Lesetipp: Runa

Im letzten Jahr um diese Zeit erschien Sameena Jehanzebs Winterhof, ein origineller und moderner Blick auf den Schneeköniginnenstoff. Nun ist die Autorin in dieselbe Welt zurückgekehrt, um erneut ein düsteres Märchen von Tod und Liebe zu erzählen, das allerdings vor dem älteren Roman spielt: Runa. Eine kurze Geschichte vom Winterhof.

Wie der Titel schon ahnen lässt, steht hier Runa im Mittelpunkt, die geheimnisvolle junge Frau, die in Winterhof überwiegend im Hintergrund agiert. Das Leben hat sie nicht verwöhnt: Als Kind einer gewalttätigen Mutter aufgewachsen und von der Gesellschaft im Stich gelassen, sieht sie ihre einzige Chance in der Flucht in Kriminalität und Obdachlosigkeit. Nur ein besonderer Gegenstand, der ihr auf einem ihrer Streifzüge in die Hände fällt, spendet ihr Trost. Doch auf der Straße sind selbst Kleinigkeiten von geringem objektiven Wert schnell gefährdet.

Einsam wie Runa ist auch Ida, die kalte Herrin des Winterhofs. Frei wie eine Stadtstreicherin kann sie sich allerdings nur in der eisigsten Jahreszeit bewegen, und selbst dann bringen Begegnungen mit ihr meist kein Glück und tun auch ihr insgeheim nur weh – es sei denn, man ist kein Mensch wie alle anderen …

Wer Winterhof gelesen hat (was zum Verständnis der Geschichte nicht zwingend notwendig ist), ahnt natürlich schon, wie die Begegnung der beiden von ihrer sozialen Stellung her so gegensätzlichen und doch gleichermaßen in ihrer jeweiligen Außenseiterrolle gefangenen Frauen ausgehen wird.

Doch das Ende ist gar nicht einmal das Wichtigste an der kleinen Erzählung. Sie lebt vielmehr von Sameena Jehanzebs Talent, Schauriges zugleich faszinierend zu machen, und von ihrer einfühlsamen Charakterisierung der Figuren. Wie immer in ihren Büchern ist viel Mitgefühl mit den Schwachen und Ausgestoßenen dabei, das deren Handeln nachvollziehbar macht, ohne es zu entschuldigen, daneben aber auch ein untrügliches Gespür für die finsteren Aspekte von Mythen, Sagen und Märchen. Sentimentalität kann da nicht aufkommen, aber doch so etwas wie ein Moment des Trosts inmitten sehr bitterer Verhältnisse.

So ist die – um einmal die Geschichte selbst zu zitieren – „grausamschöne Welt des Winterhofs“ auch diesmal wieder einen Ausflug wert. Wer sich dem Winter entgegengruseln möchte, findet in Runa und Ida kundige Reisebegleiterinnen.

Sameena Jehanzeb: Runa. Eine kurze Geschichte vom Winterhof. Norderstedt, Books on Demand, 2019 (E-Book).
ISBN: 978-3749480715