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Der Strandsammler

Der Strand als Übergangsort zwischen Land und Meer ist immer für überraschende Entdeckungen gut, ob nun äußerlicher Art oder auch, was menschliches Verhalten betrifft. Küstenbewohner wie Urlauber werden von ihrem Kontakt mit dieser Landschaft geprägt und prägen sie doch auch ihrerseits. Es ist diese Vielfalt, die Oliver Lück in seinem Buch Der Strandsammler am Beispiel der Strände Norddeutschlands erfahrbar macht.

Schon der Einstieg, der sich mit Besonderheiten der norddeutschen Sprache befasst, bringt einen zum Schmunzeln und ist sehr treffend. Locker aneinandergereiht folgen darauf auch gut einzeln lesbare Kapitel, deren Stil den Hintergrund des Autors als Journalist schon ahnen lässt und die sich mit allem Möglichen befassen, was einem am Strand auffallen kann: Der allgegenwärtige Sand erfährt hier ebenso Aufmerksamkeit wie typische Strandfunde, schöne wie Bernstein oder Treibholz, aber auch traurige wie die Müllmassen, unter denen die Meere mittlerweile leiden, oder auch Rettungsringe, die von Schiffskatastrophen zeugen. Lebewesen wie Algen und Wattwürmer haben natürlich auch ihren Auftritt, und man erfährt Erstaunliches über die Bedeutung von Quallen und Seepocken für die Forschung. Aber vor allem sind es die Menschen, die immer wieder im Mittelpunkt stehen, vom Verlegerpaar, das Regionalkrimis unter die Touristen bringt, über die Halligbewohnerin, die mit Queller kocht, bis hin zu den Versendern und Findern von Flaschenpost.

Das ist schon an und für sich nett zu lesen, aber besonders ansprechend wird das kleine Buch durch seine liebevolle Gestaltung: Die Illustrationen von Lena Steffinger sind charmant und von skizzenhafter Leichtigkeit, aber darüber hinaus gibt es auch noch in den Text eingestreute Zusatzseiten, die den Leser mit einbeziehen. Denn neben einem Muschelrezept oder Erste-Hilfe-Tipps für unerfreuliche Begegnungen mit Quallen findet man hier auch die Anregung, eigene Notizen und Skizzen in den Strandsammler einzufügen, eine Flaschenpost auf die Reise zu schicken oder ein Mülltagebuch über vom Meer Angeschwemmtes zu führen. Trotz aller ernsten Themen, die angeschnitten werden, kommt damit auch ein spielerisches Element ins Buch und sorgt dafür, dass einem die Lektüre fast so etwas wie Urlaubsgefühl beschert, auch wenn man gerade fern vom Meer sein mag.

Oliver Lück: Der Strandsammler. Hamburg, Rowohlt, 2021, 144 Seiten.
ISBN: 978-3-498-00235-0

 


Genre: Sachbuch allgemein

Europa. Die ersten 100 Millionen Jahre

Europa als eigener Kontinent entstand vor etwa 100 Millionen Jahren, zunächst als reine Ansammlung von Inseln. Welchen Verlauf die Naturgeschichte hier seitdem genommen hat und wie sie erforscht worden ist, zeichnet der Biologe Tim Flannery in Europa. Die ersten 100 Millionen Jahre bildgewaltig, anspielungsreich und in munterem Ton für ein allgemeines Publikum nach. Das könnte unterhaltsam und auch inhaltlich packend sein. Allerdings ist mir selten ein Sachbuch begegnet, das gleichzeitig so gut geschrieben ist und doch ein derart profundes Unbehagen angesichts des Umgangs des Autors mit seinem Gegenstand weckt.

Das Positive vorab: In recht kurzen und leicht verständlichen Kapiteln erfährt man hier vieles über die europäische Natur und insbesondere Fauna, von den Dinosauriern über ausgestorbene Säugetiere wie Mammuts oder Auerochsen bis hin zu invasiven Arten in der Neuzeit. Deutlich wird auch, wie sehr der menschliche Einfluss von der Steinzeit an die Umwelt prägte und welche Gefahren in heutiger Zeit von Klimawandel und industrieller Landwirtschaft ausgehen. Ähnlich wie Madelaine Böhme in ihrem empfehlenswerteren Buch Wie wir Menschen wurden greift Flannery mehrfach zum Stilmittel der imaginierten Zeitreise, um urzeitliche Landschaften heraufzubeschwören. Wissenschaftliche Nüchternheit dagegen ist nicht seine Stärke. Oft wertet er sehr subjektiv (z.B., wenn er sich ausführlich darüber verbreitet, wie wenig er Schweine mag und wie schlecht ihm daher auch bestimmte urzeitliche Exemplare gefallen).

Spätestens ab der Stelle, an der der moderne Mensch auf den Plan tritt, wird es insgesamt noch sonderbarer, und das nicht nur, weil sich hier und da sachliche Fehler einschleichen (als Mediävistin liest man etwa mit Befremden, dass die Langobarden sich schon „im Jahr 600 vor Beginn unserer Zeitrechnung“ in Italien aufhielten [S. 210] oder dass die Europäer angeblich nach einem finsteren Mittelalter erst im 15. Jahrhundert dank antiker Texte wieder erkannten, „dass die Welt rund“ ist [S. 275] – ein alter Forschungsirrtum, den man eigentlich längst überwunden glaubt).

Vielmehr ist von den Menschen, die sich Europa ausbreiten, offensichtlich insgesamt nicht viel zu halten: Die durch Genuntersuchungen belegte Vermischung von modernen Menschen und Neandertalern wird nicht als friedlicher Kontakt geschildert, sondern in der Form, dass Menschenmänner Neandertalermänner ermorden und die Neandertalerfrauen zum Austragen ihrer Kinder zwingen. Auch die steinzeitliche Kunst ist für Flannery von männlichen Künstlern dominiert, die allerdings in Wahrheit gar keine Künstler, sondern gelangweilte Teenager sind, die bis auf blutige Jagden und nackte Frauen nicht viel im Kopf haben und daher unbeholfene Graffiti mit diesen Sujets schaffen. Den alten Römern dagegen wird weniger der Raubbau an der Natur vorgeworfen, den sie teilweise zweifelsohne betrieben, als die Tatsache, dass sie keine neuen Tierarten domestiziert hätten – für Flannery offenbar ein Versäumnis, das mehrfach betont werden muss.

Vollends seltsam mutet schließlich Flannerys Schwerpunktsetzung in der Schilderung der Forschungsgeschichte an. Denn wenn an den Wissenschaftlerschicksalen, die er vorstellt, eines auffällt, dann, dass viele von ihnen mit einem Selbstmord enden, bei dem oft auch noch die Methode beschrieben und zum Teil mit eher zynisch anmutenden Überlegungen kommentiert wird. Der Eindruck einer unguten Begeisterung des Autors für das Thema drängt sich daher auf.

Verglichen damit wirken Flannerys Überlegungen, man solle doch in Europa Elefanten und Löwen ansiedeln, da es sie dort vor langer Zeit einmal gegeben habe und man den Erhalt dieser Tierarten nicht allein den Afrikanern zumuten dürfe, geradezu harmlos, wenn auch etwas bizarr. Ob man seine am Ende entwickelte Zukunftsvision eines Europa, in dem die Bevölkerung und die in Gewächshäuser verlagerte Landwirtschaft sich auf Städte konzentrieren, während die umliegende Wildnis mit ihren Kreuzungen aus Mammut und Elefant zur Touristenattraktion geworden ist, für eine Utopie oder doch eher für ein Schreckensszenario hält, ist wohl Geschmackssache. Nicht nur deshalb ist Europa ein Buch, das einen am Ende mehr oder minder ratlos zurücklässt, obwohl es durchaus einige interessante Informationen zu bieten hat.

Tim Flannery: Europa. Die ersten 100 Millionen Jahre. Berlin, Insel (Suhrkamp), 2019, 384 Seiten.
ISBN: 978-3-458-17822-4


Genre: Geschichte, Sachbuch allgemein

Die Alpen

Die Alpen, die wie ein Querriegel den mediterranen Raum von Mitteleuropa trennen, haben auf Wetter, Flora und Fauna des Kontinents entscheidende Auswirkungen. Aber auch das Gebirge selbst bildet eine spezifische Landschaftsform mit einer Fülle von Vegetationszonen und kulturellen Eigenheiten, die sich im Laufe der Jahrhunderte durch die vom Naturraum bestimmten Lebens- und Wirtschaftsformen herausgebildet haben. Hansjörg Küster nimmt in der kompakten Einführung Die Alpen. Geschichte einer Landschaft sowohl die Naturgeschichte als auch die historische Entwicklung der Region von den Anfängen bis in die heutige Zeit in den Blick.

Nach einer knappen, persönlich gehaltenen Einleitung, in der der Autor seinen eigenen Bezug zu den Alpen erläutert, werden zunächst Geographie, Geologie und Vegetation der Alpen skizziert, bevor in den folgenden Kapiteln die Besiedlung der Alpen durch den Menschen in den Mittelpunkt rückt. Schnell wird dabei deutlich, dass die Alpen keine unberührte Naturlandschaft sind und schon vor Klimawandel und Massentourismus ein erheblicher menschlicher Einfluss auf das Gebirge bestand. So verschiebt z.B. die in den Alpen betriebene Viehwirtschaft die Waldgrenze in etwas tiefere Lagen, als sie unter unbeeinflussten Bedingungen zu finden wäre.

Ein eigenes Kapitel ist der Schweiz als dem Alpenland schlechthin gewidmet, für deren bis heute beibehaltenen Sonderweg im Vergleich zum restlichen Europa historisch schon recht frühe Wurzeln auszumachen sind. Ein weiterer Abschnitt nimmt alpenländisches Brauchtum generell unter die Lupe und zeigt auf, dass Teile davon – wie etwa die als typisch geltenden Trachten – jünger als oft angenommen sind und ihre Entstehung erst dem 19. bis 20. Jahrhundert zu verdanken haben, der gleichen Epoche, in der sich auch ein bis in die heutige Zeit immer intensiver betriebener Tourismus entwickelte, der durchaus seine Schattenseiten hat.

Im Vergleich zu der bei aller Kürze des Buchs doch sorgfältig nachgezeichneten Geschichte des Alpenraums wirkt das Schlusskapitel zur Gegenwart der Alpen, in dem gerafft Industrie, Verkehrsinfrastruktur, Wintersport, Klimawandel und Landschaftsschutzprobleme skizziert werden, doch ein wenig zu knapp. Hier hätte man gern noch mehr Einzelheiten erfahren.

Insgesamt aber bilden Die Alpen einen lesenswerten ersten Einstieg in die Beschäftigung mit einem Gebirge, das in den Augen vieler Mitteleuropäer sicher bis heute „die Berge“ schlechthin verkörpert.

Hansjörg Küster: Die Alpen. Geschichte einer Landschaft. München, C.H. Beck, 2020, 128 Seiten.
ISBN: 978-3-406-74828-8


Genre: Geschichte, Sachbuch allgemein

Im Garten

Gärten sind sowohl Zeugnisse von Kultur als auch für viele Menschen der letzte Ort eines unmittelbaren Kontakts zur Natur in einer zunehmend technisierten und verstädterten Welt. Dieses Spannungsverhältnis ist es, vor dessen Hintergrund Susanne Wiborg, die sonst eher über eigene Gartenerfahrungen schreibt, sich aus historischer und sprachlicher Sicht dem Phänomen Garten oder – so der Untertitel – der Wörterpracht vor meiner Tür widmet.

Von zentraler Bedeutung für jeden Garten und damit natürlich auch für dieses Gartenbuch sind die Pflanzen, und so finden sich unter den als Ausgangspunkt der Überlegungen dienenden Wörter die Namen von zahlreichen Blumen wie Akelei, Christrose oder Schneeglöckchen, aber auch von Nutzpflanzen wie ApfelHolunder und Quitte. Die umgebende und schützende Hecke wird ebenso erwähnt wie der Gartenweg, auf dem man sich durch die bunte Fülle bewegt, die ohne Dünger und das passende Wetter nicht gedeihen wird. Dass dabei ungewollt das Unkraut fröhlich sprießt, wird erfahrene Gärtnerinnen und Gärtner nicht weiter verwundern. Daneben kommen aber auch tierische Gartenbewohner zu ihrem Recht, wie die Biene, das Rotkehlchen oder – weit weniger beliebt – die Schnecke.

Jedem der dreißig ausgewählten Begriffe ist dabei ein eigenes Kapitel gewidmet, in dem, gestützt von zahlreichen literarischen Zitaten und bisweilen auch etymologischen Überlegungen, die Kulturgeschichte des Bezeichneten liebevoll erläutert wird. Dabei geht es kreuz und quer durch die (vor allem europäische) Geschichte, in der Gartenpflanzen in irgendeiner Form immer präsent waren, ob nun als fleur de lys im Wappen der Bourbonen, beim Wandel der Nelke vom erotisch konnotierten Liebessymbol zum politischen Zeichen oder im Zuge des Tulpenfiebers in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts. Auch Glaubensvorstellungen kommen ohne Pflanzen nicht aus, und so wird hier erörtert, ob die Frucht vom Baum der Erkenntnis nicht vielleicht eher als Quitte denn als Apfel zu denken ist, und aufgezeigt, welchen paganen und volksreligiösen Gehalt der Holunder hat.

Zur Illustration dienen historische Gemälde, von berühmten wie Dürers Akelei und Arcimboldos Winter bis hin zu nicht minder schönen, aber einer breiten Öffentlichkeit immer noch viel zu wenig bekannten wie den zarten Stillleben von Giovanna Garzoni.

Insgesamt liest sich das Büchlein ebenso lehrreich wie amüsant und ist dank seines gut lesbaren Schreibstils auch für alle zu empfehlen, die sonst weniger von Sachbüchern halten: Die nett angerichteten Wörterhäppchen langweilen garantiert nicht und lassen einen vielleicht so manches im Garten von nun an mit etwas anderen Augen sehen.

Und übrigens: Wer das Buchkonzept interessant findet, sich aber lieber mit der freien Natur als mit der gebändigten befasst, findet in Rita Mielkes Im Wald die passende Alternative.

Susanne Wiborg: Im Garten. Wörterpracht vor meiner Tür. Berlin, Duden, 2020, 176 Seiten.
ISBN: 978-3-411-71785-9


Genre: Sachbuch allgemein

Mein Kompass ist der Eigensinn

Wird jemandem Eigensinn zugeschrieben, ist das selten als Kompliment gemeint. Von dieser Beobachtung geht Maria Almana in Mein Kompass ist der Eigensinn aus, um in einer sehr individuellen Mischung aus kulturhistorischer Betrachtung und Schreibratgeber eine positive Umdeutung des Begriffs vorzunehmen und ihre Leserinnen und Leser zu mehr Eigensinn, insbesondere auch beim Schreiben, zu ermuntern. Eigensinn steht für Almana nämlich nicht für egoistische Sturheit, sondern vielmehr für den Mut zur Individualität und das Bewusstsein für die eigene Subjektivität, die einem auch beim Bücherschreiben helfen können.

Ein typisches Selbsthilfebuch ist das, was sie vorlegt, allerdings nicht, auch wenn man an mehreren Stellen mithilfe kleiner Tests und Aufgabenstellungen überprüfen kann, wie es um den eigenen Eigensinn bestellt ist. Lektionen in mundgerechten Häppchen zum Durcharbeiten gibt es dagegen nicht, sondern einen mit einer Überfülle von Zitaten gespickten Spaziergang durch Literatur, Philosophie, Lebenskunst, Hirnforschung, Cultural Studies, Psychologie, Querdenken und Anderssein.

Dabei trifft man unter anderem auf den wortwörtlich seinen eigenen Weg gehenden Werner Herzog, auf den sich der Bedeutung verspielter Kreativität bewussten Johann Wolfgang von Goethe, den auf Selbstbeobachtung setzenden Michel de Montaigne, den unstillbar neugierigen Autodidakten René Descartes, dem durch Zeit und Raum flanierenden Walter Benjamin, die dem Eigensinn in Gestalt von Pippi Langstrumpf ein literarisches Denkmal setzende Astrid Lindgren und vor allem auch immer wieder auf Hermann Hesse und sein Anschreiben gegen Konventionen und Ideologien.

Auffällig an diesen Vorbildern an Eigensinn ist, dass es sich bei einer Mehrzahl von ihnen um Männer handelt – weil sie es im Vergleich zu Frauen oft leichter hatten und haben, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, oder weil ihr Eigensinn in vielen Fällen zumindest von der Nachwelt positiver als bei einer Frau wahrgenommen und damit auch auf breiterer Front rezipiert wird? Die Frage wird im Buch leider nicht geklärt, aber für die mit den Persönlichkeitsskizzen verflochtenen Anregungen, Leseempfehlungen und praktischen Tipps zum vor allem auch autobiographischen Schreiben ist das Geschlecht des Autors ohnehin sekundär.

Rasch wird in dem bunten Potpourri deutlich, dass Eigensinn beim Schreiben sich nicht auf die Originalität des Inhalts beschränken muss, sondern durchaus auch die Form erfassen kann: So erfährt man an bekannteren und unbekannteren Beispielen von einem Roman ohne den Buchstaben „e“, Sprachspielereien wie einem bewusst barockisierenden Text oder einem Buch in Gestalt einer Folge von Twitternachrichten. Eine große Chance sieht Maria Almana – sicher auch geprägt durch ihre eigene berufliche Tätigkeit im Lektorats- und Autorencoachingbereich – im Selfpublishing, das mehr Raum für Experimente lässt als klassische Verlagspublikationen.

Ihre Gedankenführung ist dabei nicht unbedingt stromlinienförmig, sondern eher assoziativ und mäandernd, mit Querverbindungen zu anderen Kapiteln, zu den Websites der Autorin und sogar Vorausverweisen auf noch gar nicht veröffentlichte Bücher (denn wie Maria Almana ankündigt, plant sie eine ganze Trilogie des Eigensinns, so dass irgendwann noch zwei Bände das vorliegende Werk ergänzen werden). Das ist bisweilen ungewohnt. Wer sich dennoch auf diese wirklich eigensinnige Herangehensweise einlässt und konzentriert liest, kann aber durchaus einige Denkanstöße aus Mein Kompass ist der Eigensinn mitnehmen und sich ermutigt fühlen, häufiger der eigenen Einschätzung zu vertrauen.

Maria Almana: Mein Kompass ist der Eigensinn. Grundlagen, Vorbilder & Nutzen. Ermutigung zum eigensinnigen Schreiben. Pulheim, edition texthandwerk (Tredition), 2019, 260 Seiten.
ISBN: 978-3-7497-6960-5 (e-Book; Taschenbuch: ISBN 978-3-7497-6958-2, Hardcover: ISBN 978-3-7497-6959-9)

 


Genre: Sachbuch allgemein

Der Esel steht

Im Jahre 1878 wanderte der Schriftsteller Robert Louis Stevenson mit einer Eselin namens Modestine durch die Cevennen und veröffentlichte ihm Jahr darauf einen Reisebericht darüber. Auf dem sogenannten Chemin de Stevenson (Stevensonweg) kann man seinen Spuren folgen – und genau das tut Erik Kormann, ebenfalls von einem Esel begleitet, und schildert seine Erfahrungen in diesem liebenswerten und unterhaltsamen kleinen Buch.

Die Eselwanderung durch Südfrankreich ist für ihn die Erfüllung eines Jugendtraums, da er sich schon früh für Stevensons Reise mit dem Esel durch die Cévennen begeistern konnte. Obwohl der literarische Bezug im Laufe der Tour durchaus immer wieder mitschwingt, steht er doch bald hinter den Erfahrungen im Hier und Jetzt zurück, ganz besonders hinter denen, die Kormann mit seinem langohrigen Reisebegleiter Narcisse, einem Esel mit Charakter, tagtäglich macht.

Mit wie viel Humor und Verständnis der Autor auf Narcisse eingeht, ganz gleich, ob der gerade mit Wonne fremde Blumenkästen leerfrisst, rüde ein Picknick sprengt oder selbst im Supermarkt die Nähe seines menschlichen „Herdenmitglieds“ sucht, macht das Buch ausgesprochen sympathisch. Man kann gar nicht anders, als sich selbst ein wenig in den schlingeligen Esel zu verlieben, der, wie schon der Titel verrät, nicht immer so läuft, wie sein Mensch es von ihm erwartet. Da das keine ganz eseluntypische Eigenheit ist, sind für Leserinnen und Leser, die selbst eine Eselwanderung planen, immer auch wieder Sonderseiten mit praktischen Tipps eingefügt, unter anderem auch eine augenzwinkernde Liste mit Gründen für das Stehenbleiben des Esels und möglichen Lösungsansätzen für das Problem.

Obwohl Narcisse also unangefochten die Bühne dominiert, bewahrt Kormann sich auch einen wachen Blick für die Umgebung und beschreibt lebendig Landschaft, Ortschaften, Unterkünfte von wechselnder Qualität, Begegnungen mit anderen Wandersleuten, kulinarische Genüsse und alles, was auf einer Reise durch Südfrankreich noch so schief- und gutgehen kann. Abgesehen davon kommt auch die Geschichte der Region nicht zu kurz. Neben dem Kamisardenaufstand, der von Ludwig XIV. blutig niedergeschlagen wurde, und den Umtrieben Kardinal Richelieus spielt vor allem immer wieder die sogenannte Bestie des Gévaudan eine Rolle, die im 18. Jahrhundert um die hundert Menschen tötete und bei der bis heute nicht geklärt ist, um was für eine Art von Raubtier es sich handelte. Während die historische Bestie jetzt niemandem mehr gefährlich wird, sondern vielmehr in Statuenform als Touristenattraktion dient, bemühen sich leider einige Hunde, ihr würdige Nachfolger zu sein, und machen Kormanns Wanderung etwas aufregender, als er es sich eigentlich vorgestellt hatte. Dass nach derart gefährlichen gemeinsamen Erlebnissen sein Weg mit Narcisse nicht endet, als der Urlaub vorbei ist, versteht sich eigentlich fast schon von selbst …

Kormann erzählt eingängig und oft etwas umgangssprachlich, so dass sein Text sich flott und flüssig liest. Zahlreiche Fotos und eine hübsch gestaltete Übersichtskarte des Stevensonwegs lockern das Buch zusätzlich auf. So bietet Der Esel steht vergnügliche und entspannte Lektüre für Frankreich- und Eselfans (und alle, die es noch werden wollen).

Erik Kormann: Der Esel steht. Durch Südfrankreich mit einem charmanten Langohr. München, Holiday (Gräfe und Unzer), 2020, 160 Seiten.
ISBN: 978-3834230652


Genre: Sachbuch allgemein

Von Glückszahl bis Geheimzahl

In ihrem vergnüglich zu lesenden Buch Von Glückszahl bis Geheimzahl wollen der Mathematiker Christian Hesse und der Meteorologe Karsten Schwanke zeigen, wie man – so der Untertitel – Mit Mathe die Rätsel des Alltags lösen kann. Wer daraufhin bloß eine Reihe von Rechentricks erwartet, wird positiv überrascht sein, denn die gibt es zwar in den 38 launig geschriebenen und betitelten Kapiteln auch, aber sie sind bei weitem nicht alles. Vielmehr findet man hier ein buntes Potpourri, das neben eigentlichen mathematischen Problemen auch allerlei naturwissenschaftliche Belange (vom Klimawandel bis zur Linkshändigkeit), Linguistisches, Psychologisches und Wissenschaftshistorisches für eine breite Leserschaft versammelt.

Die Autoren sind dabei vor allem bemüht, Berührungsängste abzubauen und gerade auch die Leserinnen und Leser, die von Haus aus keine großen Mathefans sind, für das Thema zu begeistern und selbst zum Rechnen anzuregen. Zu Anfang beginnt es darum noch recht einfach mit mathematischen Problemen, die einem so oder so ähnlich vielleicht auch schon einmal in anderen Büchern begegnet sind (wie etwa der Frage nach der Wahrscheinlichkeit, dass zwei Menschen in einer Gruppe am gleichen Tag Geburtstag haben, oder dem anderswo auch unter dem Begriff „Ziegentür“ bekannten Drei-Türen-Problem). Nach und nach steigert sich dann der Schwierigkeitsgrad, aber keine Sorge: Hesse und Schwanke erklären so eingängig und humorvoll, dass man an keiner Stelle Schwierigkeiten hat, der Argumentation und den Rechenoperationen zu folgen.

Auf sehr unterhaltsame Art erfährt man so z.B., wie die Verschlüsselung bei Geheimzahlen funktioniert und wie Codierungssysteme sich historisch entwickelt haben, wie es um die Gewinnwahrscheinlichkeit bei verschiedenen Glücksspielen bestellt ist, wie sich die Fehlerquote bei medizinischen Testverfahren auswirkt, wie man aus einer kleinen Lebendfangmenge die Gesamtanzahl von Fischen in einem Teich hochrechnen kann, warum ein 60er-System beim Rechnen in historischer Zeit gegenüber dem heute verbreiteten Dezimalsystem eindeutige Vorteile hatte, wie Wetterphänomene mithilfe von Zahlen kategorisiert werden und was es mit der berühmten 42 als Antwort auf alle Fragen bei Douglas Adams auf sich hat (oder eben auch nicht).

Daneben gibt es aber auch noch ganz praktische Tipps, um etwa beliebige zweistellige Zahlen ohne große Mühe im Kopf zu multiplizieren, einen Kartentrick vorzuführen oder zu errechnen, wie viele Stufen eine Treppe hat, ohne jede einzeln zu zählen (wobei die Technik, die einem die Ermittlung der Anzahl geistig erleichtert, körperlich immer noch anstrengend genug klingt, wenn man sie – wie hier vorgeschlagen – auf eine Turmtreppe im Kölner Dom anwenden will). Ein Augenzwinkern ist eigentlich immer dabei und macht das Buch nicht nur lustig, sondern auch ziemlich liebenswert.

Ein bisschen mehr Genauigkeit hätte man sich allerdings bei manchen historischen Angaben abseits der eigentlichen Wissenschaftsgeschichte gewünscht. So ist mir z.B. nicht klar geworden, wie man ein 1707 erschienenes Rätsel in „die viktorianische Zeit“ (S. 21) einordnen kann.

Alles in allem jedoch bietet Von Glückszahl bis Geheimzahl interessante und bereichernde Lesestunden, und wer Mathematik in seiner Schulzeit nicht gerade zu seinen Lieblingsfächern gezählt hat, wird nach der Lektüre dieses Buchs seine Meinung vielleicht überdenken.

Christian Hesse, Karsten Schwanke: Von Glückszahl bis Geheimzahl. Mit Mathe die Rätsel des Alltags lösen. München, Droemer, 2020, 256 Seiten.
ISBN: 978-3426278192


Genre: Sachbuch allgemein

Füchse

Der Fuchs erscheint aus menschlicher Sicht von jeher ambivalent. Einerseits als Schädling verschrien und als Jagdbeute erbarmungslos verfolgt, weckt das Tier andererseits durch seine Intelligenz und seine Schönheit immer wieder auch Neugier und Bewunderung. Nicht zuletzt deshalb spielt es in Mythologie, Kunst und Literatur vieler Kulturen eine bedeutende Rolle. Neben den biologischen Aspekten des Fuchsdaseins steht auch das spannungsreiche Verhältnis zwischen Füchsen und Menschen im Zentrum des Buchs Füchse. Unsere heimlichen Nachbarn, in dem Adele Brand – Naturforscherin, Weltreisende, Bloggerin und offensichtlich großer Fuchsfan – leidenschaftlich für ein friedliches Miteinander wirbt.

Auch wenn punktuell Beobachtungen aus anderen Regionen der Welt (z.B. Indien, Polen, Australien oder Nordamerika) eingestreut sind, liegt der Schwerpunkt dabei auf in London und seinem Umland lebenden Füchsen, deren Umwelt besonders stark vom Menschen geprägt ist. Die Stadtfüchse, die anders als Wölfe keine Rudel, aber doch territoriale Gruppen bilden, erscheinen dabei als clevere Opportunisten, denen zur Not auch heruntergefallene Pommes frites recht sind, wenn sich nicht genügend Mäuse, Regenwürmer oder Beeren finden, um über die Runden zu kommen. Von Räude ebenso bedroht wie vom Straßenverkehr, ziehen sie zwischen Gärten, Wohnhäusern und Gewerbegebieten ihre Jungen groß, spielen miteinander, vertreiben Rivalen und sind auch für einige nette Anekdoten gut. So beschreibt die Autorin unter anderem die ungewöhnliche Freundschaft zwischen einem Hund und einem wilden Fuchs, aber auch, wie Füchse in ihrem Garten ihre leichtsinnigerweise außerhalb des Hauses abgestellten Schuhe ramponieren. Auch die Arbeit mit Wildkameras erweist sich als gar nicht so einfach, wenn Brand etwa eine zur Behandlung einer Krankheit temporär gefangene Füchsin in ihrem Verschlag aufnehmen will und erkennen muss, dass sich ihr unfreiwilliger Gast energisch dagegen zu wehren weiß.

Abseits der Unmittelbarkeit solch gelungen eingefangener Einzelszenen bleibt Brands Darstellung allerdings steckenweise etwas oberflächlich. Vielleicht der Wendung an eine allgemeine Leserschaft geschuldet, ist manches verkürzt oder zu generalisierend dargestellt. So lässt Brand es z.B. klingen, als würden dort, wo Füchse in Gruppen leben, dominante Fähen stets etwaigen Nachwuchs niederrangiger Weibchen unmittelbar nach der Geburt töten. Vergleicht man dies mit den Angaben in wissenschaftlicher Literatur zum Thema, ist das aber so pauschal nicht zutreffend. Es handelt sich eher um eine Verhaltensweise, die zwar vorkommen kann, aber beileibe nicht muss, da in Fuchsgruppen durchaus auch die Würfe verschiedener Fähen gleichzeitig oder sogar gemeinsam erfolgreich großgezogen werden (vgl. z.B. diese Studie über den Einfluss des sozialen Rangs des Muttertiers auf das Abwanderverhalten junger Füchse im englischen Bristol).

Abseits ihres eigentlichen Fachgebiets sind Brands Angaben ohnehin mit Vorsicht zu genießen. So ist etwa die Aussage, bei der im 11. Jahrhundert entstandenen japanischen Geschichte vom Prinzen Genji handele es sich um den „möglicherweise ältesten Roman der Welt“ (S. 33), bestenfalls eine umstrittene These, schlimmstenfalls aber sogar falsch (so werden in aller Regel auch bestimmte literarische Werke der Antike schon als Romane gewertet).

Gerade bei solchen Verallgemeinerungen oder Ungenauigkeiten bedauert man den generellen Verzicht der Autorin auf Fußnoten, da man hier doch gern nachvollzogen hätte, aus welchen Quellen sie ihre Angaben entnimmt. Auch sonst wirkt manches ein bisschen unglücklich, so etwa die in der Werkzeugkiste für Fuchsfreunde – einem Abschnitt mit praktischen Tipps zur Fuchsbeobachtung – gegen Ende des Buchs enthaltene Liste von möglichen Referats- und Dissertationsthemen mit Fuchsbezug; hier hat man fast das Gefühl, ein Pendant der unsäglichen Book Club Questions englischsprachiger Jugendliteratur in ein Sachbuch für Erwachsene übertragen zu sehen. Bedauerlich ist zudem, dass als Illustrationen nur Schwarzweißfotos enthalten sind. Ein Farbtafelteil hätte den Band sehr aufgewertet.

Trotz all dieser Einschränkungen werden Leserinnen und Leser, die Füchse mögen, an der Lektüre stellenweise dennoch ihr Vergnügen haben und besonders in den Passagen, in denen individuelle Fuchspersönlichkeiten geschildert werden, einiges zum Staunen und zum Schmunzeln finden. Alles in allem jedoch bleibt man mit dem Eindruck zurück, dass hier einem faszinierenden Tier ein doch eher mittelprächtiges Buch gewidmet worden ist.

Adele Brand: Füchse. Unsere wilden Nachbarn. München, C.H. Beck, 2020, 208 Seiten.
ISBN: 978-3406751134


Genre: Sachbuch allgemein

Wie wir Menschen wurden

Die menschliche Evolution und damit auch die Entstehung spezifisch menschlicher Eigenschaften wie des aufrechten Gangs und der differenzierten Sprache spielten sich in Afrika ab, bevor der Mensch sich dann auf der ganzen Welt ausbreitete – so lautete lange die gängige Lehrmeinung, und so sehen die meisten die eigenen Ursprünge auch bis heute. Die Paläontologin Madelaine Böhme setzt dagegen ein differenzierteres Bild der Menschwerdung, in dem neben Afrika auch Europa und Eurasien sowie zahlreiche Wanderungsbewegungen zwischen diesen Kontinenten eine große Rolle spielen. Unterstützt von den Wissenschaftsjournalisten Rüdiger Braun und Florian Breier wendet sie sich mit ihrem Buch Wie wir Menschen wurden bewusst an ein breites Publikum, um an vermeintlichen Gewissheiten zu rütteln.

Von zentraler Bedeutung für Böhmes Gegenentwurf sind in Europa gemachte Funde, darunter der frühe Menschenaffe Danuvius guggenmosi, den Böhme selbst 2016 im Allgäu entdeckte und dessen besterhaltenes Exemplar – ein Männchen – nach dem Sänger Udo Lindenberg auf den Spitznamen „Udo“ getauft wurde, aber auch der in Griechenland entdeckte Graecopithecus freybergi und versteinerte Fußspuren auf Kreta, die einen frühen Beleg für den aufrechten Gang bilden. Wie andere typisch menschliche Merkmale (z.B. Besonderheiten der Zähne) könnte dieser sich durchaus zuerst in Europa herausgebildet haben.

Böhme attestiert den älteren Theorien jedoch ein großes Beharrungsvermögen in der Paläontologie, die sie ohnehin als eine Wissenschaft schildert, die zumindest partiell noch in einer Schatzsuchermentalität verharrt, wie sie für die Archäologie im 19. Jahrhundert typisch war, und in der es immer wieder auch zu Skandalen kommt. Als besonders kritikwürdig geschildert wird das Verhalten des französischen Paläontologen Michel Brunet, der hier des Verschwindenlassens eines nicht zu einer von ihm favorisierten Interpretation passenden Knochens des von seinem Team gefundenen Sahelanthropus tchadensis verdächtigt wird. Doch auch abgesehen von solchen Beispielen wissenschaftlich unsauberen Arbeitens wird deutlich, auf welch geringer Fundbasis oft sehr weitreichende Annahmen fußen.

Das, was sich über die menschliche Evolution mit Sicherheit sagen oder auch nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vermuten lässt, stellen Böhme und ihre Mitautoren jedoch sehr anschaulich und in einem reportagehaften, blendend lesbaren Stil dar, der auch für Leserinnen und Lesern, die sonst nie zum Sachbuch greifen, die Schwelle niedrig hält. Neben zahlreichen Fotos und Grafiken bereichern auch eindrucksvolle Rekonstruktionen des Künstlers Velizar Simeonovski, dessen Darstellungsweise im besten Sinne an die Bilder Zdeněk Burians erinnert, das Buch.

Doch auch im Text selbst wird neben reinen Sachschilderungen mehrfach zu einem imaginären Spaziergang durch eine prähistorische Landschaft eingeladen. An diesen immersiven Zeitreisen fällt allerdings eines auf: In den seltenen Fällen, in denen (vor-)menschliche Individuen handelnd hervortreten, stehen immer Männer im Mittelpunkt. So erleben wir „Udo“ (oder einen nahen Verwandten) bei der Verteidigung seiner Gruppe gegen ein Raubtier und später vier Urmenschenmänner, die nach einem Gewitter erkennen, dass das Feuer beherrschbar ist. Die ausführlicher besprochenen weiblichen Individuen (so z.B. der erste Fund eines Homo floresiensis oder „Denny“, ein Mädchen, das laut genetischer Untersuchung eine Neandertalerin zur Mutter und einen Denisova-Menschen zum Vater hatte) bekommen keine Auftritte in eigenen Lebensbildern. Das farbige Heraufbeschwören der urzeitlichen Welten reiht sich damit – wenn auch vermutlich nicht gezielt – leider in die Tradition ein, ein rein männerdominiertes Bild früherer Epochen zu entwerfen und Frauen und Kindern allenfalls Nebenrollen zuzubilligen.

Dieser kleine Wermutstropfen schmälert allerdings nicht die Leistung, ein auch für Laien ungemein gut zugängliches Werk über die Paläoanthropologie vorgelegt zu haben. Lesenswert ist Wie wir Menschen wurden allemal, solange man sich bei der Lektüre den kritischen Blick bewahrt, den Madelaine Böhme selbst wiederholt anmahnt.

Madelaine Böhme, Rüdiger Braun, Florian Breier: Wie wir Menschen wurden. Eine kriminalistische Spurensuche nach den Ursprüngen der Menschheit. München, Heyne, 2019, 336 Seiten.
ISBN: 978-3453207189


Genre: Sachbuch allgemein

Gäste in meinem Garten

Bienen, eine ganze Hühnerschar, eine Terrierdame namens Erbse, allerlei Wildvögel, eine verirrte Brieftaube, Weinbergschnecken und Eichhörnchen, die sich voller Begeisterung ihren Anteil an der Pilz- und Kirschernte sichern – das sind nur einige der Tiere, die in Susanne Wiborgs liebenswertem Buch Gäste in meinem Garten ihren Auftritt haben. Der von Rotraut Susanne Berner charmant und humorvoll illustrierte kleine Band ist eine Sammlung von Kolumnen, die sich mit Freud, Leid und dem Lauf der Jahreszeiten in einem Garten in der Stadt befassen.

Zwischen Linden, Kürbissen, Krokussen und einem großen Kirschbaum spielt sich das pralle Leben ab: Wenn die Hühner nicht gerade wegen Vogelgrippegefahr in den Stall verbannt sind, werden sie zur Gefahr für den Weinbergschneckennachwuchs, müssen selbst den Habicht fürchten und erregen das unverdiente Mitleid von Passantinnen, wenn sie in der Mauser für bedauernswerte Tierquälereiopfer gehalten werden. Die Bienen dagegen produzieren nicht nur eifrig Honig, sondern leben auch ihre Abneigung gegen intensives Parfüm gnadenlos aus, während die Hummeln ungeniert den Lerchensporn durchlöchern. Andere Gartengäste sind da deutlich diskreter: So ist die scheue Heckenbraunelle zwar erkennbar anwesend, lässt sich aber trotz aller Bemühungen der Autorin nicht beim Brüten ertappen.

Geschickt eingeflochten in diese Tierbeobachtungen und in die gärtnerischen Erlebnisberichte (z.B. über Abenteuer mit Indischem Springkraut oder großes Pech bei dem Versuch, neue Clematis anzupflanzen) sind zahlreiche Sachinformationen. Bei allem Unterhaltungswert kann man hier und da also noch einiges dazulernen. Vor allem aber hat man seinen Spaß, denn Susanne Wiborg ist eine Formulierungskünstlerin, deren leiser Humor oft schon aus den Überschriften der einzelnen Texte spricht, die unter anderem einen Königsmord im Hinterhof, eine Nackte auf der Einfahrt oder Rot sehen – aber richtig versprechen. Trotz einiger ernster und durchaus auch trauriger Stellen schmunzelt man sich also die meiste Zeit über zufrieden durch das Leseerlebnis. Gärtnernde Leserinnen und Leser werden häufig vor allem aufgrund des Wiedererkennungseffekts lachen (wenn z.B. eine neue Blume doch nicht die geplante Blütenfarbe entwickelt oder die Kürbiszucht nicht ganz so verläuft wie geplant), aber auch allen anderen seien die Gäste in meinem Garten als entspannte und sympathische Lektüre ans Herz gelegt.

Susanne Wiborg: Gäste in meinem Garten. Bienen, Amseln, Huhn und Star. Mit Bildern von Rotraut Susanne Berner. München, Verlag Antje Kunstmann, 2019, 142 Seiten.
ISBN: 978-3956142970


Genre: Sachbuch allgemein