Das hier besprochene Buch ist der abschließende Band eines Zweiteilers. Die Rezension des ersten Bandes findet sich hinter diesem Link.
Obwohl ihr nach ihrer Promotion auch der Weg in die Wissenschaft offenstünde, ist die Physikerin Nike Wehner weiter als Beraterin der Polizei in Fragen der Magie, die sich aus dem Zusammenwirken von Wissenschaft und Kunst ergibt, tätig, während ihr früherer Kollege, der Künstler Sandor Černý, aus Gewissensgründen den Dienst quittiert hat und lieber an der Seite seines besten Freundes und heimlichen Angebeteten Jiří als Mitglied einer Anarchistengruppe für einen Wandel der Verhältnisse kämpft. Doch die Weltwirtschaftskrise hat Berlin verändert: Soziale Gegensätze treten immer krasser hervor, die aufstrebenden Nazis gewinnen an Zulauf, und Nike stößt im Zuge von Ermittlungen auf eine verstörende neue Form von Magie, die sich nach und nach in der ganzen Stadt auszubreiten scheint. Aber ihre Vorgesetzten bei der Polizei wollen bestimmten Spuren gar nicht nachgehen, und Nike muss immer stärker erkennen, dass ihre Unkonventionalität ihr Verachtung und Zurücksetzungen einträgt. Kann eine Ehe mit ihrer Geliebten Georgette, die zwar inzwischen offen als Frau lebt, auf dem Papier aber immer noch als Mann gilt, ihr endlich die gewünschte Akzeptanz verschaffen, um die Fehlentwicklungen bei der Polizei von innen heraus zu bekämpfen, oder sind Sandor und Jiří mit ihrem Plan, ein linkes Bündnis gegen die Nazis zu schmieden, eher auf dem richtigen Weg?
Anarchie Déco 1930 bietet temporeiche, mit viel Action und bisweilen etwas finsterem Humor gewürzte Fantasy, die ihren historischen Hintergrund voll ausnutzt und von der organisierten Kriminalität in Form der Ringvereine über hungernde Arbeitslose und heillos zerstrittene linke Gruppierungen bis hin zu haarsträubend germanentümelnden Nazis, deren Vorstellung von ihren Objekten der Verehrung eher dem Personal von Wagneropern als irgendeiner vergangenen Wirklichkeit gleicht, trotz aller fiktiven Elemente ein pralles Panorama der Epoche entfaltet. Immer wieder haben auch reale Persönlichkeiten der Weimarer Republik kurze Auftritte oder werden zumindest erwähnt, ob nun die Malerin Lotte Laserstein, der Physiker Albert Einstein, der Kommunist Ernst Thälmann oder der Verhaltensforscher Konrad Lorenz, der hier – basierend auf seiner historisch verbürgten Unterstützung für die Nazis und ihr Gedankengut – eine unrühmliche, allerdings um eine magische Komponente erweiterte Rolle spielt.
Denn dass die erst kürzlich entdeckte Magie von Kriminellen zur Schutzgelderpressung oder von Leichtsinnigen zu illegalen Séancen eingesetzt wird, ist noch das geringste Problem: Die psychologischen Mechanismen, die historisch hinter der Begeisterung viel zu vieler Menschen für den Nationalsozialismus standen, erscheinen im Roman als magisch verstärkt. Dass selbst eigentlich auf den ersten Blick sympathische Figuren nicht davor gefeit sind, solchen Einflüssen zu erliegen, weil auch sie ihre unbewussten Vorurteile und charakterlichen Untiefen haben, macht die Gefahren vergleichbarer, wenn auch ohne übernatürliche Hilfsmittel auskommender Manipulationen in der Realität eindringlich deutlich.
Wohl nicht nur deshalb wirkt Anarchie Déco 1930 in Tonfall und Ausgang ein gutes Stück resignierter und bitterer als der Vorgängerroman Anarchie Déco. Seit Judith und Christian Vogt den ersten Band ihres Zweiteilers um Magie, Selbstfindung und politischen Aktivismus veröffentlicht haben, ist die Welt nicht nur im Buch, sondern auch in der Realität eine andere geworden, und das schwingt zwischen den Zeilen immer wieder mit. Gewiss, auch in Anarchie Déco gibt es schon reichlich Sozialkritik und die sich herausbildende Gefahr des Nationalsozialismus, aber eben auch die hoffnungsvoll anmutenden progressiven Seiten der Wilden Zwanziger wie Neuerungen im Geschlechterrollenverständnis oder die Etablierung, modern gesprochen, queerer Subkulturen.
In Anarchie Déco 1930 dagegen überwiegt Ernüchterung: Selbst in linken Kreisen nützt die vermeintlich so segensreiche Lockerung der Sexualmoral doch vor allem denjenigen etwas, die nicht schwanger werden können, der wirtschaftliche Abstieg breiter Schichten offenbart Gräben zwischen den ins Elend abrutschenden politisch Aktiven aus einfachen Verhältnissen und denen bürgerlicher Herkunft, die zwar die gleichen Ideale verfechten mögen, aber ganz andere Optionen haben, und Nike, die sich weder als Frau noch als Mann fühlt und in diesem Buch in manchen Passagen auch als Nik auftritt, der sich seinem inneren Auge anders präsentiert, kommt niedergeschlagen zu dem Schluss, dass manche Forschrittshoffnungen wohl zu optimistisch waren, so dass eine äußerliche Unterwerfung unter die gesellschaftlichen Spielregeln Vorteile haben könnte.
Wer das Œuvre von Judith und Christian Vogt kennt, ahnt natürlich schon, dass nicht ernsthaft einer (Schein-)Integration in ein von patriarchalen und rassistischen Vorurteilen durchzogenes Gesellschaftsmodell das Wort geredet, sondern, ganz wie in Schildmaid oder Ich, Hannibal, letztendlich eine andere Lösung gewählt wird. Die Erkenntnis, dass manchmal bei allem Engagement nicht mehr gelingen kann, als ein rasch wieder vergessenes Zeichen zu setzen, das vielleicht Einzelne erreicht, aber beileibe keinen dauerhaften Umschwung bringt, bleibt Nike, Sandor und damit auch dem Lesepublikum dennoch nicht erspart. Trotz des obligatorischen magischen Kampfs kurz vor Schluss lassen sich eben die Nazis, die nur wenige Jahre später ganz Europa ins Unglück stürzen werden, nicht einfach wegzaubern, und auch wenn die Notwendigkeit, für seine moralische Überzeugung einzutreten, betont wird, schwingt immer das Wissen mit, dass es keine Erfolgsgarantie gibt.
So ist Anarchie Déco 1930 trotz aller gekonnt zum Einsatz gebrachten Unterhaltungs- und Spannungselemente keine rein vergnügliche Lektüre, sondern ein Roman, der einem durchaus an die Nieren gehen kann und einen nachdenklich zurücklässt.
Judith und Christian Vogt: Anarchie Déco 1930. Ahrensburg, tredition, 2025, 400 Seiten.
ISBN: 978-3-3844-4273-3