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Mein Kompass ist der Eigensinn

Wird jemandem Eigensinn zugeschrieben, ist das selten als Kompliment gemeint. Von dieser Beobachtung geht Maria Almana in Mein Kompass ist der Eigensinn aus, um in einer sehr individuellen Mischung aus kulturhistorischer Betrachtung und Schreibratgeber eine positive Umdeutung des Begriffs vorzunehmen und ihre Leserinnen und Leser zu mehr Eigensinn, insbesondere auch beim Schreiben, zu ermuntern. Eigensinn steht für Almana nämlich nicht für egoistische Sturheit, sondern vielmehr für den Mut zur Individualität und das Bewusstsein für die eigene Subjektivität, die einem auch beim Bücherschreiben helfen können.

Ein typisches Selbsthilfebuch ist das, was sie vorlegt, allerdings nicht, auch wenn man an mehreren Stellen mithilfe kleiner Tests und Aufgabenstellungen überprüfen kann, wie es um den eigenen Eigensinn bestellt ist. Lektionen in mundgerechten Häppchen zum Durcharbeiten gibt es dagegen nicht, sondern einen mit einer Überfülle von Zitaten gespickten Spaziergang durch Literatur, Philosophie, Lebenskunst, Hirnforschung, Cultural Studies, Psychologie, Querdenken und Anderssein.

Dabei trifft man unter anderem auf den wortwörtlich seinen eigenen Weg gehenden Werner Herzog, auf den sich der Bedeutung verspielter Kreativität bewussten Johann Wolfgang von Goethe, den auf Selbstbeobachtung setzenden Michel de Montaigne, den unstillbar neugierigen Autodidakten René Descartes, dem durch Zeit und Raum flanierenden Walter Benjamin, die dem Eigensinn in Gestalt von Pippi Langstrumpf ein literarisches Denkmal setzende Astrid Lindgren und vor allem auch immer wieder auf Hermann Hesse und sein Anschreiben gegen Konventionen und Ideologien.

Auffällig an diesen Vorbildern an Eigensinn ist, dass es sich bei einer Mehrzahl von ihnen um Männer handelt – weil sie es im Vergleich zu Frauen oft leichter hatten und haben, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, oder weil ihr Eigensinn in vielen Fällen zumindest von der Nachwelt positiver als bei einer Frau wahrgenommen und damit auch auf breiterer Front rezipiert wird? Die Frage wird im Buch leider nicht geklärt, aber für die mit den Persönlichkeitsskizzen verflochtenen Anregungen, Leseempfehlungen und praktischen Tipps zum vor allem auch autobiographischen Schreiben ist das Geschlecht des Autors ohnehin sekundär.

Rasch wird in dem bunten Potpourri deutlich, dass Eigensinn beim Schreiben sich nicht auf die Originalität des Inhalts beschränken muss, sondern durchaus auch die Form erfassen kann: So erfährt man an bekannteren und unbekannteren Beispielen von einem Roman ohne den Buchstaben „e“, Sprachspielereien wie einem bewusst barockisierenden Text oder einem Buch in Gestalt einer Folge von Twitternachrichten. Eine große Chance sieht Maria Almana – sicher auch geprägt durch ihre eigene berufliche Tätigkeit im Lektorats- und Autorencoachingbereich – im Selfpublishing, das mehr Raum für Experimente lässt als klassische Verlagspublikationen.

Ihre Gedankenführung ist dabei nicht unbedingt stromlinienförmig, sondern eher assoziativ und mäandernd, mit Querverbindungen zu anderen Kapiteln, zu den Websites der Autorin und sogar Vorausverweisen auf noch gar nicht veröffentlichte Bücher (denn wie Maria Almana ankündigt, plant sie eine ganze Trilogie des Eigensinns, so dass irgendwann noch zwei Bände das vorliegende Werk ergänzen werden). Das ist bisweilen ungewohnt. Wer sich dennoch auf diese wirklich eigensinnige Herangehensweise einlässt und konzentriert liest, kann aber durchaus einige Denkanstöße aus Mein Kompass ist der Eigensinn mitnehmen und sich ermutigt fühlen, häufiger der eigenen Einschätzung zu vertrauen.

Maria Almana: Mein Kompass ist der Eigensinn. Grundlagen, Vorbilder & Nutzen. Ermutigung zum eigensinnigen Schreiben. Pulheim, edition texthandwerk (Tredition), 2019, 260 Seiten.
ISBN: 978-3-7497-6960-5 (e-Book; Taschenbuch: ISBN 978-3-7497-6958-2, Hardcover: ISBN 978-3-7497-6959-9)

 


Genre: Sachbuch allgemein

Der Esel steht

Im Jahre 1878 wanderte der Schriftsteller Robert Louis Stevenson mit einer Eselin namens Modestine durch die Cevennen und veröffentlichte ihm Jahr darauf einen Reisebericht darüber. Auf dem sogenannten Chemin de Stevenson (Stevensonweg) kann man seinen Spuren folgen – und genau das tut Erik Kormann, ebenfalls von einem Esel begleitet, und schildert seine Erfahrungen in diesem liebenswerten und unterhaltsamen kleinen Buch.

Die Eselwanderung durch Südfrankreich ist für ihn die Erfüllung eines Jugendtraums, da er sich schon früh für Stevensons Reise mit dem Esel durch die Cévennen begeistern konnte. Obwohl der literarische Bezug im Laufe der Tour durchaus immer wieder mitschwingt, steht er doch bald hinter den Erfahrungen im Hier und Jetzt zurück, ganz besonders hinter denen, die Kormann mit seinem langohrigen Reisebegleiter Narcisse, einem Esel mit Charakter, tagtäglich macht.

Mit wie viel Humor und Verständnis der Autor auf Narcisse eingeht, ganz gleich, ob der gerade mit Wonne fremde Blumenkästen leerfrisst, rüde ein Picknick sprengt oder selbst im Supermarkt die Nähe seines menschlichen „Herdenmitglieds“ sucht, macht das Buch ausgesprochen sympathisch. Man kann gar nicht anders, als sich selbst ein wenig in den schlingeligen Esel zu verlieben, der, wie schon der Titel verrät, nicht immer so läuft, wie sein Mensch es von ihm erwartet. Da das keine ganz eseluntypische Eigenheit ist, sind für Leserinnen und Leser, die selbst eine Eselwanderung planen, immer auch wieder Sonderseiten mit praktischen Tipps eingefügt, unter anderem auch eine augenzwinkernde Liste mit Gründen für das Stehenbleiben des Esels und möglichen Lösungsansätzen für das Problem.

Obwohl Narcisse also unangefochten die Bühne dominiert, bewahrt Kormann sich auch einen wachen Blick für die Umgebung und beschreibt lebendig Landschaft, Ortschaften, Unterkünfte von wechselnder Qualität, Begegnungen mit anderen Wandersleuten, kulinarische Genüsse und alles, was auf einer Reise durch Südfrankreich noch so schief- und gutgehen kann. Abgesehen davon kommt auch die Geschichte der Region nicht zu kurz. Neben dem Kamisardenaufstand, der von Ludwig XIV. blutig niedergeschlagen wurde, und den Umtrieben Kardinal Richelieus spielt vor allem immer wieder die sogenannte Bestie des Gévaudan eine Rolle, die im 18. Jahrhundert um die hundert Menschen tötete und bei der bis heute nicht geklärt ist, um was für eine Art von Raubtier es sich handelte. Während die historische Bestie jetzt niemandem mehr gefährlich wird, sondern vielmehr in Statuenform als Touristenattraktion dient, bemühen sich leider einige Hunde, ihr würdige Nachfolger zu sein, und machen Kormanns Wanderung etwas aufregender, als er es sich eigentlich vorgestellt hatte. Dass nach derart gefährlichen gemeinsamen Erlebnissen sein Weg mit Narcisse nicht endet, als der Urlaub vorbei ist, versteht sich eigentlich fast schon von selbst …

Kormann erzählt eingängig und oft etwas umgangssprachlich, so dass sein Text sich flott und flüssig liest. Zahlreiche Fotos und eine hübsch gestaltete Übersichtskarte des Stevensonwegs lockern das Buch zusätzlich auf. So bietet Der Esel steht vergnügliche und entspannte Lektüre für Frankreich- und Eselfans (und alle, die es noch werden wollen).

Erik Kormann: Der Esel steht. Durch Südfrankreich mit einem charmanten Langohr. München, Holiday (Gräfe und Unzer), 2020, 160 Seiten.
ISBN: 978-3834230652


Genre: Sachbuch allgemein

Von Glückszahl bis Geheimzahl

In ihrem vergnüglich zu lesenden Buch Von Glückszahl bis Geheimzahl wollen der Mathematiker Christian Hesse und der Meteorologe Karsten Schwanke zeigen, wie man – so der Untertitel – Mit Mathe die Rätsel des Alltags lösen kann. Wer daraufhin bloß eine Reihe von Rechentricks erwartet, wird positiv überrascht sein, denn die gibt es zwar in den 38 launig geschriebenen und betitelten Kapiteln auch, aber sie sind bei weitem nicht alles. Vielmehr findet man hier ein buntes Potpourri, das neben eigentlichen mathematischen Problemen auch allerlei naturwissenschaftliche Belange (vom Klimawandel bis zur Linkshändigkeit), Linguistisches, Psychologisches und Wissenschaftshistorisches für eine breite Leserschaft versammelt.

Die Autoren sind dabei vor allem bemüht, Berührungsängste abzubauen und gerade auch die Leserinnen und Leser, die von Haus aus keine großen Mathefans sind, für das Thema zu begeistern und selbst zum Rechnen anzuregen. Zu Anfang beginnt es darum noch recht einfach mit mathematischen Problemen, die einem so oder so ähnlich vielleicht auch schon einmal in anderen Büchern begegnet sind (wie etwa der Frage nach der Wahrscheinlichkeit, dass zwei Menschen in einer Gruppe am gleichen Tag Geburtstag haben, oder dem anderswo auch unter dem Begriff „Ziegentür“ bekannten Drei-Türen-Problem). Nach und nach steigert sich dann der Schwierigkeitsgrad, aber keine Sorge: Hesse und Schwanke erklären so eingängig und humorvoll, dass man an keiner Stelle Schwierigkeiten hat, der Argumentation und den Rechenoperationen zu folgen.

Auf sehr unterhaltsame Art erfährt man so z.B., wie die Verschlüsselung bei Geheimzahlen funktioniert und wie Codierungssysteme sich historisch entwickelt haben, wie es um die Gewinnwahrscheinlichkeit bei verschiedenen Glücksspielen bestellt ist, wie sich die Fehlerquote bei medizinischen Testverfahren auswirkt, wie man aus einer kleinen Lebendfangmenge die Gesamtanzahl von Fischen in einem Teich hochrechnen kann, warum ein 60er-System beim Rechnen in historischer Zeit gegenüber dem heute verbreiteten Dezimalsystem eindeutige Vorteile hatte, wie Wetterphänomene mithilfe von Zahlen kategorisiert werden und was es mit der berühmten 42 als Antwort auf alle Fragen bei Douglas Adams auf sich hat (oder eben auch nicht).

Daneben gibt es aber auch noch ganz praktische Tipps, um etwa beliebige zweistellige Zahlen ohne große Mühe im Kopf zu multiplizieren, einen Kartentrick vorzuführen oder zu errechnen, wie viele Stufen eine Treppe hat, ohne jede einzeln zu zählen (wobei die Technik, die einem die Ermittlung der Anzahl geistig erleichtert, körperlich immer noch anstrengend genug klingt, wenn man sie – wie hier vorgeschlagen – auf eine Turmtreppe im Kölner Dom anwenden will). Ein Augenzwinkern ist eigentlich immer dabei und macht das Buch nicht nur lustig, sondern auch ziemlich liebenswert.

Ein bisschen mehr Genauigkeit hätte man sich allerdings bei manchen historischen Angaben abseits der eigentlichen Wissenschaftsgeschichte gewünscht. So ist mir z.B. nicht klar geworden, wie man ein 1707 erschienenes Rätsel in „die viktorianische Zeit“ (S. 21) einordnen kann.

Alles in allem jedoch bietet Von Glückszahl bis Geheimzahl interessante und bereichernde Lesestunden, und wer Mathematik in seiner Schulzeit nicht gerade zu seinen Lieblingsfächern gezählt hat, wird nach der Lektüre dieses Buchs seine Meinung vielleicht überdenken.

Christian Hesse, Karsten Schwanke: Von Glückszahl bis Geheimzahl. Mit Mathe die Rätsel des Alltags lösen. München, Droemer, 2020, 256 Seiten.
ISBN: 978-3426278192


Genre: Sachbuch allgemein

Füchse

Der Fuchs erscheint aus menschlicher Sicht von jeher ambivalent. Einerseits als Schädling verschrien und als Jagdbeute erbarmungslos verfolgt, weckt das Tier andererseits durch seine Intelligenz und seine Schönheit immer wieder auch Neugier und Bewunderung. Nicht zuletzt deshalb spielt es in Mythologie, Kunst und Literatur vieler Kulturen eine bedeutende Rolle. Neben den biologischen Aspekten des Fuchsdaseins steht auch das spannungsreiche Verhältnis zwischen Füchsen und Menschen im Zentrum des Buchs Füchse. Unsere heimlichen Nachbarn, in dem Adele Brand – Naturforscherin, Weltreisende, Bloggerin und offensichtlich großer Fuchsfan – leidenschaftlich für ein friedliches Miteinander wirbt.

Auch wenn punktuell Beobachtungen aus anderen Regionen der Welt (z.B. Indien, Polen, Australien oder Nordamerika) eingestreut sind, liegt der Schwerpunkt dabei auf in London und seinem Umland lebenden Füchsen, deren Umwelt besonders stark vom Menschen geprägt ist. Die Stadtfüchse, die anders als Wölfe keine Rudel, aber doch territoriale Gruppen bilden, erscheinen dabei als clevere Opportunisten, denen zur Not auch heruntergefallene Pommes frites recht sind, wenn sich nicht genügend Mäuse, Regenwürmer oder Beeren finden, um über die Runden zu kommen. Von Räude ebenso bedroht wie vom Straßenverkehr, ziehen sie zwischen Gärten, Wohnhäusern und Gewerbegebieten ihre Jungen groß, spielen miteinander, vertreiben Rivalen und sind auch für einige nette Anekdoten gut. So beschreibt die Autorin unter anderem die ungewöhnliche Freundschaft zwischen einem Hund und einem wilden Fuchs, aber auch, wie Füchse in ihrem Garten ihre leichtsinnigerweise außerhalb des Hauses abgestellten Schuhe ramponieren. Auch die Arbeit mit Wildkameras erweist sich als gar nicht so einfach, wenn Brand etwa eine zur Behandlung einer Krankheit temporär gefangene Füchsin in ihrem Verschlag aufnehmen will und erkennen muss, dass sich ihr unfreiwilliger Gast energisch dagegen zu wehren weiß.

Abseits der Unmittelbarkeit solch gelungen eingefangener Einzelszenen bleibt Brands Darstellung allerdings steckenweise etwas oberflächlich. Vielleicht der Wendung an eine allgemeine Leserschaft geschuldet, ist manches verkürzt oder zu generalisierend dargestellt. So lässt Brand es z.B. klingen, als würden dort, wo Füchse in Gruppen leben, dominante Fähen stets etwaigen Nachwuchs niederrangiger Weibchen unmittelbar nach der Geburt töten. Vergleicht man dies mit den Angaben in wissenschaftlicher Literatur zum Thema, ist das aber so pauschal nicht zutreffend. Es handelt sich eher um eine Verhaltensweise, die zwar vorkommen kann, aber beileibe nicht muss, da in Fuchsgruppen durchaus auch die Würfe verschiedener Fähen gleichzeitig oder sogar gemeinsam erfolgreich großgezogen werden (vgl. z.B. diese Studie über den Einfluss des sozialen Rangs des Muttertiers auf das Abwanderverhalten junger Füchse im englischen Bristol).

Abseits ihres eigentlichen Fachgebiets sind Brands Angaben ohnehin mit Vorsicht zu genießen. So ist etwa die Aussage, bei der im 11. Jahrhundert entstandenen japanischen Geschichte vom Prinzen Genji handele es sich um den „möglicherweise ältesten Roman der Welt“ (S. 33), bestenfalls eine umstrittene These, schlimmstenfalls aber sogar falsch (so werden in aller Regel auch bestimmte literarische Werke der Antike schon als Romane gewertet).

Gerade bei solchen Verallgemeinerungen oder Ungenauigkeiten bedauert man den generellen Verzicht der Autorin auf Fußnoten, da man hier doch gern nachvollzogen hätte, aus welchen Quellen sie ihre Angaben entnimmt. Auch sonst wirkt manches ein bisschen unglücklich, so etwa die in der Werkzeugkiste für Fuchsfreunde – einem Abschnitt mit praktischen Tipps zur Fuchsbeobachtung – gegen Ende des Buchs enthaltene Liste von möglichen Referats- und Dissertationsthemen mit Fuchsbezug; hier hat man fast das Gefühl, ein Pendant der unsäglichen Book Club Questions englischsprachiger Jugendliteratur in ein Sachbuch für Erwachsene übertragen zu sehen. Bedauerlich ist zudem, dass als Illustrationen nur Schwarzweißfotos enthalten sind. Ein Farbtafelteil hätte den Band sehr aufgewertet.

Trotz all dieser Einschränkungen werden Leserinnen und Leser, die Füchse mögen, an der Lektüre stellenweise dennoch ihr Vergnügen haben und besonders in den Passagen, in denen individuelle Fuchspersönlichkeiten geschildert werden, einiges zum Staunen und zum Schmunzeln finden. Alles in allem jedoch bleibt man mit dem Eindruck zurück, dass hier einem faszinierenden Tier ein doch eher mittelprächtiges Buch gewidmet worden ist.

Adele Brand: Füchse. Unsere wilden Nachbarn. München, C.H. Beck, 2020, 208 Seiten.
ISBN: 978-3406751134


Genre: Sachbuch allgemein

Wie wir Menschen wurden

Die menschliche Evolution und damit auch die Entstehung spezifisch menschlicher Eigenschaften wie des aufrechten Gangs und der differenzierten Sprache spielten sich in Afrika ab, bevor der Mensch sich dann auf der ganzen Welt ausbreitete – so lautete lange die gängige Lehrmeinung, und so sehen die meisten die eigenen Ursprünge auch bis heute. Die Paläontologin Madelaine Böhme setzt dagegen ein differenzierteres Bild der Menschwerdung, in dem neben Afrika auch Europa und Eurasien sowie zahlreiche Wanderungsbewegungen zwischen diesen Kontinenten eine große Rolle spielen. Unterstützt von den Wissenschaftsjournalisten Rüdiger Braun und Florian Breier wendet sie sich mit ihrem Buch Wie wir Menschen wurden bewusst an ein breites Publikum, um an vermeintlichen Gewissheiten zu rütteln.

Von zentraler Bedeutung für Böhmes Gegenentwurf sind in Europa gemachte Funde, darunter der frühe Menschenaffe Danuvius guggenmosi, den Böhme selbst 2016 im Allgäu entdeckte und dessen besterhaltenes Exemplar – ein Männchen – nach dem Sänger Udo Lindenberg auf den Spitznamen „Udo“ getauft wurde, aber auch der in Griechenland entdeckte Graecopithecus freybergi und versteinerte Fußspuren auf Kreta, die einen frühen Beleg für den aufrechten Gang bilden. Wie andere typisch menschliche Merkmale (z.B. Besonderheiten der Zähne) könnte dieser sich durchaus zuerst in Europa herausgebildet haben.

Böhme attestiert den älteren Theorien jedoch ein großes Beharrungsvermögen in der Paläontologie, die sie ohnehin als eine Wissenschaft schildert, die zumindest partiell noch in einer Schatzsuchermentalität verharrt, wie sie für die Archäologie im 19. Jahrhundert typisch war, und in der es immer wieder auch zu Skandalen kommt. Als besonders kritikwürdig geschildert wird das Verhalten des französischen Paläontologen Michel Brunet, der hier des Verschwindenlassens eines nicht zu einer von ihm favorisierten Interpretation passenden Knochens des von seinem Team gefundenen Sahelanthropus tchadensis verdächtigt wird. Doch auch abgesehen von solchen Beispielen wissenschaftlich unsauberen Arbeitens wird deutlich, auf welch geringer Fundbasis oft sehr weitreichende Annahmen fußen.

Das, was sich über die menschliche Evolution mit Sicherheit sagen oder auch nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vermuten lässt, stellen Böhme und ihre Mitautoren jedoch sehr anschaulich und in einem reportagehaften, blendend lesbaren Stil dar, der auch für Leserinnen und Lesern, die sonst nie zum Sachbuch greifen, die Schwelle niedrig hält. Neben zahlreichen Fotos und Grafiken bereichern auch eindrucksvolle Rekonstruktionen des Künstlers Velizar Simeonovski, dessen Darstellungsweise im besten Sinne an die Bilder Zdeněk Burians erinnert, das Buch.

Doch auch im Text selbst wird neben reinen Sachschilderungen mehrfach zu einem imaginären Spaziergang durch eine prähistorische Landschaft eingeladen. An diesen immersiven Zeitreisen fällt allerdings eines auf: In den seltenen Fällen, in denen (vor-)menschliche Individuen handelnd hervortreten, stehen immer Männer im Mittelpunkt. So erleben wir „Udo“ (oder einen nahen Verwandten) bei der Verteidigung seiner Gruppe gegen ein Raubtier und später vier Urmenschenmänner, die nach einem Gewitter erkennen, dass das Feuer beherrschbar ist. Die ausführlicher besprochenen weiblichen Individuen (so z.B. der erste Fund eines Homo floresiensis oder „Denny“, ein Mädchen, das laut genetischer Untersuchung eine Neandertalerin zur Mutter und einen Denisova-Menschen zum Vater hatte) bekommen keine Auftritte in eigenen Lebensbildern. Das farbige Heraufbeschwören der urzeitlichen Welten reiht sich damit – wenn auch vermutlich nicht gezielt – leider in die Tradition ein, ein rein männerdominiertes Bild früherer Epochen zu entwerfen und Frauen und Kindern allenfalls Nebenrollen zuzubilligen.

Dieser kleine Wermutstropfen schmälert allerdings nicht die Leistung, ein auch für Laien ungemein gut zugängliches Werk über die Paläoanthropologie vorgelegt zu haben. Lesenswert ist Wie wir Menschen wurden allemal, solange man sich bei der Lektüre den kritischen Blick bewahrt, den Madelaine Böhme selbst wiederholt anmahnt.

Madelaine Böhme, Rüdiger Braun, Florian Breier: Wie wir Menschen wurden. Eine kriminalistische Spurensuche nach den Ursprüngen der Menschheit. München, Heyne, 2019, 336 Seiten.
ISBN: 978-3453207189


Genre: Sachbuch allgemein

Gäste in meinem Garten

Bienen, eine ganze Hühnerschar, eine Terrierdame namens Erbse, allerlei Wildvögel, eine verirrte Brieftaube, Weinbergschnecken und Eichhörnchen, die sich voller Begeisterung ihren Anteil an der Pilz- und Kirschernte sichern – das sind nur einige der Tiere, die in Susanne Wiborgs liebenswertem Buch Gäste in meinem Garten ihren Auftritt haben. Der von Rotraut Susanne Berner charmant und humorvoll illustrierte kleine Band ist eine Sammlung von Kolumnen, die sich mit Freud, Leid und dem Lauf der Jahreszeiten in einem Garten in der Stadt befassen.

Zwischen Linden, Kürbissen, Krokussen und einem großen Kirschbaum spielt sich das pralle Leben ab: Wenn die Hühner nicht gerade wegen Vogelgrippegefahr in den Stall verbannt sind, werden sie zur Gefahr für den Weinbergschneckennachwuchs, müssen selbst den Habicht fürchten und erregen das unverdiente Mitleid von Passantinnen, wenn sie in der Mauser für bedauernswerte Tierquälereiopfer gehalten werden. Die Bienen dagegen produzieren nicht nur eifrig Honig, sondern leben auch ihre Abneigung gegen intensives Parfüm gnadenlos aus, während die Hummeln ungeniert den Lerchensporn durchlöchern. Andere Gartengäste sind da deutlich diskreter: So ist die scheue Heckenbraunelle zwar erkennbar anwesend, lässt sich aber trotz aller Bemühungen der Autorin nicht beim Brüten ertappen.

Geschickt eingeflochten in diese Tierbeobachtungen und in die gärtnerischen Erlebnisberichte (z.B. über Abenteuer mit Indischem Springkraut oder großes Pech bei dem Versuch, neue Clematis anzupflanzen) sind zahlreiche Sachinformationen. Bei allem Unterhaltungswert kann man hier und da also noch einiges dazulernen. Vor allem aber hat man seinen Spaß, denn Susanne Wiborg ist eine Formulierungskünstlerin, deren leiser Humor oft schon aus den Überschriften der einzelnen Texte spricht, die unter anderem einen Königsmord im Hinterhof, eine Nackte auf der Einfahrt oder Rot sehen – aber richtig versprechen. Trotz einiger ernster und durchaus auch trauriger Stellen schmunzelt man sich also die meiste Zeit über zufrieden durch das Leseerlebnis. Gärtnernde Leserinnen und Leser werden häufig vor allem aufgrund des Wiedererkennungseffekts lachen (wenn z.B. eine neue Blume doch nicht die geplante Blütenfarbe entwickelt oder die Kürbiszucht nicht ganz so verläuft wie geplant), aber auch allen anderen seien die Gäste in meinem Garten als entspannte und sympathische Lektüre ans Herz gelegt.

Susanne Wiborg: Gäste in meinem Garten. Bienen, Amseln, Huhn und Star. Mit Bildern von Rotraut Susanne Berner. München, Verlag Antje Kunstmann, 2019, 142 Seiten.
ISBN: 978-3956142970


Genre: Sachbuch allgemein

Pflanzen im Mittelalter

Ob nun als Nahrung, Heilmittel, Bestandteil magischer Praktiken oder schöne Dekoration, Pflanzen sind bis heute aus keiner Epoche der Menschheitsgeschichte wegzudenken. Der Mediävist Helmut Birkhan spürt in seiner anregenden Studie Pflanzen im Mittelalter sowohl der ganz realen als auch der nur imaginierten Bedeutung der Flora für die mittelalterlichen Menschen nach. Unter den literarischen Quellen, auf die er sich dabei stützt, nehmen die Werke Konrads von Megenberg und Hildegards von Bingen die prominenteste Rolle ein, aber man begegnet auch Walahfrid Strabo, dem karolingischen Capitulare de villis, den an der Schwelle zur Frühen Neuzeit entstandenen Kräuterbüchern, dem St. Galler Klosterplan, so mancher Pflanzenerwähnung in der Dichtung und verschiedenen Bildern, unter denen das Frankfurter Paradiesgärtlein des sogenannten Oberrheinischen Meisters aus dem 15. Jahrhundert sicher zu den eindrucksvollsten zählt.

Trotz dieser vermeintlichen Quellenfülle ist es, wie schon in der Einleitung deutlich wird, keineswegs immer einfach, eindeutige Aussagen über Pflanzen im Mittelalter zu treffen, und das nicht, weil die Beschäftigung damaliger Gelehrter mit dem Thema von modernen naturwissenschaftlichen Standards noch ein gutes Stück entfernt war. Vielmehr stellen sich häufig allein schon sprachliche Zuordnungsprobleme, wenn eine mittelalterliche Pflanzenbezeichnung auf mehrere heutige Arten bezogen werden kann und die Beschreibungen vage genug bleiben, um eine exakte Identifikation unmöglich zu machen. Oft sind bei der Textauswertung also kleine oder große Rätsel zu lösen, aber Birkhan nimmt sich dieser Aufgabe voller Verve an.

Ein erster großer Abschnitt ist klassischen Nutzpflanzen gewidmet. Neben Getreide, Obst und Gemüse als wichtigen Grundsäulen der Ernährung spielen hier auch Pflanzen eine Rolle, aus denen Fasern für Textilien und Farbe gewonnen wurden, aber z.B. auch Holz und Schilf. Besonders beeindruckt Birkhan offenbar die Nutzung von fettgetränkten Binsen zur Beleuchtung, denn in der Folge setzt er das „Binsenlicht“ wiederholt als Sinnbild für seine eigene Forschungssituation ein, die die Vergangenheit nur ein wenig zu erhellen vermag, während vieles im Dunkeln bleiben muss.

Dieser Bescheidenheitsgestus kommt einem fast übertrieben vor, denn gerade im folgenden Kapitel, das Pflanzen im Hinblick auf ihre magische und medizinische Nutzung lexikalisch nach modernen Namen geordnet auflistet, weiß der Autor viele schlüssige Deutungen vorzuschlagen und nuanciert zwischen noch heute anerkannten Heilmethoden, solchen, die zumindest nach der mittlerweile überholten, aber im Mittelalter gültigen Humoralpathologie Sinn ergeben, und rein abergläubischen Vorstellungen zu unterscheiden.

Der folgende Abschnitt zu Nutz- und Lustgärten eröffnet bereits den Reigen der symbolischen Interpretation von Pflanzen, setzt er den Schwerpunkt doch eindeutig auf den Garten als bedeutungsvollen Schauplatz in literarischen Texten. Die Symbolik ist (neben Ausführungen zu Gesetzen über den Umgang mit Pflanzen) auch ein wichtiger Teil des Kapitels über Pflanzen im mittelalterlichen Recht. Umfangreicher ist die Betrachtung zu Pflanzen im Kontext der Religion. Hier sind besonders die zahlreichen Marienpflanzen berücksichtigt. Abschließend widmet Birkhan sich der Pflanze in der säkularen Kunst und Literatur des Mittelalters (wobei man sich sicher streiten kann, inwieweit die Einordnung von Weltenbäumen wie Yggdrasil in diesen Bereich schlüssig ist, da sie zwar nicht dem christlichen Kontext entstammen, als Produkte paganer Mythologie in ihrem Ursprung durchaus eine religiöse Komponente haben).

Der Anhang bietet neben den zu erwartenden bibliographischen Hinweisen auch einen nützlichen Index der erwähnten Pflanzen, die sowohl nach mittelalterlichen als auch nach modernen Bezeichnungen aufzufinden sind. Hervorzuheben ist die gelungene Buchgestaltung von Bettina Waringer, die mit Ausschnitten mittelalterlicher Bilder als Kapitelzierde arbeitet und ebenso wie das von J. Mullan aus Elementen des oben erwähnten Paradiesgärtleins reizvoll zusammengesetzte Cover dazu beiträgt, Pflanzen im Mittelalter zu einem auch äußerlich sehr schönen Buch zu machen. Inhaltlich lohnt sich die Lektüre sowohl für Mittelalterinteressierte als auch für Gartenbegeisterte unbedingt.

Helmut Birkhan: Pflanzen im Mittelalter. Eine Kulturgeschichte. Wien / Köln / Weimar, Böhlau, 2012, 312 Seiten.
ISBN: 978-3205787884


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur, Sachbuch allgemein

Im Wald

Die vielen Waldbücher, die insbesondere im Gefolge der literarischen Erfolge des Försters Peter Wohlleben in den letzten Jahren erschienen sind, haben in aller Regel eine naturkundliche Ausrichtung, ganz gleich, ob es nun eher um biologische Fakten oder um Tipps zur Freizeitgestaltung geht. Eine völlig andere Herangehensweise wählt dagegen Rita Mielke mit Im Wald, denn die – so der Untertitel – Wortwanderung durch die Natur nähert sich dem Wald aus sprachlicher und mentalitätshistorischer Perspektive.

Allen möglichen Begriffen, die mit dem Wald in Verbindung stehen, ist jeweils ein Kapitel gewidmet, das nicht nur die mit dem entsprechenden Wort am häufigsten verbundenen Assoziationen aufführt, sondern auch eine kurze Kulturgeschichte des menschlichen Blicks auf das Bezeichnete skizziert. Etymologie, Aberglaube, symbolische Zuschreibungen und religiöse Signifikanz finden hier ebenso ihren Platz wie zahlreiche Zitate aus literarischen Werken von der Antike bis in die heutige Zeit. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Europa, aber punktuell wird auch auf andere geographische Räume verwiesen.

Dabei begegnen die Leserinnen und Leser nicht nur den Bäumen selbst, aus denen der Wald besteht – ob nun Buche, Eiche oder Tanne -, sondern auch anderen Pflanzen wie der Mistel und zahlreichen tierischen Waldbewohnern wie Ameise, Eichhörnchen, Fuchs, Reh oder Specht. Daneben werden aber auch abstrakte Konzepte wie Einsamkeit behandelt, und auch Gestalten wie Hexe und Waldgeister, denen in Märchen und Geschichten gern ein Aufenthalt im Wald nachgesagt wird, haben ihren Auftritt.

Zwar kommt auch die ganz reale Waldnutzung durch den Menschen zur Sprache (z.B. wenn erwähnt wird, dass Fichtenholz oft zum Instrumentenbau verwendet wird), aber der Schwerpunkt liegt eindeutig auf den Vorstellungswelten, die der Wald heraufbeschwört. Vielfach fällt dabei auf, dass die menschliche Sicht insbesondere auf Tiere von Epoche zu Epoche schwankt und teilweise bis heute ambivalent bleibt: So wird der Wolf einerseits als bedrohlich und dämonisch (bis hin zum Phänomen des Werwolfs) geschildert, taucht andererseits aber schon früh auch in positiver Rolle auf (z.B. bei der Wölfin, die laut römischer Sage Romulus und Remus säugt). Auch die Eule als vermeintliches Hexentier einerseits und Sinnbild der Weisheit andererseits ist hier einzuordnen.

Besondere Erwähnung verdient die gelungene Buchgestaltung. Nicht nur die realistischen Tier- und Pflanzenillustrationen von Hanna Zeckau, sondern auch nette Details wie die kleinen Blätter, die jeweils eingangs des Kapitels das zum Begriff gehörende Wortassoziationsfeld markieren, machen Im Wald zu einem sehr hübschen Bändchen, das sich auch gut als Geschenk eignen dürfte.

Negativ fällt nur auf, dass die zu den Zitaten jeweils genannten Jahreszahlen im Einzelfall fehlerhaft zu sein scheinen (z.B. kann ein Werk des 1655 verstorbenen Friedrich von Logau wohl kaum 1872 – so die Angabe hier auf S. 26 – entstanden sein). Hier wäre ein gründlicheres Korrekturlesen wünschenswert gewesen.

Abgesehen davon ist Im Wald jedoch ein rundum empfehlenswerter kleiner Spaziergang durch die mit der heimischen Natur verknüpften Begriffs- und Vorstellungswelten, der eine ebenso vergnügliche wie lehrreiche Lektüre bildet.

Rita Mielke: Im Wald. Eine Wortwanderung durch die Natur. Mit Illustrationen von Hanna Zeckau. Berlin, Duden, 2019, 160 Seiten.
ISBN: 978-3411742585


Genre: Kunst und Kultur, Sachbuch allgemein

Der Wald

Der Wald ist derzeit ein populäres Thema, und das nicht nur, weil die Bedeutung von Umwelt- und Klimaschutz immer mehr Menschen bewusst wird. Trends wie das „Waldbaden“ oder die Beliebtheit des nature writing zeigen, dass der Wald vor allem auch die Gefühle anspricht.
Von solchen emotional geprägten Ansätzen grenzt der Biologe Hansjörg Küster sich in seinem Buch Der Wald. Natur und Geschichte bewusst strikt ab und wählt eine von Sachlichkeit und Nüchternheit geprägte naturwissenschaftliche und historische Perspektive, um seinen Leserinnen und Lesern das Phänomen Wald nahezubringen. Dabei stellt sich schon eingangs heraus, dass gar nicht so leicht zu umreißen ist, was einen Wald eigentlich ausmacht – was laut Gesetz dazugehört (wie z.B. Lichtungen oder Waldwege), fällt ökologisch gar nicht unter den Begriff. Doch auch abgesehen von solchen Spitzfindigkeiten hat sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder verändert, was genau man unter einem Wald versteht, und das nicht nur in geographisch unterschiedlichen Regionen, sondern auch innerhalb von Mitteleuropa und speziell Deutschland, den Gebieten, auf die Küster sich hier konzentriert.
Der ständige Wandel der Natur- und Kulturlandschaft zieht sich daher auch wie ein roter Faden durch das Buch, ob nun im Hinblick auf die Erdgeschichte (von der Entstehung der ersten Wälder vor über 370 Millionen Jahren bis heute) oder bezogen auf die Veränderungen, die der Wald spätestens seit der Jungsteinzeit durch direkten oder indirekten menschlichen Einfluss wiederholt durchmachte. Nicht jeder große Umbruch ist dabei Menschenwerk: So wirbelte z.B. die Abfolge von Warm- und Kaltzeiten die Zusammensetzung der mitteleuropäischen Wälder kräftig durcheinander. Echte Urwälder waren diese jedoch schon in vorindustrieller Zeit nicht mehr: Neben der direkten Holznutzung wirkten sich auch Ackerbau und Viehzucht beträchtlich auf die Landschaft aus. Neben rücksichtsloser Nutzung sind jedoch immer wieder, verstärkt ab der frühen Neuzeit, Bemühungen überliefert, den Wald zu schützen und auf Nachhaltigkeit zu setzen. Aus diesem Grunde steht Küster auch Bestrebungen kritisch gegenüber, Wälder gar nicht mehr zu bewirtschaften und sich selbst zu überlassen. Er plädiert vielmehr für einen Kompromiss zwischen Natur und Kultur, der sowohl Raubbau am Wald als auch die völlige Unterlassung menschlicher Eingriffe vermeidet.
Ein knapper Überblick widmet sich auch dem Wald aus ideengeschichtlicher Sicht, wobei Küster das 18. und 19. Jahrhundert als die für insbesondere das deutsche Bild vom Wald prägende Phase betrachtet, die einerseits eine Romantisierung und Aufladung mit politischen und nationalistischen Gedanken, andererseits aber auch eine Zuschreibung unheimlicher Züge (z.B. im Märchen) mit sich brachte. Geisteswissenschaftlich greift die Betrachtung der mit dem Wald verbundenen Assoziationen und Vorstellungen durch diese zeitliche Beschränkung teilweise etwas zu kurz (so gehört etwa der Wald als Ort der – vermeintlichen – Zivilisationsferne und des Abenteuers bereits in den festen Bestand der Schauplätze mittelalterlicher Dichtung und nicht erst der Grimm’schen Märchen), aber selbstverständlich ist eine umfassende kulturhistorische Analyse im Rahmen einer knappen Einführung weder angestrebt noch zu leisten.
Seinem Anspruch, einen ersten Überblick zu bieten, wird Der Wald auf jeden Fall gerecht und ist dank guter und genauer Erklärungen der gebrauchten Fachbegriffe für Laien problemlos zu lesen. Wer dagegen schon über Grundwissen in Sachen Wald verfügt, wird von ausführlicheren Darstellungen (die unter anderem auch vom selben Autor vorliegen) eher profitieren.

Hansjörg Küster: Der Wald. Natur und Geschichte. München, C.H. Beck, 2019, 128 Seiten.
ISBN: 978-3406732164


Genre: Sachbuch allgemein

Tagebuch eines Buchhändlers

Mit seinem Tagebuch eines Buchhändlers bietet Shaun Bythell genau das, was der Titel verspricht: eine nach Tagen gegliederte Schilderung seiner Aktivitäten in seinem Buchantiquariat im schottischen Wigtown im Jahreslauf zwischen dem 5. Februar 2014 und dem 4. Februar 2015. Jeder Monat wird dabei von einem Zitat aus George Orwells Erinnerungen an eine Buchhandlung eingeleitet, das als Anknüpfungspunkt für allgemeine Betrachtungen über das Buchhändlerdasein dient, bevor die in ihrer Länge stark wechselnden Berichte über die einzelnen Tage folgen. Seinen Charme gewinnt das Buch dabei vor allem daraus, dass sich aus der Fülle der Einzelereignisse auch die fortlaufenden Geschichten eines ganzen wiederkehrenden Figurenensembles herauskristallisieren: Von der exzentrischen Mitarbeiterin, die Bücher nach ihren ganz eigenen Kriterien in die nach Themengebieten geordneten Regale einsortiert, über Stammkunden, Nachbarn und Bekannte bis hin zur Buchhandlungskatze Captain sind viele Personen präzise und amüsant charakterisiert, so dass es Spaß macht, ihre Abenteuer zu verfolgen und auf ihr nächstes Auftauchen zu warten. Neben dem Tagesgeschäft im Antiquariat spielen auch immer wieder Buchankäufe, lokale Großereignisse wie das jährliche Bücherfestival und private Unternehmungen des Autors – ob nun Angelausflüge oder Leseinteressen abseits des Berufs – eine entscheidende Rolle. In der gelungenen Übersetzung von Mechthild Barth liest sich all das so flüssig und unterhaltsam, dass man schnell mehr Seiten verschlungen hat, als man selbst bemerkt.
Bei allem oft bissigen Humor ist allerdings der Grundton nicht sonderlich hoffnungsvoll: Wie andere unabhängige Buchhandlungen auch hat Bythells Laden seit Jahren unter der Konkurrenz durch den Onlineversand und den damit einhergehenden Wandel im Kauf- und Leseverhalten zu leiden, und sein Ärger darüber zieht sich wie ein roter Faden durch fast alle Kapitel, obwohl er ohne die verhasste Internetkonkurrenz als Verkaufsplattform selbst nicht mehr auskommt. Seine Wut lässt ihn sogar irgendwann auf einen Kindle schießen und daraus ein schräges Kunstprojekt machen (ein Bild davon ist übrigens im Buch vorhanden).
Aber es liegt nicht vorrangig an den mit so viel Engagement angeprangerten Schwierigkeiten der Branche, dass sich im Lauf der Lektüre ein gewisses Unbehagen einstellt. Bythell erwartet viel Verständnis für seine wirtschaftlich alles andere als beneidenswerte Lage und den Arbeitsaufwand, den das Betreiben eines unabhängigen Antiquariats bedeutet. Umgekehrt sind seine Kommentare über andere Menschen jedoch ein wenig zu oft von Selbstgerechtigkeit und Häme geprägt. In vielen Fällen übt er zwar berechtigte Kritik an Fehlverhalten, doch in anderen Situationen beschleicht einen unweigerlich der Eindruck, dass mit ihm oder zumindest mit seiner in welchem Maße auch immer fiktionalisierten Erzählerfigur nicht unbedingt der netteste Buchhändler aller Zeiten von den unleugbaren Problemen betroffen ist.
Trotz dieses kleinen Wermutstropfens bietet Bythells literarisch aufbereitetes Buchhändlerjahr einen wertvollen Einblick in eine Welt, die man als Leserin oder Leser sonst nur von außen zu sehen bekommt, und vermittelt auch überzeugend etwas von der partiellen Entzauberung, die unweigerlich damit einhergeht, wenn man seine Bücherleidenschaft in irgendeiner Form zum Beruf macht. Lesenswert ist das Tagebuch eines Buchhändlers deshalb auf jeden Fall.

Shaun Bythell: Tagebuch eines Buchhändlers. München, btb, 2019, 448 Seiten.
ISBN: 978-3442718658


Genre: Sachbuch allgemein