Lesestoff: Caesars Weisheit

In den Lesestoff-Beiträgen der letzten Wochen sind ja schon mehrfach Herrad und Wulfila aufgetaucht oder zumindest erwähnt worden (hier und hier). Wer wissen möchte, wie die Richterin und der Dieb überhaupt ein Paar geworden sind, muss zu meinem ersten Roman Tricontium greifen, aus dem dann auch der heutige Mittwochslesestoff stammt. In der folgenden Szene begegnen die beiden sich gerade zum ersten Mal wieder, nachdem sie sich einige Jahre zuvor unter eher unglücklichen Umständen kennengelernt haben.

Diesmal kommt auch ein bisschen Latein im Text vor, daher kurz zur Erklärung:

Deo gratias – Gott sei Dank

Fere libenter homines id quod volunt credunt – Die Menschen glauben ganz gern das, was sie wollen (Caesar, De bello Gallico, 3,18; das Zitat ist hier aber zugegebenermaßen arg aus dem Kontext gerissen)

Caesars Weisheit
(Tricontium, S. 43-48)

Tricontium hatte nicht einfach an Bedeutung verloren; es war schlicht verlassen und zerstört. Immerhin war die Richterin dort, und das war mehr, als Wulfila noch zu hoffen gewagt hatte, als er den halb abgetragenen Ringwall, den die Leute des Königs nach dem Krieg geschleift haben mussten, von weitem erspäht hatte.

Herrad war in die Betrachtung eines Mauerstücks versunken gewesen, doch sie wandte sich um, als der Krieger, der die Neuankömmlinge abgefangen hatte, kaum dass sie sich dem alten Wall auf zehn Schritte genähert hatten, sie ehrerbietig ansprach: »Frau Herrad? Vergebt – doch es scheint, als hätte Eure Anwesenheit Bettler hergezogen. Der Mann da sagt, dass er Euch sprechen möchte.«

Der dunkle Barsakhanenkaftan, den die Richterin trug, war derart von Schmutz und Staub bedeckt, dass Wulfila sich fragte, ob sie in sämtlichen Ruinen Tricontiums herumgeklettert und in jedes Kellerloch, das sie hatte entdecken können, gekrochen war. Der Ausdruck der Augen, die ihn nun geradewegs anblickten, hatte sich aber mit dem Ablegen der strengen Robe, in der er Herrad zuletzt gesehen hatte, nicht geändert. Die Richterin verstand sich darauf, einen glauben zu machen, dass sie jede Lüge durchschauen, jeden Fehler bemerken würde.

Ein gutes Gedächtnis hatte sie außerdem, denn ohne merkliches Zögern sagte sie nun: »Keine Bettler, nein. – Was führt Euch her? Ihr würdet nicht herkommen, um mich um Geld oder Brot anzugehen, und auch sonst gibt es wohl kaum etwas, was Euch herlocken könnte.«

Wulfila brachte, sogleich von Wulfin nachgeahmt, eine halbe Verneigung zustande; eine ganze war seinem schmerzenden Rücken gegenwärtig beim besten Willen nicht zuzumuten. »Ich komme als Bote. Ardeija schickt mich.« Dieser Hinweis war fast überflüssig, da Gjuki sich just in diesem Augenblick entschloss, den Kopf aus Wulfilas Mantel, unter dem er den größten Teil der Reise verbracht hatte, hervorzustrecken und die Richterin mit einem hellen Zirpen zu begrüßen, bevor er sich zu Boden gleiten ließ, um an ihren Kleidern hinauf auf ihre Schulter zu klettern und die rosige Schnauze an ihrer Wange zu reiben.

Herrad schien derartige Liebkosungen von dem kleinen Drachen gewohnt zu sein, denn sie verzog keine Miene. »Ist er noch in Corvisium?«, fragte sie stattdessen mit einem Unterton von Besorgnis.

Wulfila schüttelte den Kopf. »Er ist auf dem Brandhorst, in Asgrims Gewalt, und es geht ihm nicht sonderlich gut. Man hat ihn nach einem Kampf im Kranichwald gefangen genommen, doch was genau dort vorgegangen ist, hat er mir nur in Bruchstücken erzählt. Anscheinend hat man ihn absichtlich in einen Hinterhalt gelockt. Über die Gründe konnte er nur Vermutungen anstellen.« Er hatte viel zu hastig gesprochen, nicht so deutlich und geordnet, wie ein guter Bote seine Nachricht vortragen sollte, aber nun, da er für heute am Ziel war und nicht recht wusste, wie lange ihn seine Beine noch tragen würden, wollte er die Sache hinter sich haben. Das Bündel glitt ihm aus der Hand und traf härter, als es den Äpfeln bekommen würde, auf den Boden. Er hätte sich am liebsten ohne weitere Umstände daneben gesetzt und sich nicht mehr gerührt.

Falls die Richterin bemerkte, wie erschöpft er war, war es ihr gleichgültig. »Ist das alles, was er mir ausrichten lässt?«, fragte sie nur knapp und hob nebenbei eine Hand, um Gjukis Schwanzspitze von ihrem Ohr fortzubefördern.

Vielleicht hätte Wulfila über den Anblick gelächelt, wenn er es gewagt hätte, in Herrads Gegenwart anders als ernsthaft und höflich dreinzusehen. »Nein. Er lässt Euch sagen, dass Ihr Euch keinesfalls selbst zum Brandhorst begeben sollt. Fernerhin rät er, auf seinen verletzten Arm und mögliche bleibende Schäden zu verweisen, die ihn für Euren Dienst ungeeignet machen könnten, wenn der Fürst ein übertriebenes Lösegeld zu verlangen versucht.«

»Hat Asgrim ihm gegenüber Forderungen geäußert?«

»Nein, soweit ich weiß. Und wenn es ihm nur um das Geld zu tun wäre, hätte er für einen Verwundeten einen besseren Unterbringungsort als ein Verlies wählen sollen.«

Es war Herrad gelungen, Gjuki mit sanftem Nachdruck auf ihren Arm zu setzen, wo er sich nun leidlich ruhig eingerichtet hatte. »Ihr wart mit ihm dort, nehme ich an.«

»Seit man ihn vorgestern brachte, bis heute Morgen.«

»Weshalb wart Ihr dort?«

Wulfila fand, dass das Gespräch sich bedenklich einem Verhör zu nähern begann. Sie hätte sich die Frage gewiss auch selbst beantworten können – und was ging ein Diebstahl auf Asgrims Land die Richterin überhaupt an? Darüber hatte sie nicht zu befinden.

»Ich hatte einen Kürbis gestohlen«, sagte er dennoch ehrlich, um rasch hinzuzufügen: »Doch die Sache ist mittlerweile geklärt.«

Zum ersten Mal kräuselten sich die Lippen der Richterin. »Ihr seid über die Jahre nicht anspruchsvoller geworden. Wenigstens laufen Kürbisse nicht so schnell wie Hühner, nicht wahr? Aber gut. Sagt mir noch eines. Warum sollte ich Euch die Geschichte abnehmen?«

Sehr zu Wulfilas Leidwesen war diese Frage alles andere als unberechtigt. »Sie ist wahr«, entgegnete er. »Aber Ihr werdet sagen,dass das kein guter Grund ist, zumal Euch die Möglichkeit fehlt, sie nachzuprüfen. Was sonst kann ich Euch also sagen? Lasst mich nachdenken … Wenn man Euch betrügen wollte, hätte man nicht mich als Boten gewählt, sondern jemanden, der Euch mehr Vertrauen einflößen könnte. Und außerdem ist der Drache mitgegangen. Wenn ich Ardeija etwas Böses getan hätte, würde er mich wohl verabscheuen.«

Herrad runzelte die Stirn. »Dieser Drache verabscheut niemanden, der ihm nur lange genug den Rücken streichelt, ganz gleich, was Ardeija sagen mag. Beginnen wir es also anders … Warum tut Ihr Ardeija den Gefallen? Nein, erinnert mich nicht daran, dass Ihr ganz hilfsbereit sein könnt, wenn Ihr wollt, das weiß ich! Doch in einem Tag vom Brandhorst hierher zu wandern, mit einem Kind, und obwohl es Euch nicht gut geht … Das ist mehr als ein kleiner Dienst.«

»Man schlägt einem Freund eine solche Bitte nicht ab.«

»Einem Freund, sagt Ihr.« Herrads Blick war forschend geworden. »Ihr schließt Eure Freundschaften schnell, wenn anderthalb Tage in einem Kerker genügen, jemanden zu Eurem Freund zu machen.«

»Wir kannten uns schon früher … Von vor dem Krieg«, sagte Wulfila und betete, dass Herrad sich mit dieser Angabe begnügen und nicht die Frage stellen würde, wer er vor Bocernae gewesen war. Die Rede hätte leicht auf seinen Vater kommen können, und wenn das geschah, würde daraus womöglich größerer Ärger erwachsen als aus allen Kürbisdiebstählen und Hühnerentführungen. So war er nicht undankbar für die Unterbrechung, die eintrat, bevor die Richterin nachhaken konnte.

Während sie miteinander gesprochen hatten, war ein Mann herangekommen, in dem Wulfila einen ihrer Schreiber zu erkennen glaubte, und hatte Herrad durch ein Zeichen bedeutet, dass er ihr etwas mitzuteilen habe; nun flüsterte er ihr rasch einige Sätze ins Ohr, die Wulfila nicht verstand.

Die Richterin nickte leicht. »Es ist gut, Oshelm«, entgegnete sie und reichte den Drachen an den Schreiber weiter. »Aber seht einmal her … Wir haben Nachricht von Ardeija, oder doch jemanden, der behauptet, uns Aufschluss über sein Schicksal geben zu können.«

»Dazu sollte er wohl in der Lage sein, wenn er Gjuki hergebracht hat«, sagte Oshelm durchaus zutreffend, wenngleich mit einer gewissen Missbilligung, die eher Wulfilas Person als seiner Botschaft gelten mochte.

Die Richterin hatte die Arme verschränkt. »Er sagt, dass Ardeija auf dem Brandhorst festgehalten wird.«

»Ein großes Wunder wäre das nicht.« Oshelm strich dem Drachen mit einem Finger über den Kopf. »Hat der Bursche hier in dem gleichen Loch wie Ardeija gesteckt?«

»Das sagt er.« Herrad hatte sich wieder Wulfila zugewandt. »Wer hat sich in der Zeit, die Ihr dort verbracht habt, um Euren Sohn gekümmert?«

»Er war bei mir.«

Herrad sah zweifelnd drein, und Wulfila fand sich in der Ansicht bestätigt, dass es sich selten auszahlte, einer Richterin gegenüber einen Sachverhalt wahrheitsgemäß darzustellen. Wulfin war, Deo gratias, noch weniger erfahren im Umgang mit Leuten von Herrads Schlag, doch spürte er gut genug, dass man seinem Vater nicht glaubte, und das war etwas, das er nicht hinnehmen konnte.

»Es war schon richtig so«, versicherte er und setzte, bevor Wulfila auch nur daran denken konnte, ihn zu unterbrechen, hinzu: »Ich war ja dabei, als wir den Kürbis geholt haben.«

Herrad zog die Stirn kraus. »Ihr habt Euren Sohn angeleitet, Kürbisse zu stehlen?«

Sie klang wie jener Richter in Valliolum, der Wulfila vor etwa drei Jahren mitgeteilt hatte, er sei mehr als ungeeignet, ein Kind aufzuziehen, und wenn er ihm Wulfin ließe, dann nur, weil ihm niemand anders einfiele, dem er den kleinen Jungen aufbürden könne.

»Nein; er war nur dabei.« Wulfila konnte nur hoffen, dass Herrad auf feine Unterscheidungen ebenso viel Wert legte wie Malegis, denn was werden sollte, wenn sie beschloss, dass sie ihm nicht nur kein Wort glaubte, sondern auch noch Wulfin vor ihm retten musste, wusste er nicht. Unwillkürlich schlossen sich seine Finger fester um Wulfins Hand, als hätte das allein verhindern können, dass man ihm seinen Sohn wegnahm. »Er war wirklich nur bei mir. Ich würde ihm nicht willentlich etwas Rechtswidriges beibringen.«

Er hätte noch mehr sagen können, doch zu erklären, wie es dazu gekommen war, dass er unter Umgehung bestehender Gesetze ein Abendessen zu beschaffen versucht hatte, hätte mindestens zu größerer Verwirrung, vielleicht aber gar zu einem ernstlichen Verhör geführt. Ohnehin wirkten Herrad und Oshelm nicht, als ob sie ihm seine Beteuerungen abnahmen.

Mit weiteren Fragen hatte er folglich gerechnet, nicht aber mit dem, was Herrads Schreiber tatsächlich erwiderte: »Ihr seht nicht aus, als ob Ihr ihm viel anderes beibringen könntet.«

Wulfilas Antwort war heraus, ehe er sich besser bedenken konnte: »Wenn Ihr Euch ein Urteil darüber zutraut, seid Ihr vermessen. Doch fere libenter homines id quod volunt credunt, nicht wahr?«

»Ich gestehe, dass Caesar gelegentlich einen Anflug von Weisheit gehabt haben muss«, sagte Herrad behaglich.

Ihr Blick traf seinen und einen Herzschlag lang waren sie nicht Richterin und Dieb, sondern nur zwei Menschen, die eine Erinnerung an ähnliche Erfahrungen verband, Lateinstunden in einer längst vergangenen Kindheit, holprige erste Übersetzungen und auswendig gelernte Texte, die man auch nach Jahren noch im Kopf hatte.

Dann war es vorüber und Wulfila nickte. »So geht es zuweilen mit Leuten, denen man gemeinhin keinerlei Weisheit zugestehen möchte.«

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