Raben haben von jeher in vielen Kulturen einen festen Platz in Mythologie, Sagen und Märchen. Dabei ist ihre Rolle so ambivalent wie ihr Ruf im wahren Leben: Während einerseits ihre Klugheit Bewunderung hervorruft, werden sie andererseits als Aasfresser auch immer wieder mit Tod und Ungemach in Verbindung gebracht. Ein buntes Potpourri von Rabengeschichten aller Art tragen Christel und Thomas Bücksteeg in ihrer Anthologie Märchen von Raben zusammen.
Gerahmt von zwei Rabengedichten von Heinz-Albert Heindrichs präsentieren vier Kapitel die Märchen und anderen Texte grob nach Themen geordnet. Unter der Überschrift Aitiologisches – oder: Wie manches begann trifft man zunächst in überwiegend aus Nordamerika und Sibirien stammenden Geschichten auf Raben als mächtige Schöpferwesen, aber auch als tricksterhafte Gestalten, die es nicht immer gut mit den Menschen meinen.
Anders ist das im zweiten Kapitel, Von helfenden, machtvollen und weisen Raben: Hier werden Raben überwiegend als unterstützende, manchmal aber auch erziehende Instanz tätig, um den Protagonisten der Märchen zu ihrem Glück zu verhelfen. Bisweilen treten sie jedoch auch als Gegner auf, so etwa der zunächst in einen Raben verwandelte böse Zauberer im Märchen Die Prinzessin auf dem Baum.
Dieser Schurke nimmt in gewisser Weise schon das Thema des dritten Kapitels, Von Verwandlungen, vorweg. Hier zeigt sich nämlich, dass Menschen leicht in Raben verwandelt werden können, wenn auch nicht immer freiwillig. Glücklicherweise lässt sich dieses Schicksal aber gegebenenfalls auch rückgängig machen, sei es durch die Hilfe einer mutigen Schwester (wie in den Sieben Raben der Brüder Grimm) oder durch das Herausfinden eines bestimmten Verwandelten unter vielen Raben – ein Motiv, das hier in Der Teufel und die hundert Raben aufscheint, einem aber vielleicht eher aus Otfried Preußlers Roman Krabat bekannt vorkommt.
Im vierten und letzten Kapitel, Verschiedenes mit Raben und Krähen, ist schließlich ohne besondere inhaltliche Klammer allerlei zusammengetragen, was sich um Raben dreht, aber nicht unbedingt als typisches Märchen einordnen lässt. So ist hier die Kyffhäuser-Sage um Friedrich Barbarossa enthalten, aber auch eine traurige, von Plinius überlieferte Geschichte aus dem alten Rom um die Tötung eines Raben durch einen Schuster, der daraufhin prompt selbst gelyncht wird, während man dem Raben feierlich die letzte Ehre erweist.
Gerade angesichts dieser doch sehr heterogenen Mischung von Textmaterial hätte man sich eine etwas ausführlichere Einordnung gewünscht, aber das Herausgeberpaar beschränkt sich in seinem knappen Vorwort auf die allerwesentlichsten Hinweise. Dieser Minimalismus in Sachen Beiwerk mindert jedoch das Vergnügen an der Lektüre der Geschichten selbst keineswegs, die viel Interessantes und Amüsantes enthalten (so etwa die der Sage Der Rabe und die Fischgräten zu verdankende Erkenntnis, dass es grätenfreien Hering gäbe, wenn die Rache eines von den Menschen verspotteten Raben nicht gewesen wäre). Nicht nur Rabenfans sollten also einmal einen Blick in die Märchen von Raben werfen.
Christel und Thomas Bücksteeg (Hrsg.): Märchen von Raben. 3. Aufl. Krummwisch bei Kiel, Königsfurt-Urania, 2020, 192 Seiten.
ISBN: 978-3-86826-080-9