viele Fehlannahmen in Umlauf.
So beginnt Stephanie Hauschild Akanthus und Rosen, ihren angenehm zu lesenden und reich bebilderten Spaziergang durch die römische Gartenkultur, konsequenterweise auch nicht mit den antiken Gärten selbst, sondern mit ihren neuzeitlichen Rekonstruktionen, die neben gelungenen immer auch problematische Aspekte haben. Der Vergleich von Ansätzen des 19. Jahrhunderts (wie sie in den Gemälden Lawrence Alma-Tademas oder im Pompejanum in Aschaffenburg greifbar werden) mit modernen Nachahmungen antiker Gärten macht zweierlei deutlich: Einerseits ist das Wissen um Gestaltungsprinzipien und in der Römerzeit bekannte Pflanzen mittlerweile sehr gewachsen. Andererseits bestimmen jedoch immer noch in vielen Fällen Zeitgeschmack und praktische Anforderungen das, was in einem rekonstruierten „römischen“ Garten gezeigt wird (so wird z.B. oft pflegeleichteren Pflanzen der Vorzug gegenüber historisch korrekten gegeben).
Da neu angelegte Gärten nach antikem Vorbild deshalb nur einen groben ersten Eindruck vermitteln können, hilft nur der Blick in Schrift- und Bildquellen sowie auf archäologische Funde. Hier gibt es eine Fülle von spannenden Informationen zu entdecken, vom Ziergarten als Ort der Repräsentation und Muße für die Oberschicht über Obst-, Gemüse- und Kräuteranbau zur Selbstversorgung bis hin zur kommerziellen Blumen- und Fruchtproduktion für die Parfümherstellung (denn neben heute noch zu diesem Zweck eingesetzten Pflanzen wie Rosen und Veilchen waren im alten Rom auch ungewöhnliche Duftnoten populär – etwa Quitte). Tiere im Garten haben ebenso ihren Auftritt wie Dekorationsobjekte und Gartenmöbel, und man erfährt, dass einige Blumen aus der Römerzeit erhalten sind: als Sträuße und Kränze, die in Ägypten als Grabbeigabe dienten und im dortigen Wüstenklima so perfekt trockneten, dass man heute noch bestimmen kann, was für eine Rosensorte verwendet wurde. Auch die Frage, wer eigentlich in Gärten arbeitete, wird diskutiert (so gab es z.B. mit den topiarii schon begehrte und angesehene Gartengestaltungsspezialisten, über die wir mehr wissen als über die wohl für einen Großteil der anfallenden Arbeiten zuständigen Sklaven, Angestellten und Eigentümerfamilien). Aufgrund des geringen Umfangs des Buchs werden viele Themen nur kurz angerissen, doch was man zu lesen bekommt, ist gut und allgemeinverständlich aufbereitet und macht neugierig auf mehr.
Hauschild möchte aber nicht nur ein theoretisches Bild der antiken Gartenkultur vermitteln, sondern auch zum praktischen Nacherleben anregen. Sie räumt ein, dass ein gänzlich als Spiegelbild der Römerzeit gestalteter Garten oder Balkon kaum jemandem Spaß machen dürfte (unter anderem müsste man auf viele heute beliebte, den Römern aber noch unbekannte Pflanzen verzichten). Doch als die antike Kultur, die – übrigens anders als die Griechen! – engagiert Stadtgärten hegte und pflegte, können die Römer all denen Inspirationen liefern, die aus einer kleinen Fläche viel zu machen versuchen. Neben Tipps zu geeigneten Pflanzen finden sich auch einige dem Kochbuch des Apicius entlehnte Rezepte mit Gartenprodukten. Bei dem für einen „Brotsalat mit Kapern nach Apicius“ hat allerdings der Fehlerteufel munter mitgekocht, denn die Überschneidungen zwischen Zutatenliste und Zubereitungsanweisungen sind gering. Wer hoffnungsvoll Minze, Sellerie, Eigelb und Honig bereitgestellt hat, muss sich beim Salatanmischen schnell überlegen, wie er all diese plötzlich nicht mehr benötigten Ingredienzien in Kapern, Gurken und Hühnerleber verwandeln will.
Abgesehen von dieser in ihrer Rätselhaftigkeit irgendwie auch amüsanten Panne ist Akanthus und Zitronen jedoch ein rundum gelungenes Buch, das sowohl Gartenfans einen Ausflug in die Antike ermöglicht als auch Römerbegeisterten einen ersten Einblick in ein sonst oft vernachlässigtes Stück Kulturgeschichte bietet.

Stephanie Hauschild: Akanthus und Zitronen. Die Welt der römischen Gärten. Darmstadt, Philipp von Zabern (WBG), 2017, 168 Seiten.
ISBN: 9783805350709


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur