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Tod im Mariendom

Hamburg 1787. Der junge Christian Holenius glaubt, als Assistent des Domherrn Friedrich August von Welmhoff, der für das Bauwesen des Domstifts zuständig ist, und Lateinlehrer von dessen Tochter eine ruhige Stelle zu haben: Das Domkapitel, schon seit dem Mittelalter immer ein Fremdkörper in der Kaufmannsstadt, bildet eine wie aus der Zeit gefallen wirkende kleine Gemeinschaft, deren Gebäudebestand zu betreuen keine allzu risikoreiche Aufgabe ist. Doch als in Welmhoffs Haus eines Tages ein Buch mit alten Gerichtsakten ohne menschliches Zutun aus dem Regal fällt, ist das der Auftakt zu einer Reihe immer schaurigerer Ereignisse, die mehr als einen Todesfall verursachen und Holenius bald erkennen lassen, dass er es mit einem Spuk zu tun hat und es womöglich eine Verbindung zum grauenvollen Ende eines früheren Domherrn gibt. Aber wie soll er etwas unternehmen, solange sein der Aufklärung zugeneigter Vorgesetzter sich weigert, an eine übernatürliche Ursache des Geschehens zu glauben, und gegen alle Indizien auf eine rationale Erklärung für jeden noch so seltsamen Zwischenfall pocht?

Der im 19. Jahrhundert abgerissene Mariendom unweit der heute noch bestehenden Petrikirche ist eigentlich das oft angeführte Paradebeispiel für die bedauerliche Tendenz der – so ein Alfred Lichtwark zugeschriebenes Zitat – „freien und Abrissstadt Hamburg“, historische Bauwerke, die ohnehin nicht mehr allzu zahlreich vorhanden sind, aus wirtschaftlichen Erwägungen abzureißen. In Martin Schemms Tod im Mariendom jedoch nimmt der Ich-Erzähler, der nach dem Abbruch des Doms von seinen Jahrzehnte zurückliegenden Erlebnissen in dessen Umfeld berichtet, die Zerstörung mit Erleichterung zur Kenntnis, denn das dort Vorgefallene ist zu entsetzlich, als dass er mit dem Ort noch seinen Frieden schließen könnte.

In der Tat gelingt es Martin Schemm, in allmählicher Steigerung eine Atmosphäre der Unheimlichkeit und des Bedrohlichen um die intensiv heraufbeschworene alte Kirche zu entwickeln. Dennoch führt der Titel etwas in die Irre, denn im Mariendom (bzw. dessen Turm) selbst nimmt nur einer der handlungsrelevanten Todesfälle seinen Ausgang, während ansonsten eher in der Umgebung des Doms das Verderben lauert, das seinen Ursprung, der in seinen Einzelheiten geschickt nur Stück für Stück enthüllt wird, hundert Jahre zuvor hat. Das liest sich packend, ist aber nicht an allen Stellen etwas für schwache Nerven (so kommt eine recht drastische Beschreibung eines erhängt aufgefundenen Selbstmörders vor).

Doch Spannung und Schaudern sind nicht alles, was das Buch zu bieten hat, denn ungeachtet aller Horror- und Fantasyelemente ist Tod im Mariendom zugleich auch ein historischer Roman, der mit dem längst protestantisch gewordenen Domkapitel eine Hamburger Besonderheit der Frühen Neuzeit in den Mittelpunkt stellt und über das lokalgeschichtliche Thema hinaus sehr gut vorstellbar macht, wie die streng hierarchische Gesellschafts- und auch Haushaltsordnung am Vorabend der Französischen Revolution das Leben prägte, dabei aber auch, insbesondere in einer Krise, jämmerlich versagen konnte. Dienerschaft, akademisch gebildeter Mitarbeiter und weibliche Familienmitglieder können hier noch so viele zutreffende Beobachtungen machen, wenn der Haushaltsvorstand einfach nicht zu überzeugen ist, dass es spukt, sondern allenfalls eine höchst irdische Intrige eines Rivalen wittert, geht es mit Nachforschungen und Gegenmaßnahmen nur schleppend voran – und das, bis es auf sehr tragische Art zu spät ist.

Die geschilderte Situation bildet dabei ein reizvolles Gegenbild zu dem vom selben Autor verfassten, einige Jahre jüngeren Roman Die Feuertore: In beiden Büchern tritt ein Absolvent seine erste Stelle an und sieht sich mit Übernatürlichem konfrontiert, aber während Holenius in Tod im Mariendom schnell begreift, womit er es zu tun hat, und an der stur rationalen Sicht des Hausherrn zu verzweifeln droht, ist in den Feuertoren der Ich-Erzähler selbst der Vertreter der Aufklärung, der an die phantastisch anmutenden Theorien seines Vorgesetzten nicht recht glauben mag und nach einem vernunftgemäßen Zugang zu allem sucht.

Aber nicht nur in der präzisen Schilderung von Lebensumständen und Mentalitäten vergangener Zeiten kommt bei Martin Schemm der Historiker durch: Sympathisch ist, dass auch hier wieder der Schlüssel zur Lösung des Rätsels in genauer Literatur- und Archivrecherche liegt. Zu lesen, wie statt der sonst oft genutzten Action geisteswissenschaftliches Arbeiten zum Erfolg führt, macht einfach Spaß und gibt dem Roman auch abseits der originellen Mischung aus Gespenstergeschichte und historischem Kammerspiel ein ganz eigenes Gepräge.

Martin Schemm: Tod im Mariendom. Feldafing, hansanord Verlag, 2019, 320 Seiten.
ISBN: 978-3-947145-08-9


Genre: Roman

Das Heidenloch

Auf dem Heiligenberg in Heidelberg häufen sich im Sommer 1907 entsetzliche Funde: Immer wieder werden brutal getötete Wildtiere ohne Kopf entdeckt, und es kommt zu Verwüstungen im Wald. Was zunächst wie ein erschreckender, aber irgendwie noch natürlich zu erklärender Fall von Tierquälerei und Vandalismus anmutet, gewinnt eine andere Dimension, als ein Junge aus einer zeltenden Wandervogelgruppe auf die gleiche Weise ermordet wird und immer mehr Zeugen von schattenhaften Riesengestalten berichten, die allnächtlich ihr Unwesen treiben und in irgendeiner Beziehung zum Heidenloch, einer prähistorischen Zisterne, zu stehen scheinen. Eine eilends eingerichtete Untersuchungskommission muss nicht nur den Schutz der Bevölkerung in die Wege leiten, sondern auch eine Erklärung für die Bedrohung finden. Doch die Hintergründe, die sich nach und nach abzeichnen, während es weitere Todesopfer gibt, liegen ein gutes Stück jenseits alles bisher Vorstellbaren.

Martin Schemms Roman Das Heidenloch ist ein origineller Vertreter seiner Gattung: Statt die Geschichte wie in vergleichbaren Büchern gewohnt um eine oder mehrere Hauptfiguren herum zu entwickeln, wird sie in Form einer fiktiven Akte aus so heterogenen Texten wie Sitzungsprotokollen, Zeugenaussagen und Polizeiberichten präsentiert. Eingebettet in die Quellenfiktion, dass hier ein Karlsruher Archivar nur herausgibt, worauf er zufällig im Zuge ganz anderer Arbeiten gestoßen ist, entfaltet sich in Form fiktiver Sachtexte handfester Horror, bei dem es stellenweise so heftig zur Sache geht, dass man vielleicht ganz froh sein kann, dass die drastisch geschilderten Grausamkeiten eben nicht romantypisch Figuren zustoßen, für die man sich emotional bereits stark engagiert hat, denn dann wären die Geschehnisse, die ohnehin nichts für schwache Nerven sind, wohl kaum erträglich (es sei denn, man ist ausgeprägter Splatter-Fan).

Aber das physische Grauen, das die geheimnisvollen nachtaktiven Riesen verbreiten, ist interessanterweise nicht der einzige verstörende Aspekt an ihnen, den Martin Schemm auslotet, auch wenn sie bestens dazu geeignet sind, sämtliche Urängste davor wachzurufen, zur Beute eines menschenfressenden Wesens zu werden und in der Dunkelheit hilflos unbekannten Gefahren ausgeliefert zu sein. Bemerkenswerter ist an ihnen eigentlich, dass sie weder in das im frühen zwanzigsten Jahrhundert schon ausgeprägte naturwissenschaftliche Weltbild noch in die christliche Religiosität der Zeit passen. Ihr Ursprung setzt eine völlig andere Sichtweise voraus, nämlich – ohne hier zu viel vorwegzunehmen – eine der Antike entstammende. So ist es folgerichtig (und durchaus sympathisch), dass es am Ende Geisteswissenschaftler sind, die der Lösung des Rätsels auf die Spur kommen. Doch etwas, das so unglaublich ist, dass es aus gewohnter Perspektive betrachtet gar nicht sein kann, darf eben auch nicht sein. Dementsprechend ist es kein Wunder, dass nicht nur die Behörden auf die Unterdrückung von Nachrichten über die Vorgänge (und später wohl auch auf eine vorläufige Unauffindbarkeit der Akte) hinarbeiten, sondern auch die unmittelbar vom Grauen Betroffenen sehr schnell darauf bedacht sind, zu verdrängen und zu verschweigen, was sich abgespielt hat.

Daran, ob diese allseits mangelnde Bereitschaft, die Wahrheit aufzuarbeiten, weil sie dem gewohnten eigenen Blickwinkel zuwiderläuft, die bestmögliche Haltung ist, weckt allerdings der Epilog erhebliche Zweifel, und auf eine Nachtwanderung in Heidelberg hat man wahrscheinlich nach der Lektüre des Buchs nicht mehr allzu große Lust, denn gerade durch die scheinbar dokumentarische Erzählweise wirkt der Grusel recht real. Dazu tragen sicher auch die stilistisch an alte Fotos angelehnten Illustrationen von Michael Schug bei, ebenso wie die beigegebene Karte und der abgedruckte Merian-Stich des Heiligenbergs, die beide die Einbindung der Geschichte in die tatsächlich existierende Topographie unterstreichen. Ein schauriges Leseerlebnis also, wenn auch hier und da mit einem kleinen Schuss Humor (so darf sich kurz ein englisches Touristenpaar, das sich an einer sehr notwendigen Absperrung stört, über deutsche militaristische Willkür echauffieren), aber auch ein clever geschriebener Roman, der deutlich macht, wie sich eine ungewöhnliche Erzähltechnik effektvoll einsetzen lässt.

Martin Schemm: Das Heidenloch. Ein fantastisch-mythologischer Roman. 2. Aufl. Ubstadt-Weiher, Verlag Regionalkultur, 2001 (Schriftenreihe des Stadtarchivs Heidelberg: Sonderveröffentlichung 11), 160 Seiten.
ISBN: 3-89735-165-X

 


Genre: Roman

Die Feuertore

Norddeutschland 1784. Jakob Frahm, der eine Laufbahn im Verwaltungsdienst anstrebt, tritt seine erste Stelle an, aber anders als erwartet nicht in Moisburg. Der Amtmann als sein Vorgesetzter schickt ihn umgehend ins beschauliche Elstorf weiter, nicht etwa nur zur weiteren Ausbildung, sondern vor allem zu Spionagezwecken, vernachlässigt doch Ludwig von Lohfeld, der die dortige Vogtei unter sich hat, seine Pflichten immer mehr zugunsten mysteriöser Forschungen. Jakob soll herausfinden, was es damit auf sich hat. Für den jungen Mann, der sich den Idealen der Aufklärung verpflichtet fühlt, scheint der Fall auf den ersten Blick klar zu sein: Lohfeld ist offensichtlich ein exzentrischer alter Kauz, der sich in abergläubische Vorstellungen über Meteoriteneinschläge verrannt hat und seinem einseitigen Interesse an dieser Thematik viel Zeit und Geld opfert, ganz zu schweigen davon, dass er auch seine leidgeprüfte Tochter Charlotte schlecht behandelt. Dann aber prophezeit eine fahrende Wahrsagerin Beängstigendes, und als bald darauf tatsächlich ein Meteorit in unmittelbarer Nähe von Elstorf niedergeht, muss Jakob sich die Frage, ob Lohfelds Theorien tatsächlich bloßer Unfug sind, noch einmal neu stellen.

Die Feuertore von Martin Schemm sind laut Untertitel ein historischer Roman, und wenn man möchte, kann man das Buch auch als einen begreifen, dessen Handlung einmal nicht, wie im Genre sonst gängig, im städtischen oder höfischen Milieu, sondern in der Welt dörflicher Honoratioren angesiedelt ist. Auch aufgrund der Beschränkung der Perspektive auf den Ich-Erzähler Jakob, der immer wieder selbst nicht ganz einzuschätzen vermag, womit er es zu tun hat, bleibt dem Lesepublikum nämlich in bester Schimmelreiter-Manier die endgültige Klarheit darüber vorenthalten, inwieweit die Hintergründe der immer verstörenderen Ereignisse, mit denen sich der Protagonist konfrontiert sieht, tatsächlich übernatürlich sind.

Lässt man sich jedoch auf diese Deutung ein, für die vielleicht nicht nur spricht, dass in dieser Geschichte ausgerechnet ein Jakob eine Traumvision erlebt, hat man ein Buch mit reizvollem Fantasy-Einschlag vor sich, in dem der Autor aus der historischen belegten Verehrung von Meteoriten in Kulten der Antike und Sagen über Irrlichter und schaurige Begebenheiten eine ganz eigene Version von Portalen zwischen menschlicher und göttlicher Sphäre entwickelt.

Eingebettet in liebevolle Beschreibungen der norddeutschen Landschaft mit ihren Äckern, Wäldern und Hügelgräbern und der Handlungszeit mit ihrer Literatur, Musik und Korrespondenzkultur entwickelt sich so parallel zu der zarten und den historischen Umständen angemessenen Liebesgeschichte zwischen Jakob und Charlotte schleichend immer stärker ein Gefühl des Bedrohlichen und Geheimnisvollen. Was erst nur leises Unbehagen im Hintergrund ist, kulminiert schließlich in rätselhaften Vermisstenfällen und gar dem Tod eines Menschen, und auch wenn gegen Ende vordergründig eine gewisse Normalität wieder Einzug hält, wird der Eindruck, dass Unheimliches und mit reiner Vernunft nicht zu Bewältigendes schon hinter dem nächsten Waldrand lauern könnte, hier zu geschickt erzeugt, um mühelos abzuschütteln zu sein. Einen Kontrapunkt dazu bilden die – ungeachtet aller Lästigkeit für die sympathischeren Gestalten des kammerspielartig reduzierten Figurenensembles – durchaus humoristischen Situationen, die sich aus der Hartnäckigkeit eines unwillkommenen Bewerbers um Charlottes Hand und der weniger abstoßenden, aber ebenso unerwünschten Schwärmerei einer flüchtigen Bekannten für Jakob ergeben.

Für alle, die sich im südlichen Hamburger Umland ein bisschen auskennen, trägt zum Unterhaltungswert der Lektüre sicher auch noch bei, hier vertraute Orte zu „besuchen“ und sich klarzumachen, dass sich in gut 240 Jahren nicht nur architektonisch einiges geändert hat: So hält beispielsweise eine mit modernen Verkehrsmitteln rasch zurückgelegte Strecke (etwa von Elstorf nach Langenrehm) die Figuren im 18. Jahrhundert eine ganze Weile beschäftigt, bis sie endlich ans Ziel gelangen, und auch wenn man das in der Theorie natürlich ohnehin weiß, ist es vielleicht noch einmal eindringlicher, wenn einem die Gegend, um die es geht, in ihrer heutigen Gestalt vor Augen steht.

Aber auch abseits solcher Detailbeobachtungen macht es Spaß, Jakob durch sein Abenteuer zu folgen, das sich formelhaften Handlungsmustern größtenteils verweigert und beweist, dass spannende Geschichten sich auch abseits des Gewohnten und schon oft Gelesenen erzählen lassen.

Martin Schemm: Die Feuertore. Historischer Roman. Feldafing, hansanord Verlag, 2023, 240 Seiten.
ISBN: 978-3-947145-66-9


Genre: Roman