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La Dame et la licorne

Die unter der Bezeichnung La Dame à la licorne bekannte spätmittelalterliche Wandteppichserie aus dem Pariser Musée de Cluny zählt ohne Zweifel zu den eindrucksvollsten und bekanntesten textilen Kunstwerken der Epoche. Um auch Kinder schon an diese Darstellungen einer vornehmen Dame und eines Einhorns heranzuführen, spinnen Jean-Baptiste Baronian (Text) und Laurence Henno (Illustrationen) in ihrem Bilderbuch La Dame et la licorne eine reizende kleine Geschichte um die beiden Figuren.
Ein Einhorn entsteigt dem Meer und versucht, an Land Freunde zu finden. Das erweist sich allerdings als gar nicht so einfach, denn alle Tiere, denen es begegnet, fürchten sich entweder vor dem vermeintlichen Monster oder wollen aufgrund seiner Andersartigkeit und angeblichen Hässlichkeit nichts mit ihm zu tun haben. Erst eine freundliche Burgherrin, der es durch Zufall begegnet, kann ihm anhand verschiedener Sinneseindrücke deutlich machen, dass Individualität in Wirklichkeit gar nichts Schlechtes ist und Außenseiter sich nicht die Schuld daran geben müssen, dass sie Zurückweisung erfahren.
Sprache und Erzählduktus sind eher schlicht, so dass die vom Verlag gewählte Altersempfehlung ab 6 Jahren fast schon ein wenig zu hoch gegriffen wirkt; an der einfachen Erzählung kann man sicher auch schon im Kindergartenalter seine Freude haben. Die Botschaft, dass man sich seiner Eigenarten nicht schämen muss und vielleicht nur noch nicht die Richtigen getroffen hat, die einen zu schätzen wissen, ist recht nett verpackt. Nur das Ende wirkt etwas zu gewollt (irgendwie mussten die berühmten Wandteppiche wohl noch in der Geschichte selbst Erwähnung finden).
Wirklich lebendig und dadurch auch für Erwachsene sehr betrachtenswert wird das Buch jedoch durch die wunderschönen Illustrationen, die sich erkennbar an den mittelalterlichen Bildvorlagen orientieren, sie aber zu einer weicheren und sanfteren Märchenwelt in zarten Farben auflösen. Während die Darstellungen auf den Teppichen oft statisch wirken, arbeitet Henno viel mit Bewegung und Schwung, die eher eine spontane Momentaufnahme als eine gestellte Szene suggerieren. Die jeweils dominierenden Farben kommentieren dabei das Geschehen: Während der schwierige Weg des kleinen Einhorns mit recht kühlen Tönen (dem Blau des Meeres und dem Grün der Landschaft) beginnt, werden sie im Verlauf seiner Erlebnisse Stück für Stück wärmer, bis Gelb, Orange und Rot des Abendlichts und Feuerscheins auf der Burg der Dame dann Geborgenheit empfinden lassen. Auch im Detail sind die Illustrationen sehr liebenswert und ergänzen Einzelheiten, die im Text gar nicht vorkommen (so flüchtet auf den Bildern z.B. der kleine Schoßhund der Dame erst einmal vor dem Einhorn und wartet im Kreise anderer Tiere versteckt ab, um sich dann einige Seiten später mit misstrauischer Miene wieder aus der Deckung zu wagen und sich am Schluss offenbar doch ein wenig mit dem neuen Mitbewohner anzufreunden). So liegt hier wirklich ein Beispiel für ein Bilderbuch vor, das nur in den Kombination aus Wort und Bild seinen ganzen Charme entfaltet.
Ein kindgerechter kurzer Sachtext über die Inspirationsquelle und eine Abbildung eines der Originalteppiche runden den vergnüglichen Ausflug in ein märchenhaftes Mittelalter ab.

Jean-Baptiste Baronian, Laurence Henno: La Dame et la licorne. Paris, Éditions de la Réunion des musées nationaux, 2001, 28 Seiten.
ISBN: 9782711842988


Genre: Kinderbuch, Kunst und Kultur, Märchen und Mythen

Bilderwelten der Bronzezeit

Felskunst assoziiert man oft vor allem mit der Steinzeit. An vielen Stellen in Skandinavien und in weit geringerem Maße auch in Norddeutschland sind jedoch in Felsen und Steine gemeißelte oder geritzte Bilder überliefert, die aus der Bronzezeit stammen. Der zeitliche Schwerpunkt ihrer Entstehung lag wohl in der jüngeren Bronzezeit (in den Jahrhunderten um 1000 v.Chr.), da stilistische Vergleiche mit Gravuren auf Bronzeobjekten dieser Epoche große Ähnlichkeiten zu den Felsdarstellungen erkennen lassen.
Diesen Bilderwelten der Bronzezeit spürt Torsten Capelle in seinem reizvollen, handlichen Bildband nach und bleibt in seiner Beschreibung der stark stilisierten Darstellungen wohltuend sachlich und nüchtern, statt sich auf übertriebene Spekulationen einzulassen. Da Schriftquellen fehlen, lässt sich nicht mehr mit Sicherheit rekonstruieren, was die oft wohl nur lokal tätigen Künstler mit ihren Felsbildern ausdrücken wollten. Auffällig ist jedoch, dass diese meist abseits von Siedlungen lagen und nicht unbedingt einen repräsentativen Querschnitt des Alltagslebens wiedergeben.
Vor allem zeigt sich dies an der Auswahl der abgebildeten Menschen, die nicht die tatsächliche Zusammensetzung der damaligen (oder sonst irgendeiner) Gesellschaft widerspiegelt: Wo die stark abstrahierten Silhouetten überhaupt eine Geschlechtsbestimmung erlauben, scheint es sich bei den Gezeigten überwiegend um unbekleidete Männer zu handeln. Eindeutig als Frauen zu bestimmende Figuren treten seltener auf, Kinder praktisch nie. Dagegen scheint es sich in der Tierwelt teilweise genau umgekehrt zu verhalten: So sind z.B. zahlreiche Elchkühe in den Felsbildern belegt, dagegen aber kein einziger Elchbulle (oder doch zumindest keiner mit Schaufelgeweih).
Auch die festgehaltenen Situationen stammen aus nur wenigen Bereichen, die nicht den gesamten menschlichen Erfahrungsschatz umfassen. So finden sich neben Tier-, Wagen- und Schiffsbildern und imitierten Hand- und Fußabdrücken vor allem Szenen mit Kämpfen, Jagden und Tänzen, möglicherweise auch mit rituellen Handlungen (auch wenn Capelle sich hier in der Interpretation sehr zurücknimmt). Ein kultischer Hintergrund irgendeiner Art ist zumindest bei den Bildern anzunehmen, die gar nicht (dauerhaft) für die Augen lebender Betrachter bestimmt waren, sondern sich auf der Innenseite von Steinkistengräbern finden. Gerade bei diesem Phänomen hätte man sich Vergleiche mit ähnlichen Bräuchen etwa in mediterranen Kulturen gewünscht und muss bedauern, dass hier die skandinavische Bronzezeit relativ isoliert betrachtet wird.
Doch der informative und lesenswerte Text ist zugegebenermaßen gar nicht der Teil des Buchs, der am meisten Freude macht. Viel mehr Spaß bereitet es einem, in der Fülle von Fotos und Umzeichnungen der Funde selbst auf Entdeckungstour zu gehen, nach wiederkehrenden Motiven zu suchen und eigene Überlegungen anzustellen. Jedem, der sich auch nur ein bisschen für prähistorische Kunst interessiert, sei daher dieser Band als guter Einstieg in ein spannendes Thema ans Herz gelegt.

Torsten Capelle: Bilderwelten der Bronzezeit. Felsbilder in Norddeutschland und Skandinavien. Mainz, Philipp von Zabern, 2008, 128 Seiten.
ISBN: 9783805338332


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Helenas Töchter

Unter Althistorikern gilt Mode- und Kostümgeschichte oft allenfalls als Nischenthema. Wie grundfalsch es jedoch ist, Kleidung, Accessoires und ihren raschen oder langsamen Wandel als bloße Oberflächlichkeit abzutun, zeigen Klaus Junker und Sina Tauchert in ihrem schönen, reich illustrierten Band Helenas Töchter. Frauen und Mode im frühen Griechenland.
Herstellung und Pflege von Textilien waren im alten Griechenland mit seiner ausgeprägten Geschlechterrollenverteilung ein zentrales Aufgabenfeld der Frauen. Doch Kleidung machte nicht nur Arbeit, sondern war auch ein unverzichtbares Element weiblicher Selbstdarstellung in einer Welt, die Frauen ansonsten abgesehen von bestimmten religiösen Funktionen nur wenige Möglichkeiten einräumte, sich öffentlich zu präsentieren und auszudrücken.
Weil Kleider in aller Regel die Jahrtausende gar nicht oder allenfalls fragmentarisch überdauern, ist zur Rekonstruktion der Mode der hier behandelten archaischen bis frühklassischen Zeit ein Rückgriff auf Text- und vor allem Bildquellen notwendig. Neben Vasenbildern, die gerade im früheren Teil der Epoche oft stark stilisiert und deshalb nur bedingt aussagekräftig sind, spielen Reliefs und Statuen eine große Rolle. Da Reste ihrer ursprünglichen Bemalung mit modernen Methoden wieder sichtbar gemacht werden können, geben sie nicht nur Aufschluss über die Art der Gewänder, sondern auch über Farbgebung, Muster und Ornamente.
Deutlich wird vor allem ein beharrlicher Grundzug, der im Vergleich zur heutigen Kleidung, aber auch zu der zeitgleicher Kulturen (etwa im alten Orient) überrascht: In der altgriechischen Mode wurde so wenig wie möglich genäht und kaum etwas zugeschnitten. Der wichtigste Herstellungsschritt war das Weben, bei dem gern schon Verzierungen eingefügt wurden; die Stoffbahnen drapierte man dann mithilfe von Gürteln und Gewandnadeln am Körper. Die so entstandenen Kleidergrundformen Chiton und Peplos existierten jahrhundertelang, wurden aber in Stoffqualität und Trageweise und mit allerlei Accessoires erstaunlich vielfältig variiert.
Einfluss auf die Mode hatten dabei nicht nur individuelle Vorlieben, obwohl auch sie immer wieder aufscheinen. Vielmehr waren auch kultureller Austausch und politische Situation von nicht zu unterschätzender Bedeutung. So zeigen Junker und Tauchert etwa am Beispiel der durch Fernhandel reich gewordenen Inselpolis Samos, wie ägyptische und kleinasiatische Vorbilder in der griechischen Damenmode abgewandelt wurden. Die Entwicklung in Athen dagegen zeigt die Abhängigkeit dessen, was als angemessene Kleidung galt, von der jeweiligen Herrschaftsform: Während man unter der Tyrannis der Peisistratiden versuchte, sich gegenseitig durch prunkvolle Gewänder, reichen Schmuck und üppige Frisuren zu übertrumpfen, wandelte sich die Mode mit dem Erstarken der Demokratie und des Gleichheitsgedankens grundlegend. Nun waren schlichtere Kleider aus oft ungemusterten Stoffen und unkompliziert hochgebundene Haare gefragt. Mit den Perserkriegen schließlich erreichten modische Anregungen aus dem Orient auch das griechische Festland: Plötzlich sind auch hier tunikaähnliche Kleidungsstücke mit langen Ärmeln nachweisbar.
Zur Ergänzung des spannenden Bilds, das sich aus den vielen akribischen Einzelbeobachtungen ergibt, hätte man sich nur zweierlei noch gewünscht: ein genaueres Eingehen auf die nur ganz am Rande erwähnte Fußbekleidung (oder ihr gelegentliches Fehlen) und einen Ausblick in die spätere Klassik und die hellenistische Zeit (für die allerdings die Quellenbasis dürftiger ist, wie die Autoren selbst erläutern). Ein wenig entschädigt für das Fehlen der weiteren antiken Entwicklung allerdings ein Exkurs, der auf die moderne Rezeption altgriechischer Kleidung eingeht, deren charakteristische Elemente Anfang des 20. Jahrhunderts der spanische Designer Fortuny mit dem Delphos-Kleid aufgriff.
Der schönste Schluss, den man aus der vergnüglichen und bereichernden Lektüre ziehen kann, ist also vielleicht der, dass sich die Beschäftigung mit der Antike nicht nur aus historischem Interesse lohnt, sondern auch reichlich ästhetische Inspiration zu bieten hat.

Klaus Junker, Sina Tauchert: Helenas Töchter. Frauen und Mode im frühen Griechenland. Darmstadt, Philipp von Zabern (WBG), 2015, 136 Seiten.
ISBN: 9783805348584


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Bach. Musik für die Himmelsburg

Die Zahl 14 spielte eine große Rolle für Johann Sebastian Bach (1685-1750), betrachtete er sie doch als Quersumme aus seinem Nachnamen (B=2, A=1 etc.). Die Spielereien, die der Komponist damit in seinen Stücken betrieb, greift John Eliot Gardiner subtil auf, indem er Bach. Musik für die Himmelsburg in 14 Kapitel unterteilt. Diese Mischung aus wacher Beobachtungsgabe und tiefem Verständnis prägt den Ton der gesamten anspruchsvollen Biographie, der es bei aller Detailverliebtheit nie an Humor und Menschlichkeit fehlt.
Die durchweg überzeugende Qualität des Buchs ist sicher auch der Tatsache zu verdanken, dass Gardiner nicht nur einer der profiliertesten Bach-Interpreten ist, sondern vor seiner endgültigen Hinwendung zu einer Musikkarriere auch mehrere Semester Geschichte studiert hat. Neben der musikwissenschaftlichen Perspektive, die sich in liebevollen Werkanalysen insbesondere der Johannes- und Matthäuspassion und der h-Moll-Messe niederschlägt, ist immer auch die Sicht des Historikers präsent, der seinen Protagonisten gekonnt in den kulturgeschichtlichen Kontext einzuordnen weiß.
In eine weitverzweigte Musikerfamilie hineingeboren, aber früh verwaist, erhielt Bach zunächst von seinem älteren Bruder Johann Christoph und danach als Chorschüler in Lüneburg eine gründliche musikalische Ausbildung. Nach wechselnden Organistenstellen und einer Zeit des Wirkens in Adelsdiensten in Weimar und Köthen hatte er von 1723 bis zu seinem Tode den Posten des Thomaskantors in Leipzig inne, das Amt, mit dem er heute wohl am stärksten assoziiert wird.
Während trotz beträchtlicher Verluste umfangreiche Teile seines kompositorischen Schaffens überliefert sind, ist der Mensch Bach, der bei privater Korrespondenz eher schreibfaul war, weit schwieriger zu fassen, wie Gardiner gerade im Vergleich mit anderen ungefähr gleichaltrigen Musikern (z.B. Georg Friedrich Händel, Georg Philipp Telemann, Jean-Philippe Rameau oder Domenico Scarlatti) zu belegen weiß. Die Persönlichkeit, die sich beim genauen Hinsehen aus den Quellen herausschält, ist nicht ohne Widersprüche: Einem bisweilen jähzornigen und arroganten Mann, der gerade in jungen Jahren mehrfach in Tätlichkeiten verwickelt war, später mit Arbeitgebern und Kollegen im Dauerstreit lag und wohl auch nicht davor zurückschreckte, die Haushaltsbücher zu fälschen, um die eigene Frau über kostspielige Buchkäufe zu täuschen, steht ein tiefreligiöser und berückend sensibler Künstler gegenüber, der äußerst einfühlsam Worte, Gefühle und Musik zu verbinden verstand.
Obwohl auch weltliche Stücke zur Sprache kommen, deren Aufführung oft genug nicht etwa an Fürstenhöfen, sondern in Leipziger Kaffeehäusern stattfand, gilt Gardiners Hauptaugenmerk Bachs geistlichen Werken, insbesondere auch seinen Kantaten. Interesse an der Musik selbst und an den mit ihr verbundenen Glaubensinhalten sollte man bei der Lektüre durchaus mitbringen, denn beide Aspekten werden gerade in den späteren Kapiteln bis in alle Einzelheiten beleuchtet (wobei im Zweifelsfalle ein Glossar beim Verständnis musikalischer Fachbegriffe hilft). Die Himmelsburg des Untertitels bezieht sich nicht ausschließlich auf eine von Bachs Wirkungsstätten (eine heute zerstörte Weimarer Schlosskirche gleichen Namens); zentraler ist die  übertragene Bedeutung.
Dabei gibt es manch Unerwartetes und Erstaunliches zu erfahren, so etwa, dass Bach aufgrund bestimmter theologischer Aussagen, die in seinen Stücken mitschwangen, in Konflikt mit der eher konservativen Leipziger Geistlichkeit geriet, der sein Blickwinkel zu originell und radikal war. Deutlich wird aber zugleich, dass dennoch gerade Leipzig Bach Freiräume und Entfaltungsmöglichkeiten bot, die er anderswo vermutlich nicht gehabt hätte, so dass sein Werk nicht losgelöst von seiner beruflichen Laufbahn betrachtet werden kann.
Dass sich dies alles wunderbar flüssig und anregend liest, ist in der deutschen Fassung auch der Übersetzung von Richard Barth zu verdanken, die einen über weite Strecken vergessen lässt, dass man es mit einem im Original auf Englisch verfassten Buch zu tun hat.
Abgerundet wird der Band durch eine Fülle von Abbildungen, die nicht immer nur rein illustrierende Funktion haben, sondern teilweise selbst zum Objekt spannender Interpretationen werden. Eines der wiedergegebenen Kunstwerke – ein Aquarell der Thomaskantorei von Felix Mendelssohn Bartholdy – bringt den Autor zu dem Urteil, Mendelssohn sei „auf jedem Gebiet (…), dem er sich zuwandte“, begabt gewesen. Das möchte man nach der Lektüre auch Gardiner selbst bescheinigen, denn eine so brillante Annäherung an Bach, wie er sie hier vorlegt, ist vielleicht noch niemandem sonst gelungen.

John Eliot Gardiner: Bach. Musik für die Himmelsburg. München, Hanser, 2016, 735 Seiten.
ISBN: 9783446246195

 


Genre: Biographie, Kunst und Kultur

Faszination Nijinsky. Annäherung an einen Mythos

Eine Annäherung an einen Mythos verspricht Petra van Cronenburg im Untertitel ihres Buchs über den berühmten Balletttänzer Vaslav Nijinsky (1889-1950), und in der Tat ist das, was sie vorlegt, keine klassische Biographie. Wer mit streng chronologisch organisierter Wissenschaftsprosa rechnet, die den Werdegang ihres Protagonisten von der Wiege bis zur Bahre nachzeichnet, erlebt hier eine Überraschung. Denn was mit Nijinskys skandalumwitterter erster Choreographie L’Après-midi d’un faune (1912) einsetzt, macht das Schreiben über die Kunst selbst zum Kunstwerk.
In drei „Hefte“ aufgeteilt und mit Zitaten von Zeitgenossen durchflochten bietet der auch typographisch liebevoll gestaltete Band zunächst ein Lebensbild Nijinskys, um dann in ausführlichen Interviews mit dem Ballettdirektor Ralf Rossa und dem Kunsthistoriker Michael Braunsteiner Nijinsky als Tänzer und als bildenden Künstler in den Blick zu nehmen (Abbildungen von Nijinskys eigenem zeichnerischen Schaffen sind übrigens das Einzige, was man in dem mit einer Fülle von Fotos des Tänzers und der Privatperson illustrierten Buch ein wenig vermisst).
Kaleidoskopartig entwickelt sich aus vielen Einzelbeobachtungen und unterschiedlichen Perspektiven das sensible Porträt eines Menschen, der zwar als Ausnahmekünstler das Ballett revolutionierte, aber seinen eigentlichen Wunsch nie erfüllt sah, nicht primär intellektuell verstanden, sondern emotional angenommen zu werden. Umso passender und berührender sind die intensiven Schilderungen im biographischen Teil, die über weite Strecken zum Mitempfinden anregen.
Mitempfinden heißt in diesem Fall auch und vor allem Mitleiden, denn ein glückliches Leben führte Nijinsky nicht, und das nicht nur, weil er den Starrummel um seine Person schlecht verkraftete und es sich und seinem Umfeld als Perfektionist mit ambitionierter künstlerischer Vision oft alles andere als leicht machte. Schon als junger Ballettschüler in Russland aufgrund seiner außergewöhnlichen Begabung Neid und Anfeindungen ausgesetzt, geriet er in seinem Privatleben immer wieder in zwiespältige Liebesbeziehungen. So förderte zwar der wesentlich ältere Sergej Diaghilew als Impresario der Ballets Russes die Karriere seines jungen Geliebten, dominierte ihn aber auch und nutzte ihn aus. Auch Nijinskys überstürzt geschlossene Ehe mit seiner zudringlichen Verehrerin Romola de Pulszky, die wohl eher ihr Idealbild von ihm als den realen Menschen liebte, war auf die Dauer kein Glücksgriff, sondern begünstigte seine als Schizophrenie fehldiagnostizierten Depressionen. Durch eine Gefangenschaft im Ersten Weltkrieg noch zusätzlich gebeutelt, glitt er ab 1919 immer tiefer in seine psychische Erkrankung ab und war jahrzehntelang fragwürdigen Therapien ausgesetzt, die ihn auch körperlich zugrunde richteten.
Während seiner kurzen aktiven Zeit jedoch faszinierte er sein Publikum als Tänzer nicht nur durch seine überragende Körperbeherrschung und seine androgyne erotische Ausstrahlung, sondern ging auch das Risiko ein, das Ballett mit provokanten Darbietungen aus dem Bereich der gefälligen Unterhaltung zu lösen und als eigenständige Kunstform in die Moderne zu führen.
Petra van Cronenburgs großes Verdienst ist es in diesem Zusammenhang, Nijinsky nicht etwa isoliert zu betrachten, sondern ihn in den Kontext der grenzübergreifenden europäischen Kulturszene einzufügen, der der Erste Weltkrieg schon einen entscheidenden Schlag versetzte und die mit dem Zweiten Weltkrieg endgültig unterging (wie von Volker Weidermann in Ostende eingefangen). Anhand herausragender Einzelwerke wie Thomas Manns Tod in Venedig und ganzer Strömungen wie der erwachenden Begeisterung für vor- und frühgeschichtliche Kunst wird der geistige Kosmos, in dem Nijinsky sich bewegte, feinfühlig umrissen. Gelegentlich geht der Blick sogar über den Atlantik, denn selbst Charlie Chaplin blieb von Nijinsky nicht unbeeinflusst.
So ist die Lektüre nicht nur für Ballettinteressierte eine große Bereicherung, sondern wirft auch ein Schlaglicht auf eine Epoche, der die brutalen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts den Todesstoß versetzten, die aber immer noch immensen Einfluss auf unser heutiges Kunst- und Kulturverständnis hat. Nijinskys Tragik verweist damit über sein individuelles Schicksal hinaus auf größere Zusammenhänge, deren Kenntnis gerade angesichts unserer unruhigen Gegenwart lehrreicher und wichtiger denn je ist.

Petra van Cronenburg: Faszination Nijinsky. Annäherung an einen Mythos. Münster, Edition Octopus (Monsenstein und Vannerdat), 2011, 128 Seiten.
ISBN: 9783869913629


Genre: Biographie, Kunst und Kultur

The Amazons. Lives and Legends of Warrior Women across the Ancient World

Die Amazonen – ein kriegerisches Frauenvolk mit teilweise recht rauen Sitten – sind ein unverzichtbarer Bestandteil der antiken Mythologie. Dass die zahlreichen Geschichten um sie einen wie auch immer gearteten wahren Kern haben könnten, wird jedoch in der Forschung oft bestritten. Dieser Position stellt Adrienne Mayor in The Amazons die differenzierte und durchaus überzeugende These entgegen, dass der eigentliche Ursprung der griechischen Amazonenvorstellung zwar nicht mehr fassbar ist, ihre spätere Ausgestaltung aber in hohem Maße von realen Phänomenen beeinflusst war.
Auch Mayor nimmt die allgemein bekannten Sagen zum Ausgangspunkt, zeigt aber auf, dass die tragischen Schicksale von Penthesilea, Hippolyte oder Antiope nur einen Bruchteil der antiken Überlieferung über die Amazonen darstellen und noch nicht einmal unbedingt repräsentativ sind.
Während in den meisten heute noch berühmten Amazonenmythen nämlich stereotyp die Kriegerin von einem männlichen Helden (wie etwa Achill oder Herakles) besiegt wird, sieht es in der Kunst, in historiographischen Texten, in Stadtgründungssagen oder im lokalen Kult um Amazonengräber oft anders aus. Hier treten Amazonen in vielfältigen, durchaus auch positiv konnotierten Rollen auf und bleiben nicht das faszinierende, am Ende aber doch überwundene Gegenbild zur erwünschten Gesellschaftsordnung.
Bemerkenswert ist daran, dass ab dem 6. Jh. v. Chr. insbesondere in der Vasenmalerei, aber auch in manchen Sagen Details etwa der Bekleidung und Bewaffnung aufscheinen, die Amazonen in den skythischen Kulturraum verweisen.
Mayor vergleicht diese Darstellungen daher mit den reichhaltigen archäologischen Funden aus den Bestattungen eurasischer Steppennomaden, insbesondere der Skythen und Sarmaten, mit denen die Griechen am Schwarzen Meer direkt in Berührung kamen. Zwar gab es unter den Nomaden kein reines Frauenvolk wie die mythischen Amazonen, aber im Vergleich zu den rigiden altgriechischen Geschlechterrollen waren Aufgabenverteilung und Beziehungen zwischen Mann und Frau hier flexibler und einem gewissen Maß an Gleichberechtigung näher. So deuten Grabbeigaben und die Abnutzungsspuren an den Überresten Verstorbener darauf hin, dass es weitreichende Überschneidungen zwischen traditionell als „männlich“ und „weiblich“ eingestuften Tätigkeitsfeldern gab: Frauen konnten an Kämpfen und Jagden ebenso beteiligt sein wie umgekehrt Männer an Textilherstellung und Kinderbetreuung.
Den mit dieser  für sie fremden Welt konfrontierten Griechen – so Mayors ansprechende zentrale Vermutung – mögen die unabhängigen und kämpferischen Frauen wie sagenhafte Amazonen erschienen sein, so dass diese in der Folgezeit mit diversen Charakteristika der echten Nomadinnen ausgestattet wurden. Bestechend ist in dem Zusammenhang vor allem die Beobachtung, dass bisher von der Wissenschaft als Nonsens-Inschriften abgetane Buchstabenfolgen auf Amazonenvasen durchaus einen Sinn ergeben – allerdings nicht auf Griechisch, sondern als Eigennamen oder kurze Äußerungen aus Sprachen des eurasischen Steppenraums.
Überall in diesem Gebiet und an seiner Peripherie berichten sowohl Mythen als auch glaubhafte Quellen die gesamte Antike hindurch immer wieder von Kämpferinnen. Mayor trägt hier eine Fülle von Details zusammen, und so lernt man die Nartensagen des Kaukasus ebenso kennen wie angebliche „Amazonen“, denen Alexander der Große und Pompeius begegneten, oder heute eher unbekannte Einzelpersönlichkeiten wie Hypsikratea, die letzte Ehefrau des Mithridates VI. von Pontus, die ihren Mann unter anderem als Reiterkriegerin unterstützte.
Eine reiche Bebilderung mit Kartenmaterial sowie Fotos von Kunstwerken und archäologischen Funden (teilweise in Farbe) rundet den schönen Band ab.
Was dem Buch fehlt, ist ein Schlusswort oder Fazit. Der Text endet recht unvermittelt nach der Schilderung von Heldinnen der chinesischen Geschichte und Mythologie, und man wünscht sich, Mayor hätte hier noch einmal Folgerungen aus der Darstellung gezogen oder zumindest ihre bisherigen Ergebnisse zusammengefasst. Durch diesen Verzicht behalten die Amazons ein wenig den Charakter einer mit viel Verve und Akribie zusammengetragenen Materialsammlung, deren Verdienst es ist, das in Archäologie und Geschichte oft allenfalls als Kuriosum am Rande behandelte Thema kriegerischer Frauen in der Antike in den Mittelpunkt zu rücken und in seiner kulturellen Bedeutung fassbar zu machen.

Adrienne Mayor: The Amazons. Lives and Legends of Warrior Women Across the Ancient World. Princeton und Oxford, Princeton University Press, 2016 (vorliegende Ausgabe; Original: 2014), 519 Seiten.
ISBN: 9780691147208


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Papier. Wie eine chinesische Erfindung die Welt revolutionierte

Papier ist ein Material, das aus unserem täglichen Leben nicht mehr wegzudenken ist. Historisch betrachtet ist es aber eine noch relativ junge Erfindung, die alle Gesellschaften, die sie übernahmen, merklich veränderte. Letzteres ist das, worauf es Alexander Monro in Papier. Wie eine chinesische Erfindung die Welt revolutionierte vor allem ankommt. Um Papier selbst und seine Herstellung geht es zwar immer wieder, aber nur in relativ kurzen Abschnitten, und auch viele seiner Verwendungsmöglichkeiten werden nur gestreift. Im Vordergrund stehen unangefochten die Auswirkungen, die sich aus der Verfügbarkeit eines günstigen und massenhaft herstellbaren Beschreibstoffs für eine Kultur ergeben, insbesondere die rasche Verbreitung und Zugänglichmachung religiöser und politischer Ideen. Ein zweites Auf der Spur des Papiers ist das vorliegende Werk also nicht, sondern vielmehr eine schwungvolle Geistes- und Religionsgeschichte Eurasiens, die das Papier zum Ausgangspunkt nimmt, ohne ihm unbedingt die Hauptrolle einzuräumen.
Chronologisch der Ausbreitung des Papiergebrauchs folgend wird der durch ihn angestoßene Wandel am Beispiel  Chinas – des Ursprungslands des Papiers -, der islamischen Welt und Europas geschildert. Bis das Papier die Bühne betritt, braucht es dabei jeweils einen gewissen Vorlauf, sind doch die spezifischen Veränderungen in den einzelnen Kulturräumen nur vor dem Hintergrund der jeweiligen Ausgangsbedingungen verständlich. So erfährt man viel über das auf Bambus und Seide schreibende Gelehrtentum im alten China, die Herausbildung des Islam als klassischer Schriftreligion und die Tatsache, dass gerade die bevorzugte Buchform des Codex und das lateinische Alphabet im spätmittelalterlichen Europa die Durchsetzung des Drucks mit beweglichen Lettern ermöglichten, die trotz entsprechender Erfindungen in China gescheitert war. Schlusspunkt der historischen Darstellung ist die französische Revolution, in deren Forderung nach Pressefreiheit und Abschaffung der Zensur Monro einen entscheidenden Meilenstein zu unserem heutigen Verhältnis zum Papier sieht.
Aufgelockert wird die Schilderung der großen Entwicklungslinien dadurch, dass immer wieder Einzelpersönlichkeiten eine ausführliche Würdigung erfahren: Ob nun Bai Juyi (ein chinesischer Dichter der Tang-Dynastie), der Prophet Mohammed oder der Reformator Martin Luther, sie alle werden biographisch und mit ihrem Einfluss auf Schrift- und Publikationskultur vorgestellt. Während der Zusammenhang mit dem Papier bei manchen von ihnen auf den ersten Blick deutlich wird – so konnten sich etwa Luthers Gedanken nur durch gedruckte Flugblätter so rasch und umfassend verbreiten, dass sie europaweit eine Massenbewegung auslösten -, besteht er bei anderen Gestalten allenfalls indirekt. Auch bei den übrigen zahlreichen Exkursen, etwa zur Architektur, entfernt sich der Text stellenweise sehr weit von seinem zentralen Thema, doch da Monros Sprache sich in der kenntnisreichen Übersetzung durch Yvonne Badal angenehm flüssig liest, lässt man sich gern durch alle Abschweifungen mitziehen.
Am Ende darf natürlich der Blick auf die moderne Entwicklung hin zur fortschreitenden Digitalisierung nicht fehlen. Obwohl Monro hier durchaus eine Ablösung des Papiers auf manchen Gebieten konstatiert, geht er dennoch davon aus, dass es in mancherlei Hinsicht unersetzlich bleiben wird – nicht nur dank seiner oft beschworenen Haptik, sondern auch, weil seine Verlässlichkeit gegenüber der Unbeständigkeit computergestützter Daten Vorteile hat. Dieser Gedanke dürfte alle Freunde von Papierbüchern hoffnungsvoll stimmen.

Alexander Monro: Papier. Wie eine chinesische Erfindung die Welt revolutionierte. München, C. Bertelsmann, 2015, 543 Seiten.
ISBN: 9783570100103


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Zeichnen für verkannte Künstler

Die künstlerischen Ambitionen sind groß – aber mangelnde Übung, Selbstzweifel und Unsicherheit, wie man mit Kritik umgehen soll, verhindern die Umsetzung? John Cassidy und der als Roald-Dahl-Illustrator bekannte Quentin Blake versprechen Abhilfe für verkannte Künstler jeglichen Alters. In der Tat kann wahrscheinlich jeder vom Grundschulkind bis zum Rentner großes Vergnügen an diesem etwas anderen Zeichenlehrgang haben, der einen animieren will, spontan „nach der Einfach-Drauf-Los-Methode“ ausdrucksvolle Skizzen hinzuwerfen.
Fotorealistische Zeichnungen werden einem auf diesem Wege zwar nicht gelingen, aber wer es darauf nicht abgesehen hat, findet hier viele Anregungen und am Rande sogar sehr sinnvolle Grundlagentipps zu Perspektive, Anatomie von Mensch und Tier, Mimik und Gestik oder Licht und Schatten. Selbst diese eigentlich ernsthaften Inhalte sind aber augenzwinkernd verpackt (so steht zum Üben des Schattenwurfs etwa ein Hase in unterschiedlichen Posen vor einem Scheinwerfer Modell).
Vor allem aber finden sich viele Zeichnungen zum Vervollständigen (der „grässliche, gefürchtete, 14-beinige Galumposaurus braucht noch ein Hinterteil“) und herrlich absurde Vorschläge (etwa der, „einen Eimer im Londoner Nebel“ aufs Papier zu bringen), die man dank reichlich Platz ggf. auch direkt im Buch umsetzen kann. Charmant wird dabei immer wieder vor übertriebenem Perfektionismus, harscher Selbstkritik und zu starker Orientierung am Urteil anderer gewarnt. Auch dies geschieht zwar in humorvoller und witziger Form, ist aber als Ermunterung und Ermutigung nicht nur beim Zeichnen, sondern bei allen kreativen Tätigkeiten erstaunlich wirkungsvoll.
Ein wenig schade ist allein, dass die Übersetzung dort, wo es gilt, lückentextartig den eigenen Namen einzusetzen, nicht in jedem Fall geschlechtsneutral formuliert ist oder zumindest mehrere Optionen offenhält. Hier würden sich sicher viele kleine und große Künstlerinnen wünschen, mit berücksichtigt worden zu sein.
Doch abgesehen von diesem Wermutstropfen, für den nicht die Autoren, sondern die Tücken der deutschen Grammatik und der Umgang damit verantwortlich sind, ist Zeichnen für verkannte Künstler einfach ein Riesenspaß, der einen auf jeder Seite zum Lachen bringt und einem dabei die Angst davor nimmt, in Sachen Kunst ohnehin ein hoffnungsloser Fall zu sein.

Quentin Blake, John Cassidy: Zeichnen für verkannte Künstler. München, Antje Kunstmann, 2010, 108 Seiten.
ISBN: 9783888976902


Genre: Kinderbuch, Kunst und Kultur

Die Ritter

Wenn eine Gestalt idealtypisch für das Mittelalter an sich steht, dann ist es wohl der Ritter. Ob als Held von Romanen und Filmen, Werbefigur oder Kinderspielzeug, er ist in der Vorstellungswelt bis heute sehr präsent und prägt das Bild einer ganzen Epoche. Genauso allgemein bekannt ist jedoch, dass die ritterliche Lebenswirklichkeit sich oft sehr von ihrer Überhöhung in Kunst und Literatur unterschied. Umso spannender ist der von Karl-Heinz Göttert gewählte Ansatz, sowohl reale als auch imaginäre Ritter zu untersuchen und aufzuzeigen, wie beide sich in Hoch- und Spätmittelalter gegenseitig beeinflussten und auch in die Erinnerungskultur der folgenden Jahrhunderte eingingen.
Die fortdauernde Faszination der Ritter führt Göttert dabei originellerweise auf ihre (Handlungs-)Freiheit zurück: Als Kämpfer, die sich aus eigenem Willen entscheiden, Abenteuer zu erleben oder sich für andere einzusetzen, eignen sie sich hervorragend als Projektionsfläche für Wünsche und Sehnsüchte. Historisch war allerdings nicht jeder Ritter so ungebunden: Rein rechtlich betrachtet konnte es sich bei ihm durchaus um einen unfreien Ministerialen handeln. Bis aus der reinen Funktionsbezeichnung für einen Reiterkrieger ein ideelles Konzept und ein sozialer Stand wurden, war es ein weiter Weg, den sowohl religiöse Überzeugungen als auch höfische Kultur und Literatur stark beeinflussten.
Bei seiner Schilderung dieser Entwicklung stellt Göttert immer wieder die Überlieferung zu bestimmten Themen (wie z.B. Krieg, Turnier, Schwertleite oder höfisches Benehmen) in den historischen Quellen ihrer jeweiligen Behandlung in der fiktionalen Literatur gegenüber. Diese bildete die Realität nicht etwa nur geschönt ab, sondern wirkte auch auf sie zurück, ob nun eher allgemein durch das Entwerfen moralischer Vorbilder oder ganz konkret, wenn man sich von ihr z.B. zu „Tafelrundenturnieren“ inspirieren ließ und liebgewonnene Geschichten nachzustellen trachtete.
Deren Reiz ist durchaus auch für den modernen Leser erhalten, und Götterts humorvolle Inhaltsskizzen verschiedener Texte können als lockerer Einstieg in die Artusepik, aber auch in manch anderes Werk mit mehr oder minder ritterlichen Protagonisten dienen. Der Schwerpunkt liegt dabei eindeutig auf dem deutschsprachigen Raum.
Das Gleiche gilt übrigens für die Auseinandersetzung mit den historischen Rittern: Während in der internationalen Forschung oft sehr stark die Situation in England und Frankreich im Vordergrund steht, legt Göttert auch hier den Fokus auf Deutschland und zieht ein aus heutiger Perspektive eher regionalgeschichtlich bedeutendes Ereignis wie die Schlacht bei Worringen als Musterbeispiel für einen militärischen Konflikt des Hochmittelalters heran. Wenn es sich anbietet, richtet jedoch auch er den Blick immer wieder auf andere europäische Regionen (eine so bekannte und populäre Gestalt wie William Marshal darf natürlich auch hier nicht fehlen, wenn es um das Turnierwesen geht).
Bei allem merklichen Vergnügen an seinem Gegenstand spart der Verfasser nicht mit Kritik an Rittern wie Ritterromanen. Während bei Ersteren auf den ersten Blick deutlich wird, dass sie oft auch alles andere als löbliche Taten begingen (ob sie nun Massaker auf Kreuzzügen anrichteten oder als Raubritter kriminell wurden), werden bei Letzteren die negativen Züge gern übersehen. Doch selbst in der Darstellung idealer Ritter schwingt eine latente Heroisierung von Gewalt mit, und die Brutalität, mit der manch ein literarischer Held zu Werke geht, wirkt bei genauerer Betrachtung eher abschreckend als nachahmenswert.
Ihren Charme über die Jahrhunderte hinweg bewahrt haben dagegen viele der Ritter aus Miniaturen und Wandmalereien, Zierteppichen und Skulpturen. Das Buch kann daher mit einer Fülle von Illustrationen aufwarten, die zu betrachten großen Spaß macht und deren Analyse oft auch in Götterts Überlegungen einfließt. Aus den Informationen aller möglichen Quellengattungen und elegant eingeflochtenen Details ergibt sich so ein eindrucksvolles Panorama.
Bis auf wenige kleine Flüchtigkeitsfehler (so kann etwa die für das Porträt Maximilians I. auf S. 262 angegebene Datierung 1460/61 beim besten Willen nicht stimmen) bieten Die Ritter also einen spannenden und rundum gelungenen Einstieg in das kulturgeschichtliche Phänomen des Rittertums.

Karl-Heinz Göttert: Die Ritter. Stuttgart, Reclam, 2011, 298 Seiten.
ISBN: 9783150108079


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Kunst der Vorzeit. Felsbilder aus der Sammlung Frobenius

Seit im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert in Spanien und Frankreich steinzeitliche Höhlenmalereien entdeckt und als prähistorisch erkannt worden waren, wuchs nach und nach auch das Interesse der Forschung an Felsbildern auf anderen Kontinenten. Einer der Vorreiter der Beschäftigung damit war der Ethnologe Leo Frobenius, der zwischen 1904 und 1938 zahlreiche Expeditionen insbesondere nach Afrika ausrichtete, um Malereien und Steinritzungen zu untersuchen. Da er der Fotografie bis zu einem gewissen Grade misstraute, ließ er von Mitarbeitern seines Instituts unzählige, oft sehr großformatige Kopien der Felsbilder anfertigen. Sie stehen im Mittelpunkt von Kunst der Vorzeit, dem Katalog der gleichnamigen, von Januar bis Mai 2016 im Berliner Martin-Gropius-Bau gezeigten Ausstellung.
Der Titel ist allerdings etwas irreführend: Der prähistorischen Kunst selbst ist nur ein sehr kurzer Textabschnitt gewidmet. Im Mittelpunkt der verschiedenen hier versammelten Aufsätze stehen vielmehr Entstehungs-, Ausstellungs- und Wirkungsgeschichte der Kopien und die Lebenswege ihrer Schöpfer.
Die einprägsamste Gestalt ist sicher Leo Frobenius selbst, der als Persönlichkeit voller Widersprüche erscheint. Als exzentrischer Autodidakt wurde er zum international geachteten Ethnologen, der sich einerseits immer wieder mit den Mächtigen seiner Zeit (von Kaiser Wilhelm II. über Hindenburg bis hin zu Hitler) zu arrangieren wusste, um finanzielle Unterstützung für seine Expeditionen einzuwerben, andererseits aber seinem eigenen Weg treu blieb und dabei unkonventionelle und zum Teil erstaunlich modern wirkende Ansichten vertrat.
So beklagte er in einer Epoche, in der Außereuropäisches oft noch pauschal als rückständig und minderwertig wahrgenommen wurde, dass „unter dem Einflusse des europäischen Wirtschaftslebens jetzt die afrikanische Kultur zersetzt wird“. Seine Forschungen sah er auch als Möglichkeit, anhand ähnlicher Motive in prähistorischen Darstellungen die gemeinsamen Ursprünge und das Verbindende unterschiedlicher Kulturkreise und Kunstrichtungen zu betonen. Darüber hinaus ermöglichte er Malerinnen und Wissenschaftlerinnen, an seinem Institut und auf seinen Reisen gleichberechtigt mit ihren männlichen Kollegen zu arbeiten. Umgekehrt identifizierten sich besonders diese Frauen, deren Karrieremöglichkeiten anderswo eingeschränkter gewesen wären, sehr stark mit der Felsbildforschung und waren bereit, sich dafür aufzuopfern und große Risiken in Kauf zu nehmen.
Die oft abenteuerlichen Bedingungen, unter denen die Kopien vor Ort erstellt wurden, die eingesetzten künstlerischen Techniken und die – heute zum Teil überholten – Forschungsmeinungen von Frobenius und seinen Kollegen bilden aber nur einen der Schwerpunkte des Bandes. Mindestens ebenso wichtig ist die Wirkung, die von den Kopien in Europa und Nordamerika ausging, wo sie in Ausstellungen zu wahren Publikumsmagneten wurden.
Neben dem Interesse an den Felsbildern als historischen Zeugnissen, deren Originale oft in schwer zugänglichen Gebieten lagen, spielte dabei bald auch der künstlerische Blickwinkel eine Rolle. Viele zeitgenössische Maler insbesondere des Expressionismus (z.B. Ernst Ludwig Kirchner) kamen durch die Felsbildkopien mit prähistorischer Kunst in Kontakt und ließen sich davon inspirieren. Die mit dieser Thematik befassten Beiträge des Bands machen sehr schön sowohl die schöpferische Fruchtbarkeit dieser Auseinandersetzung als auch ihre Problematik deutlich, diente doch die Aneignung exotischer und vermeintlich „primitiver“ Kunstformen nicht selten der verfehlten Rückprojektion eigener Ideale.
So viel Spannendes und Anregendes sich aus Kunst der Vorzeit also lernen lässt, den eigentlichen Reiz des schönen Bildbands machen neben zahlreichen Fotos von Expeditionen und Ausstellungen vor allem die großformatigen Reproduktionen der Felsbildkopien aus. Der Verzicht auf eine Hochglanzoberfläche zugunsten eines matteren Papiers fängt die Anmutung der oft mit Aquarell- oder Leimfarben gefertigten Gemälde sehr gut ein, und ausklappbare Tafeln vermitteln zumindest ansatzweise einen Eindruck von der oft beachtlichen Ausdehnung. Daher lässt es sich auch wunderbar in dem Buch versinken, um einfach nur für eine Weile in den von ihrem Ursprung her sehr fernen, aber doch unmittelbar berührenden Bildern von Wildtieren, Menschen und merkwürdigen Mischwesen zu schwelgen.

Hélène Ivanoff, Karl-Heinz Kohl, Richard Kuba (Hrsg.): Kunst der Vorzeit. Felsbilder aus der Sammlung Frobenius. München, Prestel, 2016, 270 Seiten.
ISBN: 9783791355030


Genre: Kunst und Kultur