Lesestoff: Lieder für Kinder und Narren

Vor knapp zwei Jahren ist in der Onlinezeitschrift Swords and Sorcery Magazine eine Geschichte von mir auf Englisch erschienen, Songs for Fools and Children.

Für alle, die lieber auf Deutsch lesen, gibt es heute hier im Blog die deutsche Fassung des Texts. Viel Spaß bei der Lektüre!

Lieder für Kinder und Narren

Ich sah Orm, den Skalden, erst wieder, nachdem die Halle von Straela-am-Sund niedergebrannt war, als Herr Ragnar sich einen Weg durch die rauchenden Trümmer bahnte, um in Besitz zu nehmen, was ihm durch das Schwert zugefallen war. Es hätte ihm auch leicht durch Erbschaft zufallen können, hätte seine Großmutter nicht verfügt, dass ihm nur das Langschiff gehören sollte, Haus und Land dagegen Gunnor, seiner Schwester, jünger an Jahren, aber reicher an Ehre. Doch wie seine Großmutter auch einmal gesagt hatte, sind es nicht die Ehrenhaften, die Schlachten gewinnen, sondern Leute mit scharfer Klinge und kaltem Herzen. An beidem fehlte es Ragnar nicht.

„Ich nehme an, du willst ihn nun für dein Bett?“, fragte er beiläufig und deutete mit der Spitze des blutbefleckten Schwerts kurz nach links hinüber, während seine langen Schritte ihn unbeirrbar weiter auf den Turm zutrugen, der immer noch düster auf der Hügelkuppe kauerte wie schon seit hundert Jahren.

Ragnar war nicht der Erste, der annahm, dass Orm und ich in unserer Jugend ein Liebespaar gewesen seien oder es immerhin hätten sein können, wäre auch nur einer von uns kühner gewesen. Ich hielt die Leute, die das glaubten, für töricht, denn Orm zog flachsblonde, flinkzüngige Frauen den schwarzhaarigen, stillen vor; das wusste ich. Liebende waren wir nie gewesen, und doch mehr als Freunde. Freundschaft hatte mich mit Gunnor verbunden, bevor sie mir vor zehn Jahren in jenem wendischen Wachturm südlich von Jumne stolz den Rücken zugekehrt hatte, auch mit Halfdan, Thorun und einigen derjenigen, die nun tot inmitten der schwelenden Balken der Halle lagen. Orm war mir mehr als ein Freund gewesen, und ich ihm mehr als eine Freundin.

Wir waren schließlich beide als Geistersprecher geboren; so etwas erzwingt ein Bündnis.

***

Orm war vor achtzehn Jahren im Herbst nach Straela gekommen, gerade erst so alt, dass er eine Männerstimme hatte, rank und schlank, mit Haar wie reifem Weizen und lachenden Augen. Er war mit Arni hier erschienen, seinem Lehrer, dem berühmten Sänger, der schon Jarl Einar sein großes Lied von der Schlacht bei Markholt vorgetragen hatte. Vielleicht hatte er es sogar an Königin Grimhilds Hof gesungen, doch zum Beweis dafür hatten wir nur sein eigenes Wort.

Mitsamt ihren Liedern und Geschichten blieben sie über den Winter, knüpften am Feuer Sätze zu Spinnennetzen, um uns gefangen zu nehmen und uns die Kälte, die Stürme und die mageren Tage vergessen zu lassen. Arni brach im Frühjahr mit dem ersten Schiff wieder auf, das in den Sund gefahren kam, als die Kraniche zogen, aber Orm war von da an Frau Herwörs Skalde und später der ihrer Enkelin.

In jenem Frühling erfuhr ich auch, dass Orm die Geister sehen konnte, die ich sah. Eines Abends folgte sein Blick einem winzigen Spatzengeist bis hinauf ins Gebälk, und ich ertappte mich dabei, zu sagen: „Draußen im Stall gibt es noch mehr von denen.“

Da sah Orm mich an, und während ich mich schon für eine große Kriegerin hielt, erblickte er wohl nur ein Mädchen, blass im Feuerschein und hochgewachsen, wenn auch gerade erst alt genug, ein paar Jahre lang von Halfdan im Schwertkampf unterwiesen worden zu sein. Er sagte, ich hätte die Begabung meiner Mutter dafür, doch sie war jung gestorben und hatte mir sonst nicht viel vererbt, nur meinen seltsamen Namen aus ihrer Heimat fern jenseits der Westsee und eine gewisse Reiselust, die mir später noch gute Dienste leisten sollte.

„Ich werde sie dort besuchen“, sagte Orm, und so wurden wir Freunde und mehr als das, denn wir teilten nicht nur die Spatzengeister miteinander, sondern auch die heulenden und kreischenden Nachtgespenster und sogar den wilden Häuptling aus lang vergangenen Tagen, der auf dem Hof gegen eingebildete Feinde wütete. Seine Stimme ähnelte der Orms so sehr, dass es unheimlich war, und vielleicht war das der Grund dafür, dass der alte Geist gelegentlich auf Orm hörte, wenn der ihm streng sagte, nun dürfe er die Hühner aber nicht länger erschrecken.

Jener Sommer war voller langer Spaziergänge und ebenso langer Gespräche, und dann und wann führten unsere Streifzüge an den Sund hinunter, zu einem sonnigen Platz bei den Sanddornsträuchern, die unweit des Kiefernwaldes wuchsen. Von dort beobachteten wir die Boote auf dem funkelnden Wasser und die Kormorangeister, die ihren lebenden Geschwistern stumm halfen, die besten Fischgründe zu finden.

„Frau Herwör wünscht, dass ich heute Abend wieder von dem Gemetzel bei Markholt singe“, sagte Orm an einem unserer Nachmittage dort, als ich von den Übungskämpfen, die ich gegen Ragnar ausgefochten hatte, müde Arme hatte und der Sund schöner denn je wie Silber und Edelsteine glänzte.

Die Art, wie Orm von Arnis Meisterwerk sprach – ganz so, als hielte er nicht viel davon – ließ mich den Kopf heben. „Es ist ein gutes Lied über Heldentaten“, antwortete ich, da mich irgendeine sonderbare Regung dazu trieb, die eingängige Weise und die Worte, die zu ihr gehörten, in Schutz zu nehmen.

„Mag sein“, sagte Orm und klang doch weniger zweifelnd als ich, „aber es endet in Blutvergießen, Tod und Knechtschaft, und kein einziger ehrenwerter Mensch bleibt am Leben.“

„So enden eben alle guten Lieder“, sagte ich lachend, da gute Lieder in meinen jugendlichen Augen nur die waren, die edle Recken, Schwerter mit hochtrabenden Namen und zahllose Kämpfe enthielten.

Orm lächelte nur traurig. „Ja, Lieder, die gut ausgehen, sind für Kinder und Narren, sagt man.“

Ich wollte einwenden, dass es reichlich Lieder gab, die kein böses Ende nahmen, doch ich musste mir eingestehen, dass die aufheiternden entweder die waren, die keine Geschichte erzählten, oder aber jene, in denen keine Heerführer und Seeköniginnen vorkamen, sondern nur fröhliche Bauern, schlaue Füchse oder erdachte Albernheiten, die in der Tat für die Allerjüngsten bestimmt waren.

Ich ahnte dumpf, dass Orm eine andere Art von Lied lieber gewesen wäre, eines, das Erwachsenen und Frau Herwörs Halle angemessen war und doch nicht auf ein düsteres Schicksal hinführte. Allerdings meinte ich, dass es ihm schwerfallen würde, solch eine Geschichte zu finden – zumindest, wenn sie glaubwürdig klingen sollte –, und um weise zu wirken, wiederholte ich ihm, was Herwör einmal gesagt hatte: „Das liegt daran, dass Schlachten von denen gewonnen werden, die eine scharfe Klinge und ein kaltes Herz haben.“

„Eine scharfe Klinge magst du ja führen, aber du hast kein kaltes Herz“, sagte Orm, und an dem sommermilden Tag unter dem Sanddorn glaubte er das vielleicht selbst noch.

In dem Augenblick hätten diejenigen, die in uns ein Liebespaar sahen, wohl doch noch Recht behalten können, und vielleicht hätte ich den Anflug eines Wunsches, der sich in mir einnistete, in einen Kuss verwandeln können, wenn ich es nur mit aller Macht versucht hätte. Doch Halfdan, der Waffenmeister, hatte unser Versteck gefunden und rief laut nach mir, und am Abend danach kamen Gäste nach Straela, darunter ein flachsblondes Mädchen. Am folgenden Tag unternahmen Orm und ich keinen Spaziergang. Aber die schöne Fremde sah kein einziges Gespenst, und so verließ sie Orm irgendwann wieder, während ich blieb.

Andere kamen und gingen. Jahre flossen dahin, manche gut, manche schlecht. Ich musste meinen Vater begraben, der mir ja von Anfang an gesagt hatte, ich hätte Besseres verdient als einen Skalden, der lieber für Kinder und Narren singen wollte.

Im Sommer, nachdem er zu den Göttern gegangen war, gewann ich meinen zweiten Namen.

Im Grunde war das nur Haralds Schuld, weil er uns ohne Not auf Wikingerfahrt führte. Harald – Herwörs Sohn und Ragnars und Gunnors Vater – war ein stolzer Mann, und als er sein fünfzigstes Jahr erreicht hatte, wurde es ihm lästiger denn je, stets nur im Schatten seiner Mutter zu stehen. In seiner Jugend war er zweimal nach Westen gesegelt, aber jetzt begnügte er sich damit, ein kurzes Stück weit nach Osten zu fahren, denn man hatte ihm berichtet, dass in einem Turm der Wenden flussaufwärts von Jumne reiche Beute zu holen sei.

Eine rasche Plünderung, ein paar volle Truhen, wenige Erschlagene, bevor die Überlebenden flohen – damit hätte es vorüber sein können und begann doch erst, denn jene Wenden aus dem Turm am Fluss vergaßen zwei Gefangene, als sie sich davonmachten. Zumindest behaupteten sie, Gefangene zu sein, ein Händler aus Lunde und sein halbwüchsiger Sohn, von wendischen Räubern überwältigt, als ihr Boot auf Grund gelaufen war. Sie waren gefesselt, und das Bein des Vaters wies eine tiefe Wunde auf.

Ich glaubte nicht, dass sie logen, aber Harald zweifelte, und Ragnar behauptete gleich, die Wenden müssten zwei Verbündete zurückgelassen haben, um uns auszuspähen.

„Wir sollten ihnen die Kehle durchschneiden, und gut“, sagte er.

„Das wäre übel gehandelt“, hielt Gunnor dagegen. Ein paar andere nickten dazu, auch Orm und Thorun, und irgendwer murmelte, dass es Unglück bringe, zwei hilflose Männer unter einem Dach zu ermorden, unter dem man zu rasten gedachte.

„Dann tötet sie draußen“, sagte Ragnar mitleidlos, ohne selbst einen Finger zu rühren.

Wir hätten die Fremden wohl besser freilassen sollen, und wenn nicht das, so hätten wir sie mitnehmen können, um einen Boten nach Lunde zu schicken und herauszufinden, ob sie tatsächlich das Lösegeld zahlen konnten, das sie versprachen.

Doch Harald schlug sich auf die Seite seines Sohns, und die meisten in unserer kleinen Kriegerschar wollten ihm nicht widersprechen. So war es beschlossen, und doch wollte keiner derjenige sein, der sein Schwert zog, nicht einmal Ragnar, der das Maul so weit aufgerissen hatte. Am Ende versprach Harald deshalb dem, der ihm die Gefangenen vom Hals schaffen würde, den besten silbernen Becher aus unserer Beute.

In manchen Augen sah ich Gier, in anderen bestenfalls Zögern, und da wusste ich, was ich zu tun hatte.

„Ich kümmere mich darum“, verkündete ich, und ehe mein Mut mich verlassen konnte, packte ich den Jungen, weil ich glaubte, dass es in der Reihenfolge einfacher gehen würde, und führte ihn zur Tür.

Orm stand mir mit voller Absicht im Weg, aber Ragnar lachte ihn aus und stieß ihn beiseite, und dann hinderte mich niemand mehr daran, den zitternden Jungen den Hügel hinab zu den Büschen am Flussufer zu führen, wo ich fern aller neugierigen Augen tat, was getan werden musste.

Sie starrten mich alle an, als ich den Turm wieder betrat, aber ich ließ mich nicht aufhalten und nahm nun den Kaufmann beim Arm. Bei ihm brauchte ich deutlich länger, ihn den Hang hinabzuschleifen, denn trotz seines kranken Beins wehrte er sich heftig und verfluchte mich bei jedem Schritt. Ein letztes Mal tat er das, als meine Klinge in seine Haut drang. Er war einer, der wüste und wundersame Flüche kannte, und ich bedauerte fast, dass unsere Bekanntschaft notwendigerweise so kurz war.

Bei meiner Rückkehr in den Turm wandte Gunnor sich brüsk von mir ab, und viele der anderen tuschelten miteinander. Harald dagegen nickte mir grimmig zu, und er schien recht zufrieden mit mir zu sein, bis dann die Wenden mit Verstärkung zurückkehrten und ein Pfeil den Weg in seinen Hals fand.

Diejenigen, die wie ich zum Langschiff entkamen, nannten mich künftig Meara Bluthand. Nur Orm tat das nicht, denn er sprach von da an kein Wort mehr mit mir.

Als wir wieder in Straela waren, versuchte ich drei- oder viermal, ihn an unserem alten Platz unter dem Sanddorn aufzusuchen, denn was ich getan hatte, lastete auf mir, und ich sehnte mich danach, ihm davon zu erzählen und ihm meine Gründe zu erläutern.

Doch Orm wollte sich nicht finden lassen, und nach einer Weile gab ich es auf.

Fünf Monate vergingen. Dann starb unter dem trüben Wolkenhimmel des Spätherbsts Frau Herwör, die binnen eines Jahres ihre Schwiegertochter, ihren Sohn und ihren besten Hund für die Wildschweinjagd verloren hatte. Nicht gerade mit dem letzten Atemzug, aber doch kurz davor wies sie Ragnar das Schiff und Gunnor das Land zu, und ich nahm von beiden Abschied. Gunnor hätte mich gewiss nicht behalten wollen, und ich machte mich davon, bevor Ragnar mich fragen konnte, ob ich mit ihm auf Raubzug gehen wollte.

Jahrelang zog ich als Söldnerin umher, so weit, dass ich ein paar Mal fast bis nach Miklagard gelangte, aber doch nie ganz dorthin.

Ich war wieder in Jumne, als ich hörte, dass Ragnar, aus dem kein unbesiegbarer Heerkönig geworden war, sich mit dem Gedanken trug, stattdessen auf seine Art in Straela-am-Sund sesshaft zu werden. So schloss ich mich seinen Kriegern an und bekam zu sehen, wie niederbrannte, was von meiner Jugend noch geblieben war.

***

„Willst du ihn?“, wiederholte Ragnar sein Angebot, mir einen Beischläfer für meine einsamen Nächte zu schenken.

Ich lüge gemeinhin nicht mehr als nötig, und so will ich nicht leugnen, dass ich in Erwägung zog, dankend anzunehmen. Es hätte aus mehr als einem Grund ratsam sein können, nicht etwa nur aus dem, dass Orms empörtes Schnaufen das Erste war, was mir an diesem fürchterlichen Tag ein halbes Lächeln entlockte. Aber ich kannte ihn zu gut, um zu hoffen, ihn mühelos überreden zu können, sich nützlich zu machen. So schüttelte ich nur den Kopf, und Ragnar ging schulterzuckend weiter.

„Gut, dann bekommt der Sklavenhändler aus Lunde diese Narren eben allesamt“, sagte er.

Es ging das Gerücht, ein Kaufmann sei schon in Jumne an Ragnar herangetreten, mit dem Versprechen, ihm für alle Gefangenen, die er loswerden wolle, einen sehr guten Preis zu zahlen. Gewöhnlich gibt jemand solchen Händlern im Vorwege einen Hinweis, dass eine Plünderung bevorsteht, und ich wusste, dass es auch in diesem Fall so gewesen war. Ragnar war gern darauf eingegangen, und so lag unten am Landeplatz im Sund gleich neben Ragnars Langschiff nun die behäbige Knorr des Kaufmanns. Die Knechte und Mägde von Straela würde Ragnar natürlich selbst behalten, doch Gunnors Getreue, ihre Kämpfer und ihr Skalde, sollten fort.

„Ein großer Verlust ist es aber nicht für mich, wenn du ihn doch nimmst“, sagte Ragnar drei Schritte später. „Für einen Krüppel zahlt der Kaufmann gewiss nur die Hälfte.“

Das ließ mich stutzen, und ich wagte es endlich, einen Blick auf die Wenigen zu werfen, die noch von denen übrig waren, die heute Nacht für Gunnor zu den Waffen gegriffen hatten. Fremde bewachten sie, denn Ragnar war klug genug gewesen, nicht seine Schwertgeschwister aus Straela damit zu betrauen, sondern einen jungen Burschen aus Haithabu und eine neustrische Söldnerin.

Es waren nur vier Gefangene, die in einer Reihe aneinandergekettet vor den Überresten des Brunnenhauses auf dem rußgeschwärzten Boden saßen. Klein-Thoralf war gewachsen, seit ich ihn zuletzt gesehen hatte, aber das war kein Wunder, denn damals war er erst drei Jahre alt gewesen. Jetzt hockte er gefesselt zwischen seiner Mutter Thorun, der man die Sorge um ihn ansah, und Halfdan, der den Jungen selbst im Sitzen überragte und meinem Blick furchtlos und voller Verachtung begegnete. Ganz rechts, neben Thorun, kauerte matt und bleich Orm.

Doch was ich sah, traf mich weniger als das, was ich nicht sah. Am Ende seines linken Arms hätte schließlich eine Hand sein sollen; doch da war keine mehr, nur ein schmutzstarrendes, blutdurchtränktes Gewirr aus Leinenbinden.

Wir sahen einander an, Orm und ich, und unter allem alten und neuen Groll lag immer noch das, was wir teilten, das Wissen, dass die Geister der Gefallenen uns nebelgrau in verstörendem Schweigen umstanden und dass Herwör, fahler als sie, ihr zerstörtes Haus durchschwebte und sich besah, was Ragnar angerichtet hatte.

Ich hielt Orms Blick stand, und auch wenn es mir schwerfiel, Ragnar zu antworten, sagte ich doch klar und deutlich: „Wer weiß? Hierin liegen vielleicht ein oder zwei hörenswerte Lieder, und dafür bezahlt manch einer gut.“

Orm sah mich ausdruckslos an, und ich wandte mich ab, um Herrn Ragnar zu dem gedrungenen grauen Turm zu folgen, der nun ihm gehörte.

Der Raum im Erdgeschoss und der Lagerkeller waren kaum beschädigt. Ragnar steckte sein Schwert ein, ließ sich auf die Bank fallen, auf der er zuletzt in der Nacht vor Herwörs Tod gesessen hatte, um zu würfeln, und rief einem verschreckten Sklaven zu, er solle ihm Bier oder Wein bringen, wenn so etwas in Straela noch zu finden sei. Der alte Mann eilte die Stufen hinab, um zu tun wie geheißen, und für kurze Frist wurde es still, als Ragnars treueste Krieger sich um ihn scharten, müde von der Nacht, die wir damit zugebracht hatten, über Wildwechsel und Trollpfade nach Straela zu schleichen und uns dann dort in den Kampf zu stürzen.

Es ließ sich etwas fränkischer Wein auftreiben, genug für alle und nicht so sauer, dass er uns in die Flucht geschlagen hätte. Draußen sang ein Vogel, den es wohl nicht kümmerte, dass die Welt ein wenig untergegangen war. Arngrim, der mit uns hier aufgewachsen war, begann zu prahlen, dass er allein noch vor der Morgendämmerung drei von Gunnors Kriegern niedergestreckt habe, und rühmte sich, er hätte diesem elenden Skalden gewiss nach der Hand auch noch den Kopf abschlagen können, wenn Halfdan sich nicht schnell dazwischengeworfen hätte.

Vielleicht hätte ich darauf etwas gesagt, das ich hätte bereuen können, doch Ragnar kam mir zuvor. Er sah zu der hölzernen Treppe hinüber, die in die obere Turmstube führte, und bemerkte: „Was die Verwundeten betrifft … Gunnor lässt sich viel Zeit mit dem Sterben, nicht wahr?“

Denn Gunnor lag nicht draußen bei den Gefallenen. Gleich zu Beginn unseres Angriffs hatte ein Pfeil sie in die Schulter getroffen, und ihre Leute hatten sie in den Turm getragen und dort verarztet. Nun aber bewachten zwei von Ragnars Männern die Tür zum Turmzimmer, und Gunnor hätte längst tot sein können, wenn er nur ein Wort gesagt hätte. Noch hatte er das nicht getan, wohl in der Hoffnung, dass sie sich aufs Pferd nach Walhall schwingen würde, ohne dass er ihr den Steigbügel hielt.

„Das ließe sich ja beschleunigen“, sagte einer der Söldner aus Haithabu und musterte Ragnar lauernd, als wollte er ihn herausfordern, die Eroberung eigenhändig zu Ende zu bringen.

Aber Arngrim lachte laut auf, bevor Ragnar auch nur ein Wort sagen konnte, zeigte auf mich und rief aus: „Ich weiß auch schon, wen wir darum bitten können!“

Einige der Krieger, die damals am Fluss mit dabei gewesen waren, bejubelten den Vorschlag trunken vor Wein und Blut, und Kälte kroch mir in die Knochen.

Ich hatte nicht übel Lust, mich zu weigern und ins Freie zu gehen, doch bevor ich auch nur den Mund öffnen konnte, erschien Frau Herwör vor mir, federzart, aber voll Feuer. Sie ließ sich nicht davon stören, dass der Geist des alten Häuptlings sie umtanzte und wie gewohnt unsichtbaren Feinden seinen Zorn entgegenschrie, sondern sah mich nur aus eingefallenen alten Augen an und sagte mit Stahl in der Stimme: „Was man einmal getan hat, kann man ein zweites Mal tun, also sieh schon zu, dass du dort hinaufkommst! Dreimal habe ich mich Gunnor in den letzten Tagen gezeigt.“ Denn wenn die Not sie dazu zwingt, können Gespenster sich auch für die sichtbar und hörbar machen, die sonst blind und taub für sie sind. „Ich habe ihr gesagt, dass es töricht wäre, nicht zu fliehen, bevor Ragnar hier erscheint. Dreimal hat sie nicht auf mich gehört. Nun führt kein Weg mehr daran vorbei, dass du noch einmal tust, was du damals am Fluss getan hast – also mach deine Sache gut.“

Damit war sie verschwunden, und ich ertappte mich dabei, schwer zu schlucken.

Der Geist des Häuptlings heulte und wütete, und vonseiten der Krieger traf mich erster Spott, der meine Treue, meine Kraft und meinen Mut in Zweifel zog.

Ragnars Miene wurde etwas zu nachdenklich, während er geruhsam noch einen Schluck Wein trank, ohne auch nur zu bemerken, dass der alte Häuptling zweimal durch ihn hindurchging, bevor er den Becher wieder senkte.

Er setzte zum Sprechen an, aber ich war schneller. „Gut, ich tue es“, versprach ich, „aber wenn Gunnor erst tot ist, will ich, dass sie anständig bestattet wird.“

„Das gewähre ich gern“, sagte Ragnar und hätte mir vor Erleichterung, die Sache nicht selbst in die Hand nehmen zu müssen, wohl noch ganz andere Dinge zugestanden.

„Und gib mir Orm doch“, fuhr ich fort, denn eine Erinnerung an lang vergangene Tage regte sich klarer als alles andere in meinem Kopf. „Ich habe es mir anders überlegt; vielleicht kann ich ihn wirklich noch brauchen.“

„Ebenfalls gewährt“, erwiderte Ragnar und winkte leichthin.

Ich ging hinaus, um Orm zu holen.

Als ich wieder am Brunnenhaus ankam, war Leif, der Kaufmann aus Lunde, gerade eingetroffen, und mit ihm zwei vierschrötige Kerle von seinem Schiff. Leif war noch ein junger Mann, höchstens zehn oder zwölf Jahre älter als Thoralf, aber breitschultrig, mit einem sauber gestutzten dunklen Bart, einem Mantel aus feinster Wolle und silbernen Armreifen an beiden Handgelenken. Er nickte mir zu – schließlich waren wir uns schon mehr als einmal begegnet – und setzte dann sein höfliches Geplauder mit der Neustrierin fort.

Der Mann aus Haithabu war nicht ganz ohne jedes Mitleid, denn ich erwischte ihn dabei, wie er eine Feldflasche an Orms Lippen hielt. Was darin war, schien stärker als Wasser zu sein, auch stärker als der fränkische Wein, und so riss ich die Flasche an mich, so schnell ich konnte.

Orm und sein Bewacher sahen mich beide gleichermaßen erschrocken an, und dann wagte der junge Kerl es auch noch, Einwände zu machen: „Was soll das denn? Es ist doch nur etwas, das den Schmerz betäubt …“

„Andere haben es nötiger, ihren Schmerz zu betäuben, als irgendein Sklave“, gab ich zurück, trank selbst einen Schluck und kam zu dem Schluss, dass der mit reichlich Met vermischte Kräutertrank meinen Zwecken schon dienlich sein würde.

„Wenn du meinst“, sagte Orm, und in seinen Augen standen all die Flüche, die er nicht aussprach, während um uns die Geister raunten und seufzten.

Ich sah ihn an, und womöglich lächelte ich sogar, während ich die Flasche verschloss und an meinem Gürtel befestigte. „Vielleicht gebe ich dir doch noch etwas davon, wenn du dich entscheidest, hilfsbereit zu sein. Kannst du mit der einen Hand, die du noch hast, eine Tote waschen?“

„Ob ich was kann?“, fragte Orm fassungslos, denn so viel Ehre hatte man bisher den Gefallenen nicht erwiesen, die Ragnar von den Knechten und Mägden zu einer flachen Grube abseits des Hofs schleifen ließ.

„Natürlich kannst du“, beschied ich ihn strahlend und setzte an den Burschen aus Haithabu gewandt hinzu: „Mach ihn los. Ich behalte ihn doch. Aber besorg mir einen starken Strick, nur zur Sicherheit. Drüben in den Ställen ist gewiss einer zu finden. Und wenn du schon dabei bist, schöpf mir auch gleich einen Eimer Wasser.“

Der Junge sah mich zweifelnd an, zog aber am Ende gehorsam los, um mir das verlangte Seil zu suchen, und ich beugte mich zu Orm. Mein Lächeln war anscheinend übel genug, ihn zurückschrecken zu lassen, aber das hielt mich nicht auf. „Was ich dir sonst noch zu sagen habe, verrate ich dir gleich, Orm, aber das bleibt unter uns; die anderen müssen es nicht unbedingt hören.“

Leif, der Kaufmann, lachte laut darüber, und die Neustrierin fiel mit ein, während ich Orm in aller Eile ins Ohr flüsterte, was ich ihm mitzuteilen hatte. Anders als ihm fehlte mir jede Begabung für gefällige Worte, doch immerhin war ich schnell genug, das Entscheidende loszuwerden, bevor der Junge mit dem Seil zurückkehrte.

Orm wurde blasser und blasser, während ich redete, und als er mich danach ansah, sprach schiere Verzweiflung aus seinem Gesicht. „Ich hätte dich wohl gut genug kennen sollen, das zu ahnen“, sagte er tonlos.

„Das ist, wie du sagst“, beschied ich ihn und trat zurück, damit der jugendliche Söldner das Wasser schöpfen und Orm dann von seinen Ketten befreien konnte.

Es ist nicht einfach, einen einhändigen Mann mit einem Strick zu fesseln. Der Junge aus Haithabu bemühte sich redlich, aber am Ende sagte ich ihm, dass er es genauso gut bleiben lassen könne.

„Jetzt brauchen wir das Seil noch nicht“, erklärte ich und lachte Orm an, der aussah, als würde ihm gleich übel werden, „erst später. Ich will doch keine unschöne Überraschung erleben, wenn alles überstanden ist und ich nur noch meine Freude haben möchte. Komm, Orm – wir gehen.“

Da fielen Thorun, wenn ich mich nicht irre, noch viel schlimmere Schimpfwörter als „Bluthand“ für mich ein, zumindest so lange, bis die Neustrierin ihr einen Schlag auf den Kopf versetzte und ihr riet, den Mund zu halten.

Ich weiß es nicht sicher, denn ich hörte nicht hin, während ich zurück zum Turm schritt, die linke Hand fest um Orms gesundes Handgelenk gelegt, den Strick und den überschwappenden Eimer für die Totenwäsche in der Rechten.

Auf der Türschwelle straffte Orm sich auf einmal, und für einen Herzschlag oder zwei war er wieder der selbstsichere Skalde, nicht der verängstigte Gefangene, dem Hand und Hoffnung verloren gegangen waren.

„Du solltest Frau Gunnors Schicksal beklagen und die verfluchen, die ihre Halle niedergebrannt haben“, sagte er streng. „So laut, dass alle hier es hören können.“

„Sei still“, fuhr ich ihn an, wie ich es musste, und stieß ihn weiter, vorbei an Ragnars erstarrtem Gesicht und den höhnenden, spottenden Kriegern, die Stufen hinauf bis zu der geschlossenen Tür und den schweigenden Wachen. Ich ließ Orm und den Eimer bei ihnen und ging allein ins Zimmer.

Gunnor war leichenblass und ihre Tunika hing in Fetzen, doch sie setzte sich tapfer auf, als ich eintrat, und wirkte dem Tode nicht ganz so nah, wie Ragnar gehofft haben mochte. Leise sagte ich ihr, weshalb ich gekommen war, und sie kämpfte sich mit so ungläubigem Gesicht auf die Beine, dass ich sie grob beim Kragen packte und zu demjenigen der beiden Turmfenster schleifte, das auf den Hof hinausging.

„Sieh ja gut hin“, wies ich sie an, und mein Ton ließ selbst in meinen eigenen Ohren zu wünschen übrig. So zeigte ich ihr den Händler, der ihre verbliebenen Getreuen mitnehmen würde und eben noch mit Ragnar feilschte.

Da wusste Gunnor, wie es stand. Sie lachte erstickt auf, hielt sich die verwundete Schulter, lehnte sich an die Wand und sah mich unverwandt an.

Ich löste die Feldflasche von meinem Gürtel, sammelte mich und tat dann langsam und gründlich, was getan werden musste.

Die Wachen, die sahen, wie ich in meinen Mantel gehüllt die Turmstube verließ und Orm einen gebieterischen Wink gab, an die Arbeit zu gehen, wagten es nicht, mich anzusprechen; sie wussten bestimmt, dass man eine Tat wie diese auch von Meara Bluthand nicht jeden Tag verlangen konnte. Ähnlich mag es Ragnars Kriegern gegangen sein, als sie beobachteten, wie ich steifbeinig die Treppe hinunterstolperte, und selbst Ragnar, der, die Hände voller Hacksilber, zurückgekommen war, hielt es wohl für das Klügste, nicht zu fragen, wie alles verlaufen sei. Schließlich konnten sie ja auch alle Orms Stimme hören, die weinend all jene verfluchte, die das Verhängnis über diesen Hof gebracht hatten. Ich nehme an, sie beschlossen, ihn eine Weile bei seiner unersprießlichen Aufgabe in Frieden zu lassen, statt den Versuch zu wagen, einen Blick auf Gunnors Leichnam zu erhaschen. Sicher weiß ich das allerdings nicht.

Ich schlich mich auf verborgenen Wegen aus Straela fort, erst verstohlen und heimlich den Hang hinab, dann aber immer hastiger, sobald ich den Schutz der Bäume erreicht hatte. Auch hier streiften Geister umher, und ich sah zwei Trolle, aber ich achtete kaum auf sie, sondern sprang über Wurzeln und Steine hinab zum Sund, so schnell ich konnte, und lauschte dabei aufmerksam, ob mir Schritte folgten.

Es war fast Mittag, als ich die Knorr aus Lunde erreichte. Ich hatte im Voraus gewusst, was mich erwarten würde: Ragnars Langschiff, das verlassen und unbewacht dalag, Leif, der mit einem seiner Männer am Ufer Ausschau hielt, die vorhin in seinen Besitz gewechselten Gefangenen aus Straela, die in der Frühjahrskälte eng aneinandergerückt waren – und ich selbst, wie ich ein paar Schritte vor mir mühsam an Bord kletterte.

Das zumindest brachte Halfdan, Thoralf und Thorun dazu, die Köpfe zu heben, und Thoruns Blick war kurz seltsam hoffnungsvoll, bevor sie dann staunend die Augen aufriss. Doch es war Halfdan, der als Erster laut auflachte und Thoralf anstieß, während Thorun nur mit offenem Mund Gunnors rotes Haar anstarrte, das zum Vorschein gekommen war, als sie meine Kapuze zurückgeschlagen hatte, um dann auf den Schiffsplanken zusammenzubrechen.

„Aber …“, begann Thoralf und sagte wahrscheinlich noch mehr, doch seine Knabenstimme wurde mühelos von Leif übertönt, der mich überschwänglich begrüßte und versicherte, wir könnten gleich aufbrechen.

„Um die Wachen habt ihr euch gekümmert?“, vergewisserte ich mich, als ich ins flache Wasser watete.

„Ganz wie besprochen“, sagte Leif heiter und deutete zu der Stelle hinüber, an der die Sanddornbüsche wuchsen. Ich wusste, dass Ragnar seine wackeren Schiffswachen dort gefesselt und geknebelt vorfinden würde, falls er sich nachher die Mühe machte, nach ihnen zu suchen.

Hilfsbereite Hände zogen mich über die Bordwand und hoben Orm dann weitaus behutsamer aufs Schiff. Kaum dass man ihn abgesetzt hatte, rollte er sich zusammen wie ein kranker Hund und fühlte sich ganz offensichtlich kaum besser als die arme Gunnor.

Es ist allerdings auch nicht leicht für einen Mann, den man um eine Hand gebracht hat, aus einem Turmfenster zu klettern, selbst dann nicht, wenn ein starker Strick da ist, um ihn zu sichern, und schon gar nicht, wenn er diesen Abstieg bewältigen muss, während er einem Geist seinen Willen aufzwingt.

Ich hatte mich recht entsonnen, dass der wütende Häuptling, dessen Stimme mich so an Orm erinnerte, gelegentlich auf ihn hörte, aber heute hatte es nicht ausgereicht, ihm vor Ragnar und all den anderen geradewegs zu sagen, dass er um Gunnor klagen sollte. Es war ein gewisses Maß an innerer Kraft nötig gewesen, der Bitte Nachdruck zu verleihen, Zauberei, wenn man so will, oder schlicht die Gabe eines Geistersprechers. Nachdem er mehr Blut und Freunde verloren hatte, als irgendjemandem an einem Tag guttut, war es Orm nicht leicht gefallen, sich bei dem Gespenst Gehör zu verschaffen. Nun war er so erschöpft, dass er nicht einmal wieder aufstand, um sich anzusehen, wie Leifs Leute Ragnars Schiff in Brand steckten, bevor wir abfuhren.

Von Osten blies stetig ein kalter Wind, ein letzter Rest Winter, der mir eisig wie die Erinnerung an all die ausgestandene Angst unter Gunnors blutbefleckte Kleider kroch. Was ich zuvor getragen hatte, zumal der Mantel mit der weiten Kapuze, hatte ihr als Schutzschild gedient, als sie die Stufen hinab in die Freiheit hinausgestolpert war. Das Schmerzmittel, das ich ihr in der Feldflasche gebracht hatte, war wohl gerade stark genug gewesen, es wirken zu lassen, als sei sie nur erschüttert, nicht übel verwundet. Doch da sie für kurze Frist ich gewesen und der Häuptlingsgeist für Orm eingesprungen war, hatten wir beiden durchs zweite Turmfenster steigen können, das vom Hof abgewandt lag und nun unbewacht war, da Ragnar sich für den unangefochtenen Herrn von Straela hielt.

All das würden wir Halfdan, Thorun und Thoralf später erklären müssen, denn Leif wusste nicht, was genau dort oben geschehen war. Er konnte ihnen nur die andere Hälfte der Geschichte erzählen, während er sie losmachte, die nämlich, wie ich ihm in Jumne begegnet war, nachdem Frau Herwörs Geist mich eines Nachts heimgesucht hatte. Ihr Enkel – so hatte Herwör erklärt – würde sich Straela mit Feuer und Schwert holen, und so hatte sie mich dringend gebeten, zu tun, als würde ich mich seinem Gefolge anschließen, nur um so viele wie möglich von denen zu retten, die zu töricht oder aber Gunnor zu treu ergeben waren, um zu fliehen oder die Waffen zu strecken. Sie hatte mich schwören lassen, es so zu halten, und ich hatte es gern getan, denn allem alten Groll zum Trotz hasste ich niemanden dort genug, um ihn tot oder zum Sklaven herabgewürdigt sehen zu wollen, nicht einmal Orm, der so schlecht von mir gedacht hatte.

In jener Nacht hatte ich bis in die Morgendämmerung wachgelegen und einen hoffnungslosen Plan nach dem anderen geschmiedet und wieder verworfen, bis mir der Gedanke gekommen war, einen Händler aufzutreiben, den ich überreden konnte, mein in fremden Diensten erworbenes Silber zu nehmen und so viele meiner Freunde aufzukaufen, wie davon zu bezahlen waren, wenn Straela tatsächlich fiel.

In meiner Verzweiflung hätte ich mich wohl mit jedem halbwegs vertrauenswürdig aussehenden Kaufmann auf das Wagnis eingelassen, doch durch einen seltsamen Zufall oder vielleicht sogar durch das segensreiche Wirken der Nornen hatten Leif und sein Vater meinen Weg gekreuzt, bessere und festere Verbündete, als Fremde es je hätten sein können. Wir hatten beschlossen, Leif vorzuschicken, um Ragnar das Angebot vorzutragen, denn obgleich die beiden sich vor langer Zeit einmal kurz gesehen hatten, hatte der junge Händler sich seitdem sehr verändert und würde wohl kaum erkannt werden.

Jetzt, auf dem Schiff, das zwischen übermütigen Kormorangeistern auf dem sonnenhellen Wasser dahinglitt, warfen die Krieger aus Straela mir erst scheue Blicke zu, als ich zu ihnen hinüberkam, um dann schließlich zurückhaltende Dankesworte zu finden.

Halfdan, der immer schon kühn und geradeheraus gewesen war und mich am besten von allen kannte, wagte am Ende doch noch, die Frage zu stellen, die wohl alle drei umtrieb: „Aber wie hast du Orm und Gunnor überredet, sich auf deinen Plan einzulassen?“

Ich lachte unwillkürlich und sah kurz zu den beiden hinüber, deren Wunden nun besser verbunden wurden, als es im Aufruhr des Angriffs auf Straela hatte geschehen können. „Wie könnte irgendjemand Meara Bluthand noch über den Weg trauen, das willst du doch sagen, nicht wahr? Es war ganz einfach. Orm habe ich die Wahrheit gesagt, als er endlich keine andere Wahl mehr hatte, als mir zuzuhören, und Gunnor … Die hat mir sofort geglaubt, als ich ihr den Kaufmann gezeigt habe, der euch fortbringen sollte.“

„Dann hat sie wohl ein besseres Gedächtnis für Gesichter als die traurigen Gestalten hier“, sagte Leif, der herangeschlendert gekommen war, höchst vergnügt.

„Das hat sie“, bestätigte ich und sah zu, wie die drei ihn aufmerksamer als zuvor musterten.

Bei Thorun regte sich vielleicht eine erste schwache Erinnerung, aber ihr Sohn war nun vollends verwirrt. „Wer ist er denn?“, fragte er hilflos.

„Keine Sorge, mein Junge, wir kennen uns nicht“, beschied Leif ihn und streckte die Hand aus, als wollte er ihm durchs Haar fahren; dann aber entschloss er sich im letzten Augenblick doch, Thoralfs Ehre unangetastet zu lassen. „Es sei denn, du warst schon in ganz jungen Jahren bei einem Überfall auf einen Turm der Wenden am Fluss nicht weit von Jumne dabei?“

Dann rief er munter nach seinem Vater, der vom Steuerruder aus die ganze Zeit über schadenfroh zugesehen hatte. Jetzt überließ er seinen Platz einer älteren Frau und kam zu uns gehinkt. Sein Bart war grauer als vor zehn Jahren, aber sein Bein war nie ganz geheilt, und an seinem Unterarm sah man noch die Narbe, die mein Messer hinterlassen hatte, als ich ihn hastig losgeschnitten hatte, um ihn dann zu seinem Sohn zu schicken, der schon tief im Dickicht am Fluss versteckt gewartet hatte.

Den ehrbaren Kriegern aus Straela ging vielleicht endlich auf, dass er an jenem traurigen Tag die reine Wahrheit gesagt hatte und nie etwas Gefährlicheres als ein harmloser Kaufmann aus Lunde gewesen war. Doch ich blieb nicht, um mitzuerleben, wie dieses Wiedersehen verlaufen würde, noch nicht einmal, um zu hören, ob beiden Seiten wieder so eindrucksvolle Flüche einfallen würden wie damals.

Stattdessen ging ich zum Heck der Knorr, blickte zurück und sah Ragnars brennendes Schiff kleiner und kleiner werden. Die Rauchsäule war mittlerweile hoch genug, um von Straela aus zu erkennen zu sein, und wenn Ragnar noch nicht wusste, dass ein Gespenst und zwei Geistersprecher ihn am helllichten Tag überlistet hatten, dann würde er es bald erfahren. Doch nun hatte er kein Mittel mehr, um uns allzu bald einzuholen, und ich konnte es mir leisten, mich in aller Ruhe hinzusetzen und träge darüber nachzusinnen, welcher der Geretteten mich wohl zuerst aufsuchen würde.

Dass es Orm war, überraschte mich nicht.

Sobald sein Armstumpf sicher verbunden war und seine Beine ihn wieder trugen, kam er zu mir. An das, was er zuerst murmelte, als er verlegen vor mir stand, erinnere ich mich kaum, nur an den Eindruck, dass es sehr ungewohnt war, einen Orm vor mir zu haben, der nicht wusste, was er sagen sollte.

Müde bedeutete ich ihm, sich zu mir zu setzen, und er tat es noch immer viel zu bekümmert, nicht unbedingt nur über das, was er heute durchgemacht hatte, sondern auch über das, was ihm vor Jahren entgangen war.

„Ich habe dir damals auf Haralds Wikingerfahrt und später bitter Unrecht getan“, sagte er, als wir einander ansahen, und ich befürchtete sehr, dass er zu weinen beginnen würde.

„Wage es ja nicht, in Tränen auszubrechen wie ein kleiner Junge“, riet ich ihm hitzig, denn ich ahnte, dass ich auch nicht länger würde an mich halten können, wenn er erst die Fassung verlor. „Es ist alles nur deine Schuld. Du warst es schließlich, der mir von Liedern erzählt hat, die nur in Blutvergießen und Tod enden, und du hast mich auf die Frage gebracht, ob zu einer scharfen Klinge notwendigerweise ein kaltes Herz gehören muss.“

„Das hast du also nicht vergessen?“, antwortete er, und in seiner Stimme lag unerwartete Zärtlichkeit, ganz so, als könnte zuweilen auch eine, die schwarzhaarig und still war, ganz nach seinem Geschmack sein.

„Ich habe mich noch etwas gefragt“, fuhr ich fort, „und zwar, ob all diese Lieder wohl wirklich so enden, weil die Dinge nun einmal keinen anderen Verlauf nehmen können, oder ob wir nicht vielmehr alle weiter handeln wie die Leute in Liedern und Geschichten, weil ihr Skalden uns einredet, dass es so und nicht anders sein muss.“

„Wenn es sich wirklich so verhält, dann habt ihr schlecht zugehört, Gunnor und du“, ließ Orm mich wissen, „denn wenn dies das große Lied von der Schlacht zu Straela wäre, dann wäre Gunnor, grimmig und glorreich, die Treppe hinabgestiegen, um ihrem Bruder mit deinem Schwert den Kopf abzuschlagen und selbst von seinen Kriegern getötet zu werden. Und du wärst allein aus dem Fenster geflohen, um die Tür zu verschließen, den Turm in Brand zu stecken und alle in den Flammen umkommen zu lassen, vor allem diesen treulosen Sänger. Rache und Ruhm, höchst befriedigend, das musst du zugeben, und eine angemessen schlechte Welt.“

„Wenn du verbrannt wärst, könntest du jetzt aber kein viel besseres Lied dichten“, sagte ich, „allenfalls noch einen Gespenstergesang, und der würde mir nicht gefallen; die Geister klingen oft viel zu traurig.“

Orm sah die eine Hand an, die ihm geblieben war. „Ich weiß nicht, ob nach allem, was geschehen ist, überhaupt noch ein Lied in mir steckt. Wenn ja, dann kann es kein Harfenlied werden, so viel steht fest.“

„Ich kann ja deine Harfnerin sein“, sagte ich, und endlich lächelte er zum ersten Mal an diesem Tag und musste sich sogar ein Auflachen verbeißen.

Trotz seiner geschmeidigen Zunge war er nie ein Schmeichler gewesen, aber heute ersparte er es mir, laut zu sagen, dass es dann wirklich ein Lied sein musste, das jeder Narr und jedes Kind spielen konnte.

Ich hätte es für ihn aussprechen können, denn ich wusste sehr gut, dass ich mit der Harfe weit schlechter umzugehen verstand als er mit einem Schwert. Doch mein Herz war zu voll, und mein Mund zu müde. So war ich es zufrieden, den Kopf an Orms Schulter zu lehnen und zu spüren, wie seine verbliebene Hand sich um meine Hüften schlich, während das Schiff uns aus dem Sund hinaus und westwärts nach Lunde trug.

Finis

Noch eine kleine Nachbemerkung für alle, die meine Geschichten schon länger verfolgen: Bei dem Jungen aus Haithabu könnte es sich vielleicht um Auds Neffen aus Hechte, Mond und Sterne handeln, der inzwischen vermutlich an seiner Berufswahl zweifelt und sich fragt, ob er nicht doch lieber beim Glasperlenmachen hätte bleiben sollen.