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Die 13 Gezeichneten

Die Stadt Sygna hat schon bessere Zeiten erlebt. Lange Jahre haben hier traditionsbewusste Handwerkerzünfte geherrscht, deren Mitglieder ihre Kenntnisse magischer Zeichen eifersüchtig hüten, doch seit die Aquintianer als Besatzungsmacht das Ruder übernommen haben, weht ein anderer Wind. Wie viele andere ist der professionelle Gerichtskämpfer Dawyd damit unzufrieden, findet aber noch mit Müh und Not sein Auskommen, bis er sich durch seine eigene Impulsivität in eine Situation bringt, in der ihm keine andere Wahl mehr bleibt, als sich einer kleinen Rebellentruppe anzuschließen. So ist er nicht ganz freiwillig mit dabei, als seine neuen Bekannten den Versuch unternehmen, einen Dichter aus den Fängen der aquintianischen Geheimpolizei zu retten. Doch deren Leiter, der berüchtigte Lysandre Rufin, ist verdächtig gut über die Rebellen informiert, und so verläuft bald nicht mehr alles nach Plan, ganz zu schweigen davon, dass beide Konfliktparteien in den Kavernen unter der Stadt eine Entdeckung machen, die ungeahnte Konsequenzen haben könnte …

Judith und Christian Vogt haben schon zahlreiche Werke gemeinsam verfasst, aber der Roman Die 13 Gezeichneten ist mit Sicherheit eines ihrer besten. Das liegt nicht allein an der Handlung mit Pageturnerqualitäten, die neben packenden und gelegentlich recht blutigen Actionszenen auch immer wieder neue Wendungen und Überraschungen zu bieten hat (bis hin zum vermeintlichen Finale, das sich trotz aller atemlosen Spannung nur als Vorlauf zum eigentlichen und noch einmal abenteuerlicheren Schluss entpuppt).Vielmehr greifen die „Vögte“ auch auf ungewöhnliche, aber äußerst effektive Erzähltechniken zurück, wie etwa, wenn die Rebellen in ein Theater, das ein Geheimnis birgt, eindringen wollen und die Planung der Aktion geschickt verschränkt mit der Ausführung geschildert wird.

Eine weitere große Stärke des Buchs sind die detailreich ausgearbeiteten Charaktere, die alle ihre Geheimnisse voreinander und vor dem Lesepublikum haben, ob nun der bei Folterungen verstümmelte ehemalige Tischler Ignaz, der den kleinen Rebellentrupp anführt, seine rechte Hand, die taktisch brillante, aber von einem harten Frauenleben geprägte Schmiedin Elisabeda, das nach außen hin freche und gerissene, aber heimlich nach einer Wahlfamilie suchende Straßenmädchen Jendra, der trotz einer Spitzelvergangenheit etwas naive Müllerbursche Neigel oder immer wieder auch der schurkische Rufin, der sich sehr gut bewusst ist, dass er moralisch Verwerfliches tut, sich aber unverdrossen weiter an seiner eigenen Schläue und seinen immer dreisteren Manipulationen ergötzt.

Besonders viel Spaß macht es, wie bei einigen Figuren Klischees anzitiert und dann genüsslich auf den Kopf gestellt werden, sei es nun bei dem jungen Dichter Ismayl, dessen unglückliche Liebe zu der diskret mit dem Widerstand kooperierenden höheren Tochter Kilianna, die sich weder von schönen Worten noch von schönen Augen übermäßig beeindrucken lässt, wohl fast schon als Berufsrisiko zählen muss, oder noch stärker im Fall von Dawyd, der eine sehr amüsante Dekonstruktion des klassischen kämpferischen Auserwählten auf Weltrettungsmission ist. Stilecht kommt er im Laufe des Romans zu besonderen magischen Fähigkeiten und einem ganz speziellen Schwert, aber das ändert wenig an seinem Leichtsinn und seiner phänomenalen Eitelkeit, die ihn im Gegenzug für seinen Einsatz für die Stadt in aller Bescheidenheit mindestens einen Orden erwarten lässt.

Ohnehin wird auch sehr hübsch mit den typischen Handlungsmustern eines epischen Fantasyromans gespielt. Natürlich gilt es für die zusammengewürfelte kleine Truppe, eine  zwischenzeitlich aus der Welt verschwundene Magie wiederzugewinnen, aber ein Allheilmittel ist diese nicht (im Gegenteil), und wenn es wirklich um eine Rückkehr in eine gute alte Zeit ginge, wäre das hier kein Buch von Judith und Christian Vogt. Die einstige Zunftherrschaft wird nicht glorifiziert, sondern mit all ihren Restriktionen und Schattenseiten (wie etwa dem überwiegenden Ausschluss von Frauen oder der Gefahr, zu geizig geteiltes Wissen ganz zu verlieren), gegen die sich schon vor dem Erscheinen der Aquintianer Widerstand formierte, gezeigt, und ein Grundthema des Romans ist die Notwendigkeit der Erneuerung und des Blicks nach vorn.

Dazu passt sehr gut, dass die Geschichte nicht in einem typischen Fantasymittelalter spielt, sondern in einer frühneuzeitlich anmutenden Epoche, die bereits aufklärerische Ideale kennt und sich in einer frühen Phase der Industrialisierung befindet, hier in der Form, das mit fragwürdigen Mitteln versucht wird, die Zeichenmagie in Manufakturen nutzbar zu machen. Ereignishistorisch spielt sich gerade ein Äquivalent zu den napoleonischen Kriegen ab (so ist auch der aquintianische Kaiser Yulian einst mit revolutionären Plänen angetreten, bevor er sich aufs Erobern verlegt hat und sich nun einer gegnerischen Allianz gegenübersieht). In den Grundzügen ist die Situation in Sygna also vielleicht in etwa mit der in einer Freien Reichsstadt unter französischer Besetzung vergleichbar, und auch aus anderen Details sprechen historische Kenntnisse und gründliche Recherche, zum Beispiel aus den wiederholten Anspielungen auf spätmittelalterliche Fechtbücher und (wie auch schon in Im Schatten der Esse) aus dem liebevoll eingeflochtenen Detailwissen zum Schmiedehandwerk. Ein gewisser Realismus zeigt sich aber auch in anderen Einzelheiten: Sämtliche Rebellen haben neben ihrem Bemühen um die Sache auch noch private Interessen, durch die sie angreifbar werden, und ein Aufstand ist hier nicht so leicht durchzuführen und zu lenken wie in manch anderem Buch; ein wütender Mob hat eben manchmal andere Prioritäten als die Leute, die ihn losgelassen haben.

Gerade in Bezug auf diese differenzierte Sicht tut es der Geschichte gut, dass es sich nicht um einen Einzelroman, sondern um den Auftaktband einer Trilogie handelt. So bleibt viel Platz, unterschiedliche Aspekte ausführlich auszuloten, ohne dass jedoch jemals Gemächlichkeit oder gar Langeweile aufkommen würde. Mitreißend bis zum Schluss machen Die 13 Gezeichneten viel Lust auf die Folgebände.

Judith und Christan Vogt: Die 13 Gezeichneten. Köln, Bastei Lübbe, 2018, 592 Seiten.
ISBN: 978-3-404-20892-0


Genre: Roman

Schildmaid

Im wikingerzeitlichen Norwegen erhält die unauffällige Weberin Eyvor unversehens von der Meeresgöttin Rán den Auftrag, ein Drachenschiff zu bauen. Die Aufgabe würde ihre Kräfte wohl übersteigen, wenn sich ihr nicht nach und nach andere Frauen anschließen würden, die auf ihre Art allesamt Außenseiterinnen sind oder sich aus einer bedrohlichen häuslichen Situation befreien müssen, darunter die Skaldin Tinna, die auf Runenmagie zurückgreifen muss, um anderen überhaupt als Frau zu erscheinen, die hitzköpfige Skade, die aus ihrer Ehe mit dem abscheulichen Berserker Ivar flüchtet, und die jugendliche Seherin Herdis, die sich selbst ein düsteres Ende im Kampf gegen ihren Zwillingsbruder vorhersagt.

Da Herdis gefährliche Verfolger dicht auf den Fersen sind, beginnt für alle nolens volens auf dem Schildmaid genannten Schiff eine Fahrt ins Unbekannte, doch um sich aus der Nähe der Küste fort aufs offene Meer hinauswagen zu können, fehlt dem Frauentrupp jemand, der sich mit Navigation auskennt. Im dänischen Ribe finden sie unter dramatischen Umständen mit der friesischen Sklavin Dineke, was sie brauchen, und damit geht es mitten hinein ins Abenteuer, das nicht nur in ein atlantishaft in der Nordsee versunkenes bronzezeitliches Reich, zu Seeungeheuern und stilecht auf Plünderungsfahrt nach England führt, sondern sich bald auch zur Weltrettung auswächst, scheint es der Besatzung der Schildmaid doch bestimmt zu sein, einen Riesen zu erschlagen und damit Ragnarök aufzuschieben. Aber kann das gelingen, wenn einem ein Gegner wie Ivar im Nacken sitzt – und sollte man den göttlichen Auftraggebern überhaupt vertrauen?

Gleich eingangs nennt die Erzählinstanz Schildmaid eine Saga, und in der Tat hat das Buch mit dieser literarischen Gattung des Mittelalters nicht nur den stellenweise gekonnt imitierten Erzähltonfall, die Neigung zu Brutalität und den gelegentlich aufblitzenden trockenen Humor gemein, sondern auch die Tatsache, dass es sich um eine mit phantastischen Zügen angereicherte Aufbereitung der Wikingerzeit handelt. Über diese hat das Autorenduo offensichtlich genau recherchiert und wartet nicht nur mit umfangreichen Mythologiekenntnissen, sondern auch mit einer Fülle manchmal nur im Nebensatz erwähnter kulturhistorischer Details auf, von dekorativen Guldgubbar bis hin zu in die Schneidezähne geritzten Rillen bei einer Kriegergruppe. Wann genau das Geschehen sich abspielt, bleibt gleichwohl offen, auch wenn man aus dem parallelen Auftreten der Königsnamen Harald und Horik und einer sehr eigenen Interpretation der Besiedlung Islands (immerhin: Eine Unn ist mit an Bord) auf das späte 9. Jahrhundert als wahrscheinliche Handlungszeit schließen kann.

Wer nun allerdings glaubt, ein klassisches Wikingerabenteuer, nur eben in weiblicher Besetzung, vor sich zu haben, dürfte sich wundern, denn Schildmaid wäre wohl kein Buch von Judith und Christian Vogt, wenn es nicht zugleich eine dezidierte Patriarchatskritik wäre. Wie wichtig dieser Aspekt den beiden ist, spricht auch aus dem Nachwort, das nicht nur ihre historischen Recherchen und ihre Sicht auf die Wikingerzeit erläutert, sondern auch auf heute immer noch bestehende Ungleichbehandlungen und Ungerechtigkeiten verweist und davor warnt, sich vergangenen Zeiten in dieser Hinsicht allzu überlegen zu fühlen.

Bei allem Spaß, mit dem Runenmagie, prachtvolle Knotenmusterornamente, ausgefeilte Dichtkunst und wilde Kämpfe heraufbeschworen werden, schwingt deshalb immer auch ein sehr ernster Unterton mit, und die unangenehmen Seiten der altnordischen Gesellschaft nehmen breiten Raum ein, von der Sklaverei über Menschenopfer im Zuge von Totenfolgebräuchen bis hin zu alltäglicher Gewalt, unter der vor allem die Frauen und Kinder leiden, aus der es aber auch für Männer, die gern ein anderes Leben führen würden, keinen einfachen Ausweg gibt.

In einem Fall sieht es in der Romanwelt diesbezüglich düsterer aus als in der Realität: Die Aussage, es gäbe keine Skaldinnen, sondern nur männliche Skalden, trifft historisch so pauschal nicht zu. Im Nachwort wird das glücklicherweise auch erwähnt (und die Situation im Buch damit erklärt, dass Tinna dann eben die erste Skaldin von allen gewesen sei), aber ein wenig hat man doch den Eindruck, dass hier kein Hoffnungsschimmer innerhalb der bestehenden sozialen Verhältnisse aufkommen soll und die Möglichkeit deshalb von vornherein ausgeschlossen wird. Folgerichtig endet die Reise der Schidmaid auch anders als die der meisten in historischen Sagas auftretenden Kämpferinnen: Während diese sich, sofern sie ihre Abenteuer überleben, in aller Regel in die Mehrheitsgesellschaft integrieren, ist der sperrigen Besatzung von Eyvors Schiff ein ganz anderes Schicksal bestimmt.

Der Weg zu diesem Ende verläuft spannend und gelegentlich auch ziemlich witzig (Fans altnordischer Mythologie dürften sich z. B. amüsieren, welche Rolle hier der aus dem Weltschöpfungsmythos bekannten Kuh Audhumbla zugedacht ist, die natürlich nicht fehlen darf, als es irgendwann gewissermaßen um die Erschaffung einer neuen Welt geht). Vor allem aber ist Schildmaid ein Buch, dem man anmerkt, dass es mit der (Berserker-)Wut im Bauch geschrieben wurde, die auch manche Charaktere verspüren. In seinem Plädoyer dafür, eigene Gemeinschaften zu schaffen und sich gegenseitig zu unterstützen, wenn einem die Gesellschaft die nötigen Freiräume versagt, folgt es aktuellen Trends der progressiven Phantastik und zeigt mit der Ansiedlung in der Wikingerzeit, die sonst eher die Domäne traditioneller Abenteuerezählungen ist, dass sich auch ein überkommenes Setting durchaus im Sinne der neuen Richtung im Genre nutzen lässt.

Judith und Christian Vogt: Schildmaid. Das Lied der Skaldin. München, Piper, 2022, 448 Seiten.
ISBN: 978-3-492-70598-1


Genre: Roman

Im Schatten der Esse

In ihrer Kindheit und Jugend hat die Schmiedegesellin Zita viel Unschönes erlebt, und auch als sie in der von Kriegsverwüstungen tief gezeichneten Wildermark auf die Walz geht, hat sie es nicht unbedingt leicht. Auf der Flucht vor einem Räuber verirrt sie sich im Wald. Der undurchsichtige Halbork Alrik, auf den sie dort trifft, nimmt sie mit in das Dorf, in dem er nur widerwillig als Hilfsarbeiter geduldet wird. Zwar findet Zita hier über den Winter ihr Auskommen, doch es mehren sich die Anzeichen, dass etwas Bedrohliches im Gange ist: Orks treiben ebenso ihr Unwesen wie allerlei kriegerische Menschen, die das Machtvakuum in der Gegend ausnutzen, um die Herrschaft über einzelne Orte an sich zu reißen, und geheimnisvolles Sternenmetall weckt Begehrlichkeiten. Als die Gesellin schon ans Weiterziehen denkt, überschlagen sich auf einmal die Ereignisse, und sie begegnet unter dramatischen Umständen dem Junker Ulfberth, an dessen Seite ihr Abenteuer noch ganz andere Formen annimmt …

Im Schatten der Esse, das Romandebüt von Judith C. Vogt, ist mittlerweile über zehn Jahre alt, braucht sich aber vor ihren neueren Werken nicht zu verstecken. In der Welt des Rollenspiels Das Schwarze Auge angesiedelt (über das man allerdings dank eines Glossars nichts im Voraus wissen muss, um das Buch zu verstehen), ist es von der Kulisse her ein eher traditioneller Fantasyroman mit ebenso bösartigen wie hässlichen Orks als Schurken und Gestalten wie einem trinkfreudigen Zwergenschmied, der immer wieder einmal für humoristische Einlagen in der ansonsten ernsten und bisweilen auch blutigen Geschichte sorgen darf. Einige Passagen sind recht verstörend (seien es nun Zitas schmerzliche Erinnerungen oder eine happige Folterszene, in der nicht die Antagonisten die Ausführenden sind). Unter dieser Oberfläche verbirgt sich aber mehr, als man vielleicht auf den ersten Blick erwarten würde.

Gerade im Vergleich zu jüngeren Texten wie etwa Anarchie Déco ist es interessant, zu sehen, wie viel Typisches hier bereits zu erkennen ist. Denn auch wenn Judith C. Vogts progressive Ideale in ihrem aktuellen Schaffen vordergründiger ausgearbeitet sein mögen, ist das Bewusstsein für Ungerechtigkeiten und die Sorgen und Nöte von Personen, die von der Gesellschaft an den Rand gedrängt werden, offensichtlich viel älter. Nicht anders ist es mit dem Gespür dafür, was Traumata und die Befürchtung, nicht ernstgenommen zu werden, wenn man für sich selbst eintritt, in einem anrichten können, insbesondere auch in einem Umfeld, in dem die latente Bedrohung durch physische und sexuelle Gewalt erschreckend alltäglich ist.

Bei der Ich-Erzählerin Zita, die sich oft lieber als Schmied denn als Schmiedin bezeichnet und einen klassisch femininen Habitus für sich ablehnt, kann man sich sogar fragen, ob in ihr nicht schon manche Züge angelegt sind, die später in einer Figur wie Nike in Anarchie Déco, die sich einer Einordnung als Frau oder Mann entzieht, eindeutiger zum Tragen kommen. Nach strahlenden Auserwählten sucht man auch in diesem Buch schon vergebens; die rettende Tat im wilden Showdown müssen vom Leben Gebeutelte vollbringen, die durchaus auch das Potenzial haben, viel Unheil anzurichten, und selbst schon schuldig geworden sind. Umso erfreulicher ist es, dass die Lösung eines zentralen Problems nicht in Kampfkraft allein liegt, sondern im geschickten Einsatz ganz anderer Fähigkeiten und in der Zusammenarbeit miteinander.

Abgesehen von diesen nachdenklichen Elementen bietet Im Schatten der Esse aber nach einem ruhigen Anfang auch flotte Dialoge, actionreiche Kämpfe, ein spannend aufgebautes Questenabenteuer und daneben Schilderungen, die viel Begeisterung für das Schmiedehandwerk verraten, die sich sogar in der Namensgebung niederschlägt (so ist es sicher kein Zufall, dass Ulfberth zwar selbst kein Schwert herstellt, aber doch eines geschenkt bekommt). Für alle, die Spaß an klassischen Fantasysettings haben und sich von einem eher düsteren Grundton nicht abschrecken lassen, lohnt sich also der Ausflug in die Wildermark.

Judith C. Vogt: Im Schatten der Esse. Erkrath, FanPro, 2011, 400 Seiten.
ISBN: 978-3-89064-125-6


Genre: Roman

Die Katzenäugige 2: Kinder des Krieges

Das hier besprochene Buch ist Band 2 einer Reihe. Die Rezension von Band 1 ist hier zu finden.

Seit Monaten ist die Katzenäugige in der Menschenstadt gefangen. Der Priester Yanta, der sie mit einer Mischung aus Verachtung und Begehren behandelt, hat sich immer schlechter in der Gewalt, und nicht nur das sorgt dafür, dass sie endlich die Kraft findet, sich aufzulehnen. Die Herrscherin Paqari dagegen bekommt es mit dem fremden Besucher Cahal zu tun, der Menschen geschickt zu manipulieren weiß und dessen Anwesenheit stärker denn je deutlich werden lässt, dass die vordergründige Harmonie in der Stadt nur eine schöne Fassade ist. Als die Katzenäugige einen Fluchtversuch unternimmt und Paqari eingreift, führt das zu einer entscheidenden Änderung im Verhältnis der beiden jungen Frauen zueinander …

Der zweite Band von Judith C. Vogts Fantasyreihe um Die Katzenäugige schließt nahtlos an den ersten an und ist nicht als unabhängige Erzählung zu lesen. Die Kinder des Krieges sind aber eine würdige Fortsetzung des Waldes der Welt, in der sich die Geschichte ebenso spannend wie düster, oft genug auch ziemlich gewalttätig, weiter entfaltet. Immer deutlicher treten die Parallelen zwischen der Katzenäugigen und Paqari hervor, die sich trotz ihrer auf den ersten Blick so unterschiedlichen Stellung – hier die entrechtete Gefangene, dort die erhabene Herrscherin – letzten Endes in einer ähnlich hilflosen Situation befinden.

Während die Katzenäugige dem immer verstörenderen Verhalten Yantas ausgeliefert ist, wird Paqaris Autorität heimlich von mehr als nur einer Person untergraben, ganz zu schweigen davon, dass ein Mensch in der Stadt auch um ein Geheimnis weiß, das sie leicht ganz die Macht kosten könnte. Kein Wunder also, dass beide Frauen im Laufe der Handlung auf jeweils eigene Art einen Ausbruch wagen – und im Zuge dessen an (vermeintliche) Helfer geraten, die Hintergedanken haben und nicht halb so vertrauenerweckend sind, wie sie gern wirken wollen. Insbesondere der auch als Erzählerfigur in einer Rahmenhandlung fungierende und nicht notwendigerweise zur Bescheidenheit neigende Cahal spielt hier eine wichtige Rolle. Fast noch bedrohlicher ist aber insbesondere für die Katzenäugige die Erkenntnis, dass leidvolle Erfahrungen und Erlebnisse einen nicht unverändert lassen. Die Frau, die hier den Aufstand probt, ist nicht mehr dieselbe, die aus dem Wald in die Menschenwelt verschleppt worden ist, und ihr Ringen mit diesem ungewollten Wandel ist glaubhaft geschildert. Das könnte deprimierend sein, aber glücklicherweise lockert hier und da ein Anflug von trockenem Humor die Erzählung auf.

Die vom Kontrast zwischen Stadt und Wald geprägte Welt bildet weiterhin eine lebendige und eindrucksvolle Kulisse, die man nicht immer nur durch die Augen der Hauptfiguren betrachten darf. Hier sieht man sie z.B. auch aus der Perspektive der harpyienhaften Vogelkinder, von denen eines auch das Cover ziert. Apropos Cover: Diesbezüglich ist es besonders schade, dass es keine gedruckte Fassung der Katzenäugigen gibt, denn dass das zweite Cover quasi das erste fortsetzt und beide zusammen den Beginn eines Bildteppichs ergeben, wie er in der Geschichte eine wichtige Rolle spielt, würde sicher noch besser zur Geltung kommen, wenn man die Titelbilder physisch aneinanderlegen könnte. Aber so oder so ist diese Gestaltung eine nette Idee, die der Katzenäugigen einen hübschen äußeren Rahmen verleiht. Vor allem aber hat es natürlich der Text selbst in sich, und nicht nur eine finstere Vorausdeutung kurz vor dem Ende macht einen neugierig auf die folgenden Bände.

Judith C. Vogt. Die Katzenäugige 2: Kinder des Krieges, o. O. 2021. E-Book (über Amazon zu beziehen).
ASIN: B09H9885BZ


Genre: Roman

Anarchie Déco

Im Berlin der 1920er Jahre wird ein kommunistischer Politiker tot aufgefunden. Die Umstände seines Ablebens sind nur mit einem jüngst entdeckten Phänomen zu erklären: Magie, die noch kaum erforscht ist, aber offenbar auch schon abseits der Universitätslabore erfolgreich praktiziert wird. Die Polizei braucht Unterstützung, und so steckt die junge Physikerin Nike Wehner, die sich in ihrer Dissertation mit der Magie befasst und von ihrem Doktorvater in die Rolle der Hilfskraft für den alternden Kommissar Seidel gedrängt wird, bald tief in den Ermittlungen. Mit dem zweiten Magieexperten, der Seidel zugeordnet wird, dem heimlichen Anarchisten und nicht ganz so heimlichen Teetrinker Sandor Černý, muss sie sich erst zusammenraufen. Als dann eine Vermisste versteinert aufgefunden wird und sich herausstellt, dass sich auch die aufstrebenden Nazis der Magie bedienen, droht die Situation Nike und Sandor vollends zu überfordern. Kann vielleicht die geheimnisvolle Georgette mehr ausrichten, die Sandor ihre Hilfe in Sachen Magie anträgt? Aber wem ist in einer Stadt, in der sich politische und persönliche Konflikte immer weiter zuspitzen, überhaupt noch zu trauen?

Was das Autorenduo Judith und Christian Vogt mit Anarchie Déco vorlegt, ist eine spannende und temporeiche Mischung aus Krimi und Urban-Fantasy-Abenteuer. Der Handlungsort – das Berlin der Weimarer Republik – ist dabei mehr als bloße Kulisse, auch wenn Nachtleben und großstädtischer Bauboom effektvoll geschildert werden. Vielmehr prägen politische Verwerfungen und soziale Ungleichheit die Schicksale der Figuren. Am differenziertesten ausgestaltet ist dies bei Nike, die als uneheliches Kind einer ägyptischen Mutter und eines deutschen Vaters in Armut aufgewachsen ist, aber dank ihrer Bildung – sie denkt sogar bisweilen in Physikvergleichen! – Zugang zu Akademikerkreisen hat, die ihr oft Steine in den Weg legen. Ernüchternd ist dabei die Erkenntnis, dass viele damalige Probleme wie Wohnungsnot, Bauspekulation, koloniale Raubkunst, Antisemitismus und die Diskriminierung von Frauen und Minderheiten auch hundert Jahre nach der Handlungszeit des Romans noch aktuell sind.

Ein wichtiges Thema ist in diesem Kontext das Ausloten der Geschlechtsidentität (ohne dass den Figuren dabei schon das differenzierte Vokabular der heutigen Gender Studies zur Verfügung stünde). Nike, die hinter ihrem betont unkonventionellen Auftreten einiges an Verletzlichkeit und Minderwertigkeitskomplexen versteckt, kämpft nicht nur gegen die einschränkende Frauenrolle an, sondern muss sich im Laufe des Romans auch damit auseinandersetzen, wie sie sich selbst im Spannungsfeld zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit verorten kann und möchte. Georgette, die sich im Beruf zwar als Mann präsentiert, ansonsten aber ihre weibliche Seite auslebt, ist nicht nur in Sachen Magie schon einen Schritt weiter. Obwohl der Roman also eine Lanze für Diversität und individuelle Lebensentwürfe bricht, werden nicht alle, die (noch) in Traditionen und altmodischen Überzeugungen feststecken, negativ gezeichnet: Am Beispiel von Seidel und Nikes Mutter Rabea Gamal wird deutlich, dass nicht jede Biographie die nötigen Freiräume lässt, um radikal aufzubegehren und sich frühzeitig auszuprobieren.

Vieles davon würde auch in einen reinen historischen Roman passen, zumal auch reale Personen wie Marie Curie, Lise Meitner, Albert Einstein und Albert Speer ihren Auftritt haben. Aber in das Panorama der Epoche bricht eben mit voller Wucht die Magie ein, die in Anarchie Déco nur im Zusammenwirken von Naturwissenschaft und Kunst entstehen kann und zudem jeweils männliche und weibliche Anteile erfordert. Leider ist allerdings weder in der Magie noch im Lektorat jemand aus der Romanistik mit von der Partie, sonst wäre vielleicht aufgefallen, dass die framboises im Namen eines für die Handlung wichtigen Lokals eher fraises sein sollten, um den „Erdbeeren“ der deutschen Übersetzung zu entsprechen (aber Himbeeren sind ja auch etwas Schönes). Dem Gesamteindruck tun solche Kleinigkeiten aber keinen Abbruch, zumal sie an vielen Stellen durch herrlich pointierte Formulierungen aufgewogen werden: Dass die Gegend, in der Nike lebt, „besonders exklusiv heruntergekommen“ (S. 130) ist, und die „Urangst vor Kernseife und Staubwedel“ (S. 270), die Rabea mit ihrem überkommenen Rollenverständnis Männern pauschal zuschreibt, prägen sich ein. Auf amüsanterer Ebene geht es einem auch mit den „pseudoägyptischen Kajalmassakern“ (S. 48) einer feiernden Menge so.

Das facettenreiche Buch, das so nahe an der historischen Wirklichkeit beginnt, ist am Ende nicht zuletzt aufgrund der prononcierten Fantasyelemente, die in einem bombastischen Finale kulminieren, auf einem ganz anderen Weg. Dementsprechend bieten sich zahlreiche Anknüpfungspunkte für eine mögliche Fortsetzung. Aber auch als Einzelroman liest sich die wilde Reise durch ein alternatives Berlin flott und packend weg und ist allein schon aufgrund des oft von bissigem Humor geprägten Erzählstils bemerkenswert.

Judith und Christian Vogt: Anarchie Déco. Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag, 2021, 480 Seiten.
ISBN: 978-3-596-00221-4


Genre: Roman

Die Katzenäugige 1: Der Wald der Welt

Von einem Luchsweibchen großgezogen, lebt ein Mädchen mit Katzenaugen in einem Wald, der eine isoliert gelegene Stadt umschließt. Als deren junge Herrscherin Paqari, um sich zu beweisen, auf die Jagd geht, kostet das die Luchstochter nicht nur ihre Mutter, sondern auch die Freiheit. Der Arzt und Priester Yanta nimmt sich ihrer nicht ganz uneigennützig an. Obwohl sie mit seiner Hilfe die Menschen zumindest sprachlich verstehen lernt, scheint ihre Lage erst einmal ausweglos. Doch so leicht gibt die Luchstochter nicht auf, und als sie auf einen Bildteppich stößt, der eine besondere Geschichte erzählt, eröffnet sich ihr eine neue Sicht auf die Dinge …

Die Katzenäugige 1: Der Wald der Welt von Judith C. Vogt ist der Auftakt einer neuen Fantasyreihe. Trotz seiner Kürze hat das düstere, atmosphärische Buch viel Inhalt zu bieten und besticht vor allen Dingen durch seinen originellen Weltenbau, der mittel- und südamerikanische Inspirationen nicht verleugnen kann (so gibt es etwa einen Jaguar, eine Knotenschrift und einen lichtzentrierten Opferkult). Dieser nuanciert ausgemalten Zivilisation steht der magisch aufgeladene Wald gegenüber, der neben einer ganz eigenen Kultur seiner Wesen auch einen Schmetterling, der es in sich hat, und manch weitere Rätsel zu bieten hat. Der Konflikt zwischen Stadt und Wald ist dabei mit interessanten Zwischentönen geschildert, denn es erweist sich, dass auch Menschen, die selbst schon mit Völkermord und – so kann man vermuten – Eroberung konfrontiert waren, daraus nicht unbedingt lernen, ihren Umgang mit der Natur nicht als gnadenlose Kolonisierung zu gestalten.

Ungeachtet dieses beständig mitschwingenden Hintergrundthemas erscheint der Roman zunächst primär wie eine mit Kontrasten und Parallelen arbeitende Erzählung um zwei junge Frauen, die sich bei aller Verschiedenheit in einer ähnlichen Situation befinden: Beide müssen mit dem plötzlichen Tod ihrer jeweiligen Mutter und weiteren Verlusten zurechtkommen und sind gezwungen, sich in einem Spannungsfeld aus Macht und Hilflosigkeit zu behaupten, das ihre Handlungsmöglichkeiten beschränkt. Zudem zwingt ihre Andersartigkeit – im einen Fall der Herkunft aus dem Wald, im anderen der übermenschlich aufgeladenen Herrscherrolle geschuldet – die Luchstochter wie Paqari, mit Furcht und Zurückscheuen ihrer Umgebung zurechtzukommen. Für die Folgebände deuten sich allerdings epischere Entwicklungen an, bei denen auch noch ein geheimnisvoller Reisender eine Rolle spielt, der die Isolation der Stadt durchbricht und das begrenzte Figurenensemble erweitert.

Das alles ist oft blutig und brutal, manchmal aber auch ungeahnt humorvoll erzählt, immer aber intensiv, wozu auch die ungewohnten Schilderungen aus der Perspektive der Luchstochter beitragen, für die z.B. der Geruchssinn eine weit größere Rolle spielt als für den Durchschnittsmenschen.

Die durchdachte Sprache des Romans verrät viel Spaß an poetischen Wendungen und vor allem auch an bedeutsamen Antonomasien. Zudem gibt es eine Besonderheit: Die Katzenäugige wird explizit damit beworben, in geschlechtergerechter Sprache verfasst zu sein. Das wird all diejenigen freuen, die sich in diesem Bereich Veränderungen wünschen. Aber auch wer (wie die Rezensentin) mit dem generischen Maskulinum gut leben kann, wird hier nicht über sperrige Konstruktionen stolpern. Judith C. Vogt macht vor, wie ein geschicktes, einem literarischen Werk angemessenes Gendern, das den Lesefluss nicht hemmt, aussehen kann.

Bedauerlich ist nur, dass dieser erste Teil schon endet, kaum dass die Figuren einem vertraut geworden sind. Die spannenden Wendungen kurz vor Schluss lassen einen wünschen, gleich weiterlesen zu können, statt schon am Ende des Buchs angelangt zu sein. Aber vielleicht erscheint ja in nicht allzu ferner Zukunft der nächste Band und lässt einen wieder in abenteuerliche Geschehnisse in Stadt und Wald eintauchen …

Vogt, Judith C.. Die Katzenäugige 1: Der Wald der Welt, o. O. 2021. E-Book (über Amazon und Judith C. Vogts Website zu beziehen).
ASIN: B096SLXM5H


Genre: Roman