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Gebrannte Erde

Keramik zählt zu den häufigsten archäologischen Funden aus dem Altertum und ist in den Museen in reicher Fülle vertreten. Ihre Bedeutung beschränkt sich nicht auf den unbestreitbar hohen künstlerischen Wert mancher Stücke, sondern besteht auch darin, dass sie eine wichtige Hilfestellung zur Datierung von Fundkomplexen geben kann. Aus Laiensicht wirkt die Bandbreite von Gestaltungsformen und Funktionen der antiken Keramikobjekte jedoch schnell verwirrend. Hier will Wolfram Letzner mit seiner Einführung Gebrannte Erde. Antike Keramik – Herstellung, Formen und Verwendung Abhilfe schaffen. Der kompakte, reich bebilderte Band macht sowohl mit der griechischen als auch mit der römischen Keramik vertraut.

Nach einem einleitenden Abschnitt, der sich mit der im Dunkeln liegenden Begriffsherkunft des ursprünglich aus dem Griechischen stammenden Begriffs „Keramik“ und dem Material an sich befasst, unterrichtet ein epochenübergreifendes Kapitel über Abbau und Aufbereitung des Tons und über die Besonderheiten der Gefäßproduktion in der Antike, von der Töpfertechnik über den Brand bis hin zur Werkstattorganisation.

Das Kapitel zur griechischen Keramik präsentiert vor allem Gefäße, die bei Tisch, im Ritual oder zu kosmetischen Zwecken eingesetzt wurden. Natürlich spielt hier auch die Vasenmalerei eine wichtige Rolle, da an griechischen Gefäßen bis heute vor allem ihr Bildreichtum fasziniert. Im Kapitel zur römischen Keramik steht die auf den ersten Blick schlichter gestaltete Terra Sigillata, das bekannte rote Tafelgeschirr, im Mittelpunkt. Abermals epochenübergreifend abgehandelt wird in einem eigenen Kapitel die Schwerkeramik, beispielsweise Transportamphoren und fassähnliche Dolia, die zu Lagerzwecken dienten. Kurze Abschnitte widmen sich den tönernen Lampen der Antike, der Baukeramik, dem Problem von Fälschungen antiker Gefäße und der Nutzung von Keramik zur Datierung von Ausgrabungsstätten. Eine knappe Bibliographie und ein Glossar beschließen den Band.

Zusätzlich liefern im ganzen Buch immer wieder vom übrigen Text abgesetzte Kästen knappe Überblicksinformationen zu Spezialthemen, etwa zu den Kontexten, in denen Keramik genutzt wurde wie z.B. beim griechischen Symposion oder in der römischen Küche. Hilfreich sind die zahlreichen Illustrationen, die unter anderem ermöglichen, verschiedene Gefäßtypen unterscheiden zu lernen. Neben solchem Grundlagenwissen vermittelt Wolfram Letzner aber immer wieder auch verblüffende Einzelheiten am Rande, so etwa die, dass in der Zeit um Christi Geburt Schiffe um riesige tönerne Dolia herumgebaut und dann quasi als eine Art Tankschiffe genutzt wurden, oder dass große Amphoren gelegentlich als Baumaterial dienten, um die Statik zu verbessern. Solche Details lockern die ansonsten auf das Wesentliche beschränkte Einführung auf und animieren dazu, sich noch näher mit dem Thema zu befassen. Tiefergehende Analysen kann das Buch aufgrund seines begrenzten Umfangs natürlich nicht liefern. Für den ersten Einstieg bietet Gebrannte Erde jedoch genau das, was man braucht, um sich zurechtzufinden.

Wolfram Letzner: Gebrannte Erde. Antike Keramik – Herstellung, Formen und Verwendung. Mainz, Nünnerich-Asmus, 2015, 128 Seiten.
ISBN: 978-3-943904-98-7

 


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Etruscan Art

Unter den Kulturen der Antike ist die der Etrusker vermutlich diejenige, die am stärksten ausschließlich oder doch vorwiegend mit ihrer Kunst assoziiert wird. Da die etruskische Literatur verloren ist, beschränken sich die Textquellen abgesehen von einigen Inschriften auf oft von Vorurteilen gefärbte Erwähnungen bei griechischen und römischen Autoren. Unmittelbarer scheint die Lebens- und Gedankenwelt der Etrusker in erhaltenen Statuen, verzierten Gebrauchsgegenständen und insbesondere in den prächtigen Grabmalereien greifbar zu werden. Eine der zugänglichsten und lesenswertesten Einführungen in die etruskische Kunst ist nach wie vor Nigel Spiveys Etruscan Art, eine an ein allgemeines Publikum gerichtete, reich bebilderte Darstellung, die auch durch einen übersichtlichen Anhang, der die zeitliche Gliederung der etruskischen Geschichte aufschlüsselt und eine kleine kommentierte Bibliographie bietet, den Einstieg in das Thema sehr erleichtert.

Gleich in der Einleitung bemüht Spivey sich, die Mär von den besonders geheimnisvollen oder rätselhaften Etruskern zu entkräften, indem er deutlich macht, dass der erwähnte Schriftquellenmangel einerseits und die besonders gute Erhaltung der in einen sepulkralen Kontext einzuordnenden Kunst andererseits das Bild verzerren und gerade in der älteren Forschung Spekulationen aller Art Tür und Tor geöffnet haben. Um ein Gegengewicht zu einer mystifizierenden Etruskerdeutung zu schaffen, versucht er, die Kunst in gesichertes Wissen über ihren historischen und sozialen Kontext einzubetten.

Ein erstes Kapitel skizziert die allmähliche Herausbildung des Etruskischen in der eisenzeitlichen Villanova-Kultur (ab etwa 1000 v. Chr.), die aus bronzezeitlichen Wurzeln hervorging. Diese einheimischen Vorgänger waren jedoch nicht das Einzige, was die etruskische Kunst ausmachen sollte. Im zweiten Kapitel, Etruria and the Orient, werden die lange dominierenden orientalischen (vielfach phönizischen) Einflüsse geschildert, die sich insbesondere auch in den oft unendlich feinen etruskischen Goldschmiedearbeiten aufspüren lassen. Das dritte Kapitel, Etruria Hellenized, hebt die Kontakte zu Griechenland hervor, die ab dem 7. Jahrhundert v. Chr. nicht nur den Stil, sondern auch die Inhalte der etruskischen Kunst entscheidend mitbestimmten: Neben Gestalten aus der griechischen Sagenwelt, die offenbar auch die Etrusker sehr faszinierte, tauchen lokal umgeformte griechische Bräuche wie das festliche Trinkgelage (Symposion) immer wieder auf.

Ort des Kunstschaffens und des Kunstgenusses waren die Städte als Sitz der Eliten, die als Auftraggeber einheimischer wie umherreisender, wohl oft griechischer Künstler anzusprechen sind. Mit The Etruscan Cities as Centres of Art ist den etruskischen Städten daher auch folgerichtig das umfangreichste Kapitel des gesamten Buchs gewidmet. Besonders anhand der etruskischen Sarkophage spürt Spivey hier der Frage nach, inwieweit die Lebenswirklichkeit und ihre künstlerische Wiedergabe auch auseinanderklaffen konnten (z.B. bei der Grabstatue einer nach Ausweis ihrer erhaltenen Gebeine schon alten Frau, die gleichwohl in jugendlicher Frische und mit bräutlichem Gestus dargestellt wurde, während andere Bildnisse gerade in der etruskischen Spätzeit durchaus mehr Mut zur Hässlichkeit erkennen ließen). Prägend wurde die etruskische Kultur zunächst für das frühe Rom, doch wie schon der Titel des fünften Kapitels – From Etruscan Rome to Roman Etruria – andeutet, blieb es nicht dabei. Die Etrusker gingen in der römischen Welt nach der Eroberung Etruriens ebenso auf wie unter – während Familien mit latinisierten Namen und bestimmte religiöse Bräuche (z.B. bei der Opferschau) noch lange weiterexistierten, verschwanden etruskische Sprache und Schrift.

Das sechste Kapitel kann darum nur noch The Etruscan Legacy, also das Erbe der Etrusker, in den Blick nehmen und schildert die Wiederentdeckung ihrer Kunst ab der Renaissance, aber verstärkt im 18. und 19. Jahrhundert, ebenso wie einige der haltlosen Theorien und Phantasievorstellungen, die sich in der Neuzeit mit den Etruskern verknüpften. Dass in der Moderne auch eine von finanziellen Interessen gelenkte Ausbeutung der etruskischen Kunst einsetzte – ob nun eher harmlos in Form von Olivenölwerbung oder, bitter für die Wissenschaft, durch die Aktivitäten von Raubgräbern -, lässt das Buch mit einer nachdenklichen Note ausklingen.

Wenn etwas an Etruscan Art zu kritisieren ist, so eigentlich nur, dass die Abbildungsqualität besser sein könnte. Gerade bei den ja stark durch ihre Farbenpracht wirkenden Wandgemälden aus den etruskischen Gräbern ist es bedauerlich, dass viele Abbildungen nur in Schwarz-Weiß vorhanden sind, aber auch bei den Farbfotos hat man nicht den Eindruck, dass sie in jedem Fall so klar und exakt abgedruckt sind, wie man es sich wünschen würde. Das schmälert den Wert des Texts aber nicht, und der sei wirklich allen ans Herz gelegt, die sich für etruskische Kunst interessieren.

Nigel Spivey: Etruscan Art. London, Thames & Hudson, 2006 (Nachdruck der Ausgabe von 1997), 216 Seiten.
ISBN: 978-0-500-20304-0


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Metropolen der Antike

Der Architekt und Archäologe Jean-Claude Golvin ist für seine ebenso präzisen wie atmosphärischen Aquarelle bekannt, in denen er das Aussehen antiker Gebäude und Städte rekonstruiert. Eine Vielzahl von ihnen ist in dem ansprechenden Bildband Metropolen der Antike versammelt, wobei der Titel allerdings etwas zu kurz greift: Neben den dort erwähnten großen Städten wie Rom, Athen oder Trier sind auch Darstellungen kleinerer Orte (etwa eines befestigen gallischen Dorfs auf der Insel Martigues) oder einzelner Bauwerke (so z.B. des berühmten Mausoleums von Halikarnassos) enthalten.

Wie Golvin in seinem Vorwort selbst erläutert, entspricht eine Rekonstruktion, und mag sie auch noch so akribisch archäologische Ergebnisse und topographische Gegebenheiten berücksichtigen, natürlich nie hundertprozentig der einstigen Wirklichkeit, da man in den seltensten Fällen eine komplette Stadt ergraben kann. So basieren Teile der Bilder immer auch auf Rückschlüssen, die man aus dem zweifelsfrei Bekannten ziehen kann, und plausiblen Vermutungen. Dementsprechend beschränkt sich ihre Funktion nicht auf strikte Wissenschaftlichkeit. Vielmehr sind sie für Golvin auch eine Art Einladung zu einer Zeitreise und zum Träumen, um sich dem Altertum auch emotional und immersiv zu nähern. Dazu eignen sich die von Hand gezeichneten und aquarellierten Illustrationen in der Tat wesentlich besser als die inzwischen allgegenwärtigen digitalen Rekonstruktionen, die oft kälter und weniger ansprechend wirken.

Zeitlich reicht der Rahmen vom alten Orient bis in die Spätantike (wobei die Römerzeit mit besonders vielen Beispielen vertreten ist), geographisch steht mit wenigen Ausnahmen der Raum des römischen Reichs im Mittelpunkt. Insbesondere kommt auch das sonst oft eher etwas stiefmütterlich behandelte römische Nordafrika zu seinem Recht. Jedem vorgestellten Ort bzw. Einzelbauwerk ist ein eigenes kurzes Kapitel gewidmet, das knapp, aber informativ historische, naturräumliche und architektonische Fakten skizziert. Die Übersetzung von Geneviève Lüscher und Birgit Lamerz-Beckschäfer liest sich dabei so flüssig und überzeugend, dass man oft vergisst, dass man es nicht mit einem schon im Original auf Deutsch verfassten Text zu tun hat. Immer ist mindestens eine Abbildung beigefügt (bei Städten aus der Vogelperspektive, bei individuellen Gebäuden oft auch aus der Sicht eines davorstehenden Betrachters). In manchen Fällen gibt es neben einer nummerierten Illustration mit Bildlegende auch noch einmal eine beschriftungsfreie Wiedergabe derselben Stadtansicht nur zum Genießen (häufig auf einer Doppelseite). Die Bildlegenden sind informativ, aber an einigen Stellen hatte hier leider der Fehlerteufel die Hand im Spiel (so bricht bei Olympia die Legende zu Ziffer 19, S. 79, einfach mitten im Satz ab, und bei der Abbildung des tunesischen Thugga sind im Bild, S. 144, 14 Ziffern vorhanden, während die Legende, S. 145, mit Ziffer 13 endet).

Insgesamt aber weiß die Bildreise einmal rund um das Mittelmeer und in angrenzende Regionen vorbehaltlos zu begeistern. Dieses Buch nimmt man sicher auch nach der ersten Lektüre noch oft zur Hand, sei es, um Details nachzuschlagen, sei es, um einfach nur in den wunderschönen Bildern zu schwelgen. Für alle an der Antike Interessierten kann man also nur eine eindeutige Lese- und Betrachtungsempfehlung aussprechen. Dieser Bildband lohnt sich!

Jean-Claude Golvin: Metropolen der Antike. 2., erw. Aufl. Darmstadt, Philipp von Zabern (WBG), 2019 (Original: 3., verb. und erw. Aufl. 2015), 240 Seiten.
ISBN: 978-3-8053-5184-3

 


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Homers Odyssee

Die Odyssee zählt zu den bekanntesten und wirkmächtigsten Texten der Weltliteratur. In seiner kompakten Einführung Homers Odyssee bietet der Altphilologe Bernhard Zimmermann eine lebendig geschriebene und kluge Annäherung an das Epos, dessen Faszination bis heute ungebrochen ist.

Zimmermann datiert die Odysee auf etwa Mitte des 7. Jahrhunderts v. Chr. und beginnt seine Darstellung, indem er dem schwer fassbaren Dichter Homer nachspürt, über den bei allem Ruhm schon in der Antike mehr Legendarisches als historisch wirklich Belastbares berichtet wurde. So undeutlich die Person des Autors also gezwungenermaßen bleibt, lässt sich doch viel zu Sprache und Versmaß sagen, und Zimmermann bietet in diesem Kontext eine der klarsten Erläuterungen der Funktionsweise des daktylischen Hexameters, die man in der Literatur finden kann. Selbst wer sich sonst nicht gern mit dem Metrum von Dichtungen auseinandersetzt, wird hier garantiert das Wesentliche nachvollziehen können.

Nach einem kurzen Forschungsabriss zur Homerphilologie seit dem Altertum steht im nächsten großen Abschnitt der Inhalt der Odyssee selbst im Mittelpunkt, die nicht nur ausführlich nacherzählt, sondern auch gut in ihren Sagenkontext (welche Ereignisse sind vorher, welche nachher zu denken?) eingeordnet wird. Nachdem so eine Verständnisbasis auch für diejenigen, die den Primärtext (noch) nicht kennen, geschaffen worden ist, folgt ein Analyseteil, in dem Struktur, Erzähltechnik, Motive und Poetik des Epos gründlich unter die Lupe genommen werden. Besonderen Wert legt Zimmermann dabei auf die Zeichnung der Figuren, denen noch einmal ein eigenes Kapitel gewidmet ist.

Deutlich wird in Zimmermanns Untersuchung insbesondere die Verknüpfung von Phantasie und heldenhafter, zeitlich unbestimmter Vorzeit einerseits mit der realen Lebenswelt von Mittelmeeranrainern des 7. Jahrhunderts andererseits, in der die Seefahrt ebenso sehr Wirtschaftsfaktor und verheißungsvolles Abenteuer wie lebensgefährliches Risiko ist und selbst sozial hochgestellte Persönlichkeiten nicht davor gefeit sind, unversehens als Sklaven zu enden. Dauerhaft bestehen kann in einer solchen Gesellschaft nur, wer tragfähige Bindungen hat – zu Eltern und Kindern, zum Ehepartner und zu Gefolgsleuten, aber nicht zuletzt auch zu den Göttern, deren Wohlwollen es sich zu erhalten gilt. In diesem Zusammenhang sieht Zimmermann nicht zuletzt auch das Schicksal der Atriden um Agamemnon, dessen Familie auf grausige Art zerbricht, als immer im Hintergrund mitzudenkende Folie für die trotz aller Gefahren für sämtliche Beteiligte erfolgreichere Heimkehr des Odysseus zu seiner Frau Penelope und seinem Sohn Telemach.

Ganz generell kann die Odyssee also auch unabhängig von ihrer Entstehungsepoche als Geschichte des Überstehens schwerer Zeiten mithilfe von Klugheit und Durchhaltevermögen gelesen werden (ob nun auf Odysseus selbst bezogen oder z.B. auch auf Penelope, die sich mit List und Tücke der zudringlichen Freier erwehren muss, um ihrem Mann treu zu bleiben). Auch diese Thematik trug dazu bei, ihr im Laufe der Jahrhunderte eine eifrige Rezeption zu sichern, über die Zimmermann in einem letzten Kapitel einen kurzen Überblick gibt, der den Schwerpunkt allerdings stark auf die Antike legt. Knappe Literaturhinweise und ein Register runden den Band ab.

Wer einen ersten Einstieg in die Odyssee sucht, ist mit dem kurzen Buch auf alle Fälle gut beraten, aber auch alle, die den Text selbst schon kennen, können Zimmermanns frische Deutungsansätze und insbesondere seine Einordnung in den historischen Entstehungszusammenhang mit Gewinn lesen.

Bernhard Zimmermann: Homers Odysee. Dichter, Helden und Geschichte. München, C.H. Beck, 2020, 128 Seiten.
ISBN: 978-3406750229


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur, Märchen und Mythen

Die apokryphen Evangelien

Schon in der Spätantike bildete sich in den Grundzügen der heute noch gültige Bibelkanon heraus – und damit auch die Festlegung auf die vier Evangelien nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Diese Schriften waren jedoch nicht die einzigen, die unter frühen Christen kursierten und Taten und Äußerungen Jesu zum Inhalt hatten. Vielmehr existierte eine reiche Fülle teils sehr unterschiedlicher Werke, die alle auf ihre Art für sich in Anspruch nahmen, die Botschaft von Jesus Christus zu vermitteln. In Die apokryphen Evangelien, wie man diese Texte in der Forschung bezeichnet, führt der evangelische Theologe Jens Schröter in seinem gleichnamigen Buch ebenso knapp wie kenntnisreich ein.

Nach einer Einleitung zum Verhältnis von Bibel und Apokryphen sowie zur Forschungsgeschichte gliedert Schröter seine Darstellung nach den einzelnen apokryphen Evangelien, die dabei nach der Phase im Leben Jesu, die sie jeweils behandeln, zu Gruppen zusammengefasst sind (wobei in Einzelfällen, wie etwa beim Thomasevangelium, das Aussprüche Jesu auflistet, unklar bleibt, welche zeitliche Verortung ursprünglich intendiert gewesen sein mag). Inhaltsskizze und historisch einordnende Interpretation sind dabei eng miteinander verflochten.

Der Hoffnung, aus den apokryphen Evangelien Informationen über den historischen Jesus gewinnen zu können, erteilt Schröter zu Recht eine klare Absage: Noch nach den kanonischen Evangelien entstanden, eignen sie sich nicht als Primärquellen für das Leben Jesu, sind dafür aber umso aufschlussreicher, um die Mentalität und die spirituellen Bedürfnisse unterschiedlicher frühchristlicher Gruppen zu rekonstruieren.

Deutlich wird in vielen Texten vor allen Dingen der Wunsch, in der Bibel ausgesparte oder nur angedeutete Abschnitte der Geschichte Jesu lebendig auszumalen, so etwa seine Jugend oder die Zeit zwischen Tod und Auferstehung. Das Nikodemusevangelium, das u.a. die Höllenfahrt Christi vor der Auferstehung schildert, und die sogenannten Kindheitsevangelien füllen auf diese Art eher Leerstellen aus, als im Widerspruch zur kanonischen Überlieferung zu stehen. Infolgedessen wurden sie auf breiter Basis rezipiert und hatten bis ins Mittelalter großen Einfluss auf bildliche Darstellungen oder literarische Aufbereitungen des Lebens Christi, auch wenn manche Erzählung über einen bereits im Kindesalter aggressiv anmutende Strafwunder wirkenden Jesus aus heutiger Sicht eher bizarr erscheint.

Anders verhält es sich mit denjenigen apokryphen Evangelien, die Glaubensüberzeugungen abseits der Hauptströmungen der frühen Kirche widerspiegeln, so etwa mit den gnostischen Evangelien. Oft nur fragmentarisch überliefert, enthalten sie für heutige Leserinnen und Leser Erstaunliches bis Befremdliches, so z.B. Dialoge, in denen Jesus Maria Magdalena, Thomas oder gar Judas esoterisch anmutende Lehren anvertraut, die von dem, was sich als Christentum letztlich durchsetzte, denkbar weit entfernt sind, aber teilweise Einflüsse der antiken Philosophie aufgenommen zu haben scheinen.

In all ihrer Heterogenität lassen die apokryphen Evangelien – wie Schröter in einem kurzen Fazit resümiert – daher erkennen, dass es das eine unangefochtene Jesusbild gerade im frühen Christentum nicht gab, sondern konkurrierende Interpretationen eine lange Tradition haben. Gerade die hier ansatzweise greifbar werdende Vielfalt sorgt jedoch dafür, dass der hier vermittelte Überblick keine erschöpfende Analyse, sondern nur ein erster Einstieg für Interessierte sein kann. Der aber ist durchaus gelungen und verhilft zur Orientierung in einem komplexen und für Außenstehende doch oft eher verwirrenden Forschungsfeld.

Jens Schröter: Die apokryphen Evangelien. Jesusüberlieferungen außerhalb der Bibel. München, C. H. Beck, 2020, 128 Seiten.
ISBN: 978-3406750182

 


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Ein römisches Wohnhaus mit Wandmalereien in Oftersheim

Im baden-württembergischen Oftersheim wurden in den 1960er Jahren Reste eines römischen Wohnhauses archäologisch untersucht, doch die Grabung erfasste nur einen Teil des Gebäudes, und die Funde gerieten im Museumsdepot in Mannheim über Jahrzehnte in Vergessenheit. Unterstützt von drei Mitautoren unternimmt es Mathilde Grünewald in ihrem Buch Ein römisches Wohnhaus mit Wandmalereien in Oftersheim, die damaligen Fundstücke und teilweise nur unzureichend dokumentierten Befunde zu analysieren.

Dass das Oftersheimer Wohnhaus Teil einer villa rustica, also eines landwirtschaftlich genutzten römischen Guts, war, kann zwar mit einiger Wahrscheinlichkeit vermutet, aber bisher nicht mit letzter Sicherheit bewiesen werden, da die räumlich eng begrenzte Grabung keine Wirtschaftsgebäude freilegte. Daher steht nur fest, dass das recht repräsentativ ausgestattete Haus im 1. Jahrhundert n. Chr. entstand und danach kontinuierlich genutzt wurde, bis es nach Mitte des 3. Jahrhunderts offenbar äußerst gründlich abgerissen und durch ein hölzernes Bauwerk ersetzt wurde. In diesem vermutet Grünewald keine Ansiedlung der um diese Zeit in die Gegend eingefallenen Alamannen, da keinerlei Funde auf ihre Präsenz vor Ort hindeuten, sondern eher eine vielleicht in den bewegten Zeiten nicht mehr vollendete Umnutzung des Geländes durch seine Besitzer.

Angesichts der so gründlichen Zerstörung der römerzeitlichen Bebauung ist es fast ein kleines Wunder, dass dennoch genug Überreste davon vorhanden geblieben sind, um nicht nur ein Hypokaustum und das Vorhandensein von Dachziegeln und Glasfenstern nachweisen zu können, sondern auch in der Lage zu sein, aus Fragmenten von Wandmalereien die jeweilige Gestaltung einer weißgrundigen und einer rotgrundigen Wand überzeugend rekonstruieren zu können. Rüdiger Gogräfe entwickelt in seinem diesem Thema gewidmeten Beitrag fast schon kriminalistischen Spürsinn, um durch Vergleiche mit besser erhaltenen Beispielen eine plausible Anordnung der Bruchstücke zu präsentieren. Die von Renate Berghaus künstlerisch umgesetzten Rekonstruktionen der beiden Wände sind zauberhaft und lassen einen sehr bedauern, dass beim Abriss des Oftersheimer Hauses allem Anschein nach so gründlich vorgegangen wurde, dass keine größeren Teile der Wandmalereien überdauert haben.

Neben Spuren des Bauwerks an sich wurden Reste seines Inventars und der Habseligkeiten der Bewohner entdeckt, darunter außer der allgegenwärtigen Keramik auch Münzen, eine zerschlagene Venusstatuette, eine unvollendete Schnitzarbeit, Werkzeuge und Schmuckstücke (von denen Sven Jäger die Fibeln – die meisten davon römischen, aber auch eine germanischen Ursprungs – in einem gesonderten Unterkapitel betrachtet). Ein letzter Abschnitt, der aus der Feder von Erwin Hahn stammt, befasst sich mit den gefundenen Tierknochen, von denen viele – vor allem von Rind, Schaf und Schwein – durch Hack- und Schnittspuren als Küchenabfälle ausgewiesen sind. Doch auch tierische Mitbewohner gab es in der villa von Oftersheim, ob nun nützliche und im Leben sicher auch geliebte wie Hunde und eine Katze oder eher unwillkommene wie eine Ratte.

Insgesamt vermittelt der anregende und detailfreudige Band den Eindruck, dass hier mit vielen Jahren Verspätung aus einer nicht optimal abgelaufenen Grabung nachträglich noch das Beste herausgeholt worden ist. Das römische Haus von Oftersheim ist gerade angesichts seines rätselhaften Endes eine hochinteressante Fundstätte, und so kann man nur bedauern, dass in Zeiten, in denen die Kapazitäten der Archäologie oft völlig von Notgrabungen erschöpft werden, mit einer Nachuntersuchung, die noch offene Fragen klären könnte, wohl so schnell nicht zu rechnen ist.

Mathilde Grünewald: Ein römisches Wohnhaus mit Wandmalereien in Oftersheim. Mit Beiträgen von Rüdiger Gogräfe, Erwin Hahn und Sven Jäger. Hrsg. von der Gemeinde Oftersheim und dem Heimat- und Kulturkreis e.V. Oftersheim. Regensburg, Schnell & Steiner, 2017, 144 Seiten.
ISBN: 978-3795432980


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Die Griechen

Zugegeben: Der Untertitel Und die Erfindung der Kultur, mit dem sich die Taschenbuchausgabe von Edith Halls Die Griechen (auch schon als Die alten Griechen. Eine Erfolgsgeschichte in zehn Auftritten erschienen) schmückt, ist etwas hoch gegriffen. Als Erfinder der Kultur schlechthin stellt die britische Altphilologin die Griechen nicht dar, sehr wohl aber als die Zivilisation, deren Errungenschaften und Besonderheiten in vielerlei Hinsicht bis heute für die westliche Welt prägend sind. Mit entsprechendem Verve erzählt sie die Geistesgeschichte der griechischen Antike und ihrer Literatur, Wissenschaft und Philosophie.

Hall sieht dabei vor allem zehn Eigenheiten als prägend für die Griechen an: Liebe zur Seefahrt, Misstrauen gegenüber Autorität, Individualismus, Wissbegier, Offenheit, Humor, Wettkampfgeist, Bewunderung für außergewöhnliche Begabungen, Redegewandtheit und Vergnügungssucht. Statt diese Punkte epochenübergreifend abzuhandeln, greift Hall zu dem reizvollen Mittel, chronologisch geordnet jeweils eine bestimmte Phase der altgriechischen Geschichte zu nutzen, um daran exemplarisch eine ihrer Zuschreibungen zu belegen. In vielen Fällen passt das recht gut – so etwa bei der Analyse der Bedeutung der Seefahrt für die mykenische Kultur -, und manchmal sorgt der Ansatz sogar für ungewohnte und gerade dadurch erhellende Perspektiven (z.B. im Falle der Spartaner, die hier nicht allein als Krieger in den Blick genommen werden, sondern mit ihrem sprichwörtlichen lakonischen Humor glänzen dürfen). Je weiter das Buch jedoch fortschreitet, desto gewollter wirkt die Zuordnung, auch weil die als prägend propagierte Eigenschaft gar nicht immer im Zentrum des jeweiligen Kapitels steht. So ist der eigentlich Alexander dem Großen und seinen Makedonen zugeordnete Aspekt des Wettstreits im entsprechenden Abschnitt eher unterrepräsentiert – bedeutender sind hier Überlegungen zum Einfluss der in der makedonischen Elite besonders beliebten Mysterienkulte auf Alexanders Selbstwahrnehmung.

Bei aller Anerkennung der Leistungen der Griechen und trotz ihrer unverhohlen eingestandenen Sympathie für einzelne Persönlichkeiten,  so z.B. den spätantiken Redner Libanios, verschweigt Hall auch die Schattenseiten ihrer Kultur nicht: Die weitverbreitete Frauenfeindlichkeit und die allgemein akzeptierte Sklaverei finden ebenso immer wieder Erwähnung wie kriegerische Brutalität und Machtgier, so dass die stets spürbare Begeisterung der Autorin für ihren Forschungsgegenstand nicht in kritiklose Glorifizierung abgleitet. Dennoch sorgen Halls zugänglicher Stil und ihre oft sehr persönliche Herangehensweise dafür, dass die Lektüre vor allem Spaß und Lust auf mehr macht. Ein paar ereignisgeschichtliche Vorkenntnisse mitzubringen, schadet beim Verständnis allerdings nicht, denn abgesehen von einzelnen Kapiteln (wie etwa dem schon erwähnten über Alexander den Großen) referiert Hall die historischen Abläufe selten ausführlich, sondern greift eher punktuell besonders bedeutsame Geschehnisse heraus.

Die Übersetzung von Norbert Juraschitz liest sich insgesamt flüssig, aber an einzelnen Stellen zweifelt man doch, ob bei der Übertragung ins Deutsche ganz die richtige Formulierung getroffen worden ist (so stößt man eher verwundert auf die „Zeugnisse der parfümierten Ölindustrie“ [S. 75] in mykenischer Zeit – ist hier vielleicht die Herstellung von Duftölen gemeint?). Leider sind zudem einige Flüchtigkeitsfehler stehen geblieben, von denen sich nicht sagen lässt, ob sie schon im englischen Original vorhanden waren oder erst im Zuge der Übersetzung aufgetreten sind. So sollen z.B. die Goldbleche von Pyrgi  „um das Jahr 500 n. Chr.“ (S. 34) entstanden sein, was nicht stimmen kann (als terminus ante quem wird in der Forschung normalerweise die Plünderung von Pyrgi durch Dionysius von Syrakus im Jahre 384 v. Chr. genannt).

Trotz dieser Kritikpunkte bieten Die Griechen denjenigen, die sich noch nicht tiefergehend mit der griechischen Antike befasst haben, einen blendend lesbaren Einstieg in eine reizvolle Vergangenheit, während alle anderen hier vergnüglich eigene Kenntnisse auffrischen und Halls Wertungen mit eigenen Einschätzungen abgleichen können.

Edith Hall: Die Griechen und die Erfindung der Kultur. 2. Aufl. München, Pantheon, 2018, 416 Seiten.
ISBN: 978-3570553817


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Ovids Metamorphosen

Seit der Antike zählen Ovids Metamorphosen zu den meistrezipierten Dichtungen und dienen nicht nur als Schul- und Studienlektüre, sondern auch als Inspirationsquelle für Kunst und Literatur. Niklas Holzberg bietet eine kompakte Einführung in das Werk, das er sachkundig in das Wenige einbettet, was über das Leben seines Autors bekannt ist. Insbesondere die Frage, ob Ovid die Metamorphosen schon in Rom vollendete oder noch daran arbeitete, nachdem er von Augustus ans Schwarze Meer verbannt worden war, wird dabei mehrfach aufgeworfen, ohne dass Holzberg zu einer letztgültigen Antwort darauf gelangt.

Der Aufbau seiner Einführung folgt dabei dem der Metamorphosen selbst, die sich in drei elegant miteinander verbundene Fünfergruppen (Pentaden) von Büchern gliedern, deren episodische Handlung einen Zeitraum von der Erschaffung der Welt bis zum Tod Caesars im Jahr vor Ovids Geburt abdeckt. Erzählt werden die bekanntesten Verwandlungsgeschichten der antiken Mythologie. Holzberg zeichnet interpretierend den Inhalt der einzelnen Abschnitte nach und würdigt pro Pentade jeweils eine Geschichte einer eingehenderen Analyse: die Sage um Apollo und Daphne in der ersten, die um Dädalus und Ikarus in der zweiten und die Apotheose Caesars in der dritten Pentade.

Im Zentrum von Holzbergs Deutung steht dabei der Blick auf Ovid als Meister des literarischen Spiels, der in seinem epischen Werk nicht nur augenzwinkernd die zuvor in der elegischen Liebesdichtung gewonnenen Schreiberfahrungen mit anbringt, sondern bei seiner Leser- oder Hörerschaft auch solide Kenntnisse anderer antiker Autoren (vor allem Homer und Vergil) voraussetzt. Ovids oft spöttische Aufbereitung von Mythen und Sagen erweist sich als anspielungsreich und sprachlich brillant, inhaltlich aber oft irritierend, so etwa, wenn er Vergewaltigungen oder brutale Strafen, die nicht immer nur die eigentlich Schuldigen treffen, eher mit voyeuristischem Verve und boshaftem Humor ausmalt, als Empathie für die Opfer erkennen zu lassen. Insbesondere in diesem Kontext weiß Holzberg das Spannungsverhältnis zwischen dem bis heute ungebrochenen ästhetischen Reiz der Verse und der unseren moralischen Vorstellungen doch in manchen Belangen fremden Weltanschauung der Antike kenntnisreich auszuloten.

Etwas schade ist, dass Holzberg Ovid und andere Primärtexte überwiegend nur in deutscher Übersetzung zitiert, und das nicht nur an Stellen, an denen er inhaltlich argumentiert, sondern auch dann, wenn er z.B. auf die Metrik eingeht. Hier mag man vielleicht die gelungenen Nachschöpfungen der deutschen Version bewundern, hätte aber doch lieber (auch) das lateinische Original gesehen.

Ungeachtet dieser kleinen Schwäche bieten Ovids Metamorphosen einen lehrreichen und zugleich durchaus humorvoll und unterhaltsam geschriebenen Einstieg in die Welt des augusteischen Dichters. Neben der Auseinandersetzung mit den Metamorphosen selbst kann der kurze Band übrigens auch recht gut dazu dienen, ein paar grundlegende Mythologiekenntnisse zu gewinnen oder aufzufrischen, denn in Holzbergs knappen Zusammenfassungen treten die wichtigsten Züge vieler beliebter Sagen prägnant hervor.

Niklas Holzberg: Ovids Metamorphosen. 2., durchges. Aufl. München, C.H. Beck, 2016 ,128 Seiten.
ISBN: 978-3406536212


Genre: Kunst und Kultur, Märchen und Mythen

Pflanzen im Mittelalter

Ob nun als Nahrung, Heilmittel, Bestandteil magischer Praktiken oder schöne Dekoration, Pflanzen sind bis heute aus keiner Epoche der Menschheitsgeschichte wegzudenken. Der Mediävist Helmut Birkhan spürt in seiner anregenden Studie Pflanzen im Mittelalter sowohl der ganz realen als auch der nur imaginierten Bedeutung der Flora für die mittelalterlichen Menschen nach. Unter den literarischen Quellen, auf die er sich dabei stützt, nehmen die Werke Konrads von Megenberg und Hildegards von Bingen die prominenteste Rolle ein, aber man begegnet auch Walahfrid Strabo, dem karolingischen Capitulare de villis, den an der Schwelle zur Frühen Neuzeit entstandenen Kräuterbüchern, dem St. Galler Klosterplan, so mancher Pflanzenerwähnung in der Dichtung und verschiedenen Bildern, unter denen das Frankfurter Paradiesgärtlein des sogenannten Oberrheinischen Meisters aus dem 15. Jahrhundert sicher zu den eindrucksvollsten zählt.

Trotz dieser vermeintlichen Quellenfülle ist es, wie schon in der Einleitung deutlich wird, keineswegs immer einfach, eindeutige Aussagen über Pflanzen im Mittelalter zu treffen, und das nicht, weil die Beschäftigung damaliger Gelehrter mit dem Thema von modernen naturwissenschaftlichen Standards noch ein gutes Stück entfernt war. Vielmehr stellen sich häufig allein schon sprachliche Zuordnungsprobleme, wenn eine mittelalterliche Pflanzenbezeichnung auf mehrere heutige Arten bezogen werden kann und die Beschreibungen vage genug bleiben, um eine exakte Identifikation unmöglich zu machen. Oft sind bei der Textauswertung also kleine oder große Rätsel zu lösen, aber Birkhan nimmt sich dieser Aufgabe voller Verve an.

Ein erster großer Abschnitt ist klassischen Nutzpflanzen gewidmet. Neben Getreide, Obst und Gemüse als wichtigen Grundsäulen der Ernährung spielen hier auch Pflanzen eine Rolle, aus denen Fasern für Textilien und Farbe gewonnen wurden, aber z.B. auch Holz und Schilf. Besonders beeindruckt Birkhan offenbar die Nutzung von fettgetränkten Binsen zur Beleuchtung, denn in der Folge setzt er das „Binsenlicht“ wiederholt als Sinnbild für seine eigene Forschungssituation ein, die die Vergangenheit nur ein wenig zu erhellen vermag, während vieles im Dunkeln bleiben muss.

Dieser Bescheidenheitsgestus kommt einem fast übertrieben vor, denn gerade im folgenden Kapitel, das Pflanzen im Hinblick auf ihre magische und medizinische Nutzung lexikalisch nach modernen Namen geordnet auflistet, weiß der Autor viele schlüssige Deutungen vorzuschlagen und nuanciert zwischen noch heute anerkannten Heilmethoden, solchen, die zumindest nach der mittlerweile überholten, aber im Mittelalter gültigen Humoralpathologie Sinn ergeben, und rein abergläubischen Vorstellungen zu unterscheiden.

Der folgende Abschnitt zu Nutz- und Lustgärten eröffnet bereits den Reigen der symbolischen Interpretation von Pflanzen, setzt er den Schwerpunkt doch eindeutig auf den Garten als bedeutungsvollen Schauplatz in literarischen Texten. Die Symbolik ist (neben Ausführungen zu Gesetzen über den Umgang mit Pflanzen) auch ein wichtiger Teil des Kapitels über Pflanzen im mittelalterlichen Recht. Umfangreicher ist die Betrachtung zu Pflanzen im Kontext der Religion. Hier sind besonders die zahlreichen Marienpflanzen berücksichtigt. Abschließend widmet Birkhan sich der Pflanze in der säkularen Kunst und Literatur des Mittelalters (wobei man sich sicher streiten kann, inwieweit die Einordnung von Weltenbäumen wie Yggdrasil in diesen Bereich schlüssig ist, da sie zwar nicht dem christlichen Kontext entstammen, als Produkte paganer Mythologie in ihrem Ursprung durchaus eine religiöse Komponente haben).

Der Anhang bietet neben den zu erwartenden bibliographischen Hinweisen auch einen nützlichen Index der erwähnten Pflanzen, die sowohl nach mittelalterlichen als auch nach modernen Bezeichnungen aufzufinden sind. Hervorzuheben ist die gelungene Buchgestaltung von Bettina Waringer, die mit Ausschnitten mittelalterlicher Bilder als Kapitelzierde arbeitet und ebenso wie das von J. Mullan aus Elementen des oben erwähnten Paradiesgärtleins reizvoll zusammengesetzte Cover dazu beiträgt, Pflanzen im Mittelalter zu einem auch äußerlich sehr schönen Buch zu machen. Inhaltlich lohnt sich die Lektüre sowohl für Mittelalterinteressierte als auch für Gartenbegeisterte unbedingt.

Helmut Birkhan: Pflanzen im Mittelalter. Eine Kulturgeschichte. Wien / Köln / Weimar, Böhlau, 2012, 312 Seiten.
ISBN: 978-3205787884


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur, Sachbuch allgemein

Im Wald

Die vielen Waldbücher, die insbesondere im Gefolge der literarischen Erfolge des Försters Peter Wohlleben in den letzten Jahren erschienen sind, haben in aller Regel eine naturkundliche Ausrichtung, ganz gleich, ob es nun eher um biologische Fakten oder um Tipps zur Freizeitgestaltung geht. Eine völlig andere Herangehensweise wählt dagegen Rita Mielke mit Im Wald, denn die – so der Untertitel – Wortwanderung durch die Natur nähert sich dem Wald aus sprachlicher und mentalitätshistorischer Perspektive.

Allen möglichen Begriffen, die mit dem Wald in Verbindung stehen, ist jeweils ein Kapitel gewidmet, das nicht nur die mit dem entsprechenden Wort am häufigsten verbundenen Assoziationen aufführt, sondern auch eine kurze Kulturgeschichte des menschlichen Blicks auf das Bezeichnete skizziert. Etymologie, Aberglaube, symbolische Zuschreibungen und religiöse Signifikanz finden hier ebenso ihren Platz wie zahlreiche Zitate aus literarischen Werken von der Antike bis in die heutige Zeit. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Europa, aber punktuell wird auch auf andere geographische Räume verwiesen.

Dabei begegnen die Leserinnen und Leser nicht nur den Bäumen selbst, aus denen der Wald besteht – ob nun Buche, Eiche oder Tanne -, sondern auch anderen Pflanzen wie der Mistel und zahlreichen tierischen Waldbewohnern wie Ameise, Eichhörnchen, Fuchs, Reh oder Specht. Daneben werden aber auch abstrakte Konzepte wie Einsamkeit behandelt, und auch Gestalten wie Hexe und Waldgeister, denen in Märchen und Geschichten gern ein Aufenthalt im Wald nachgesagt wird, haben ihren Auftritt.

Zwar kommt auch die ganz reale Waldnutzung durch den Menschen zur Sprache (z.B. wenn erwähnt wird, dass Fichtenholz oft zum Instrumentenbau verwendet wird), aber der Schwerpunkt liegt eindeutig auf den Vorstellungswelten, die der Wald heraufbeschwört. Vielfach fällt dabei auf, dass die menschliche Sicht insbesondere auf Tiere von Epoche zu Epoche schwankt und teilweise bis heute ambivalent bleibt: So wird der Wolf einerseits als bedrohlich und dämonisch (bis hin zum Phänomen des Werwolfs) geschildert, taucht andererseits aber schon früh auch in positiver Rolle auf (z.B. bei der Wölfin, die laut römischer Sage Romulus und Remus säugt). Auch die Eule als vermeintliches Hexentier einerseits und Sinnbild der Weisheit andererseits ist hier einzuordnen.

Besondere Erwähnung verdient die gelungene Buchgestaltung. Nicht nur die realistischen Tier- und Pflanzenillustrationen von Hanna Zeckau, sondern auch nette Details wie die kleinen Blätter, die jeweils eingangs des Kapitels das zum Begriff gehörende Wortassoziationsfeld markieren, machen Im Wald zu einem sehr hübschen Bändchen, das sich auch gut als Geschenk eignen dürfte.

Negativ fällt nur auf, dass die zu den Zitaten jeweils genannten Jahreszahlen im Einzelfall fehlerhaft zu sein scheinen (z.B. kann ein Werk des 1655 verstorbenen Friedrich von Logau wohl kaum 1872 – so die Angabe hier auf S. 26 – entstanden sein). Hier wäre ein gründlicheres Korrekturlesen wünschenswert gewesen.

Abgesehen davon ist Im Wald jedoch ein rundum empfehlenswerter kleiner Spaziergang durch die mit der heimischen Natur verknüpften Begriffs- und Vorstellungswelten, der eine ebenso vergnügliche wie lehrreiche Lektüre bildet.

Rita Mielke: Im Wald. Eine Wortwanderung durch die Natur. Mit Illustrationen von Hanna Zeckau. Berlin, Duden, 2019, 160 Seiten.
ISBN: 978-3411742585


Genre: Kunst und Kultur, Sachbuch allgemein