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Der Atem des Drachen

Zauberkräftige Feen, hilfreiche Hexen, sanfte Männer, findige Frauen, bestrafte Bösewichte und nicht zu fassende Wolkenschafe: Nike Leonhard erzählt in Der Atem des Drachen sieben Märchen, die auf den ersten Blick wie traditionelle Vertreter ihres Genres anmuten könnten, es auf den zweiten aber dann doch nicht sind. Machtverhältnisse und Geschlechterrollen werden ebenso hinterfragt wie klassische Erzählmuster, und so kann sich hier auch schon einmal eine lesbische Liebesgeschichte ergeben oder die Erkenntnis warten, dass eine Heirat nicht das Ziel aller Träume sein muss.

Der Segen der Fee wird zum Einstieg auf sehr spezielle Weise einem Unsympathen zuteil, der die Erfüllung dreier nicht unbedingt gut durchdachter Wünsche erzwingt, die nicht ohne Konsequenzen bleibt.

Auch im folgenden Märchen Der Fischer und die Nixe findet eine Begegnung zwischen einem Menschenmann und einem übernatürlichen Wesen statt, aber da der Protagonist charakterlich nicht so geartet ist wie der der ersten Geschichte, nimmt alles einen anderen Ausgang.

Dagegen erweist sich Die Flut nach vermeintlich klassischem Beginn als eine ins Märchengewand gehüllte Kritik an den aktuellen Problemen um die Bewältigung der Klimakrise: Verkürzt ausgedrückt weigert sich hier die Politik, Maßnahmen gegen eine sich ankündigende Naturkatastrophe zu ergreifen, mit erwartbaren Folgen.

Der Atem des Drachen, der auch den Titel für die ganze Sammlung liefert, bietet nicht nur den in ein scheinbar ganz typisches Questenabenteuer ausziehenden jüngsten Sohn aus bescheidenen Verhältnissen, sondern mit der Verwandlung einer Person in eine Statue und dem in der mittelalterlichen Literatur gar nicht einmal so seltenen Motiv, dass sich in einem Drachen in Wahrheit ein Mensch verbirgt, noch weitere vertraute Elemente, die aber, originell kombiniert, auf ein Ende hinführen, das man so vielleicht nicht erwartet hätte.

Auch bei Prinzessin Furiosa bildet ein klassischer Baustein – das Turnier, bei dem ein passender Ehepartner für eine Prinzessin bestimmt werden soll – den Ausgangspunkt, allerdings mit der Besonderheit, dass es hier die Prinzessin selbst ist, die auf diesem Weg jemanden mit ganz speziellen Eigenschaften finden möchte. Jemand, der als der Bunte Hund bekannt ist, aber stets nur maskiert auftritt, erfüllt ihre Anforderungen mühelos, doch es gibt ein Geheimnis, das dem glücklichen Ende im Weg stehen könnte.

Bei Dunkelschön oder: Die verschwundene Kiste hat man den Eindruck, dass hier die Geschichte von den drei Äpfeln aus Tausendundeine Nacht Pate gestanden haben mag: Ist es dort der Wesir, dem der Kalif mit der Hinrichtung droht, wenn er ein Verbrechen nicht aufklärt, sieht sich hier der Schatzkanzler einer Königin mit dem gleichen brutalen Ultimatum konfrontiert. In beiden Fällen ist es eine Tochter des unglücklichen Hofbeamten, die schließlich hilft, die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen, allerdings im Fall der hier titelgebenden Dunkelschön wesentlich aktiver und um eine märchentypische Prüfung nach dem Muster der Sechs Schwäne ergänzt. Zugleich wird der Bogen zur ersten Geschichte zurückgeschlagen, denn wie genau deren Ende sich ergeben hat, erfährt man hier ebenfalls.

Den Abschluss bilden die Wolkenschafe, in denen das geläufige Motiv, dass einem Bewerber um die Hand einer Frau eine schier unmögliche Aufgabe zur Bedingung für die Heirat gemacht wird, in kreativer Weise zum Einsatz kommt.

Nike Leonhard schreibt sprachlich gewandt und trifft den überkommenen Märchentonfall gut, nur um ihn hier und da gezielt etwa mit einem „Sag’ mal, spinnst du?“ zu torpedieren, das überdeutlich macht, dass der Blickwinkel ein moderner ist und immer wieder auch dezidierte Sozialkritik geübt wird. Spaß machen die eingestreuten literarischen Anspielungen, denn neben kleinen Hinweisen etwa auf Rotkäppchen oder Moby Dick begegnet einem auch d’Artagnans sehr spezielles Pferd aus den Drei Musketieren wieder, das diesmal aber das Glück hat, bei einem rücksichtsvolleren und netteren Menschen gelandet zu sein.

Ohnehin wird immer wieder Sympathie für diejenigen deutlich, die Mensch und Tier freundlich und respektvoll behandeln und in materieller Hinsicht bescheiden bleiben, statt auf zu Lasten anderer gehenden Reichtum und Luxus aus zu sein. Eine äußerliche Besonderheit des Buchs sind die jeder Geschichte vorangestellten Bilder, die nicht den jeweiligen Text illustrieren, sondern als symbolische Content Notes dienen (der Schlüssel dazu ist hinten im Buch abgedruckt). Wer Wert auf Inhaltswarnungen legt, wird also fündig, während alle anderen zumindest Spaß an den niedlichen Kaninchen, Mäusen & Co. haben dürften.

Nike Leonhard: Der Atem des Drachen. Neue Märchen. Norderstedt, BoD, 2023, 204 Seiten.
ISBN: 978-3-7481-3331-5


Genre: Anthologie, Erzählung, Märchen und Mythen

Das Lied der Tollpatsche

Die Friedensfestspiele sind das Großereignis im Herbstgebirge: Angehörige der unterschiedlichsten Völker kommen hier zusammen, um Handel zu treiben und einen Sängerwettstreit auszutragen. Erle Zapf, die zu den von Zwergen und Menschen abstammenden Dappen gehört, ist allerdings nicht in Feierlaune. Dass ihr Vater unbedingt die Gelegenheit nutzen will, einen Ehemann für sie zu suchen, verdirbt ihr die Stimmung gründlich. Mit ihrem kleinen Neffen Brun eine Runde über den Markt zu drehen und dabei Ausschau nach der Zwergenfrau Nork zu halten, in die sie heimlich verliebt ist, bietet eine willkommene Abwechslung. Doch das Wiedersehen mit Nork verläuft nicht wie erhofft, und dann kommt auch noch Brun im Gedränge abhanden. Erle muss sich auf die Suche nach ihm machen und gerät in ein Abenteuer, das ihr Leben von Grund auf verändern wird …

Iva Moor erzählt in Das Lied der Tollpatsche eine sympathische Geschichte, in der eine junge Frau trotz aller Vorurteile zwischen den einzelnen Gemeinschaften und innerhalb davon lernt, ihren eigenen Weg zu gehen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf inneren Entwicklungen und zwischenmenschlichen (bzw. -dappischen und -zwergischen) Beziehungen, denn auch wenn im Zuge von Bruns Verschwinden durchaus eine lebensgefährliche Situation zu bewältigen ist, sind ihre langfristigen Auswirkungen auf Erle und Nork und das Verhältnis der beiden zueinander weit zentraler als jede vordergründige Action. Dass manches aufgrund der Kürze der Geschichte, die nur etwa 30 Seiten umfasst, eher angedeutet als detailliert ausgeführt ist, schadet nicht, denn Ivar Moor versteht sich darauf, auch in kleine Gesten und Bemerkungen viel zu legen und ihr Lesepublikum daraus seine Schlüsse ziehen zu lassen.

Neben der einfühlsamen Figurenzeichnung liegt die Stärke der Erzählung in ihrem Weltenbau, der jede Menge netter Einfälle bietet. So lernt man nicht nur die im Textilhandwerk höchst erfolgreichen, aber ansonsten unter den Zwergen als Tollpatsche verschrienen Dappen kennen (die etymologisch vielleicht mit dem Dilldapp verwandt sind), sondern auch geschlechtsspezifische zwergische Bartmoden, eine ganz besondere Wirkung von Musik und Norks als Spürhundersatz dienendes Pirkel (eine ebenso niedliche wie charaktervolle Mischung aus Hermelin und Schweinchen).

Als schnelle Lektüre für zwischendurch, die einen an die schönen und fabulierfreudigen Seiten eines heute oft auf düstereren Wegen wandelnden Genres erinnert, ist Das Lied der Tollpatsche daher genau richtig und macht Lust auf mehr aus Iva Moors Feder.

Iva Moor: Das Lied der Tollpatsche. Wien, Littera Magia, 2021 (E-Book).
ISBN: 978-3-9864-7774-5


Genre: Erzählung

Dies ist mein letztes Lied

Ein im wahrsten Sinne des Wortes allumfassendes System mächtiger Wirtschaftskonzerne, so gut wie keine Auf- und Ausstiegschancen für deren Angestellte, aber in bescheidenem Rahmen Brot und Spiele für die Ausgebeuteten: Es ist eine zwar in manchen Belangen (etwa bezüglich der selbstverständlichen Anerkennung verschiedener Geschlechtsidentitäten) progressive, insgesamt aber doch dystopische Zukunft, durch die in Lena Richters Dies ist mein letztes Lied jemand namens Qui – was sich nicht ohne Grund mit „Wer?“ übersetzen lässt – musizierend und geschunden streift, ohne viel über sich preiszugeben, obwohl die Öffentlichkeit und die große Bühne immer wieder Handlungsort sind.

Schon der Einstieg bietet höchstpersönliche Magie als Massenevent: Ein letzter Auftritt der Ich-Erzählerfigur vor Publikum soll ein zu durchschreitendes Portal öffnen, das aus dieser Welt hinausführt. Das wird zum Anlass, zurückzublicken und sich an die vorhergehenden Lieder und Portale zu erinnern, die Qui an diesen Punkt gebracht haben. Dementsprechend auch nicht in Kapitel, sondern in Auftakt, unterschiedliche Lieder und ein Schlussstück gegliedert, spricht das Buch trotz seines ebenso bunten wie bedrückenden futuristischen Settings Probleme der Gegenwart an, von der oft als sinnlos empfundenen Angestelltenexistenz über verfahrene Konflikte bis hin zum menschenverachtend gleichgültigen Umgang mit Krisen und deren Opfern.

Das zu Beginn von Quis Geschichte evozierte Gefühl, in einem unbefriedigenden, von fremden Interessen bestimmten Leben gefangen zu sein, und die eskapistische Phantasie, auf unerklärliche Art plötzlich die Chance zur Flucht daraus geboten zu bekommen, können sicher viele Menschen nachvollziehen. Aber so leicht, das Durchschreiten eines magischen Portals zur Lösung aller Probleme werden zu lassen, macht Lena Richter es weder ihrem Publikum noch ihrer Hauptfigur, denn auch abgesehen von allen schmerzlichen Abschieden kann man rasch vom Regen in die Traufe geraten.

So bekommt Qui es im Laufe der Reise durch immer neue Türen mit Krieg, widrigen Umweltbedingungen, im Kälteschlaf Reisenden auf einem Raumschiff, landschaftlich beeindruckender, aber bedrohter Natur, Alltagstristesse, einer planetenweiten Katastrophe, einer virtuellen Welt mit ganz realen Gefühlen und Gemeinschaften, lebensbedrohlicher Einsamkeit, einer ureigene Bedürfnisse erstickenden Normalität und letztendlich hohlem Erfolg zu tun. Trotz aller Versuche, die Vergangenheit zu bewahren und in nicht unbedingt dauerhaften Freundschaften und Beziehungen die Gegenwart so lebenswert wie möglich zu gestalten, ist eine bessere Zukunft das Einzige, wovon unter diesen Umständen viele – aber längst nicht mehr alle – träumen können. Aber ist sie überhaupt zu erreichen?

Der Kunstgriff des Wechsels von Welt zu Welt durch die musikalisch herbeigezauberten Portale erlaubt es Lena Richter, ihre Vielseitigkeit unter Beweis zu stellen. Gewiss kann man überlegen, ob mit diesem Streifzug durch gängige Formen von Science-Fiction-Kulissen nicht auch ein wenig unser aller kleine Fluchten in immer wieder neue imaginierte Welten hinterfragt werden, aber wenn ja, dann geschieht es nicht auf zynische Art, sondern durchaus mit Verständnis für die Suche nach dem nicht aufzutreibenden Ausweg. Stärker noch schwingt aber die Reflexion über die Rolle von Kunstschaffenden mit, die – trotz aller (hier stets zeitbegrenzten) Eingebundenheit in unterschiedliche Lebenswelten – immer auch eine Außenseiter- und Beobachterposition einnehmen, die ihnen zwar ein gewisses Maß an Macht im Beschreiben und Kommentieren, vielleicht gar Aufrütteln einräumt, sie aber auch in die hilflose Lage stürzt, der Kommodifizierung und Vermarktung von Tiefempfundenem zusehen zu müssen. Auch das in Fantasy und Science Fiction nicht seltene Motiv der Auserwähltheit wird im Zuge dessen gründlich auf den Prüfstand gestellt.

Zugegeben: Eine aufmunternde und tröstliche Lektüre ist das nicht, eher eine, die einen bekümmert und nachdenklich stimmt, aber gerade auch aufgrund des geschickten Einsatzes der Ich-Erzähler-Instanz, über die man so wenig und doch so viel erfährt, eine lohnende Entdeckung abseits ausgetretener Pfade im Genre bietet.

Lena Richter: Dies ist mein letztes Lied. Wien, Verlag ohneohren, 2023 (E-Book).
ISBN: 978-3-903296-59-6


Genre: Erzählung, Roman

Die Vergebung der Sünden

Das hier besprochene Buch ist Teil einer Reihe. Die Rezension des ersten Bandes ist hier zu finden.

Pfarrer Sidney Chambers ist eigentlich mehr als ausgelastet damit, seinen Beruf und das Familienleben mit Ehefrau Hildegard und Töchterchen Anna unter einen Hut zu bringen, aber der nächste Kriminalfall, in dem sein Scharfsinn als Ermittler gefragt ist, findet ihn ganz ohne sein Zutun: In Grantchester erscheint völlig aufgelöst ein Musiker und bittet um Kirchenasyl. Angeblich ist er am Morgen in einem Hotelzimmer neben seiner offenkundig erstochenen Ehefrau erwacht, kann sich aber nicht erinnern, ob er sie getötet hat oder nicht. Als Sidney und sein alter Freund, Inspector Geordie Keating, den vermeintlichen Tatort in Augenschein nehmen, erwartet sie eine Überraschung, denn von einer Leiche oder anderen Hinweisen auf eine Bluttat fehlt jede Spur. Nach einigen Verwicklungen wird aber tatsächlich eine Frau aus dem Umfeld des Musikers tot aufgefunden – allerdings nicht die, mit der er verheiratet ist …

Die Vergebung der Sünden ist natürlich ein Thema, das einen Geistlichen immer beschäftigen sollte, aber nicht jeder trägt so engagiert wie Sidney Chambers dazu bei, dass eine weltliche Sühne erfolgt. Wie gewohnt erzählt James Runcie auch in diesem Band um den Kirchenmann als Detektiv eine Reihe mehr oder minder in sich abgeschlossener Fälle, die durch eine gut zwei Jahre umspannende Hintergrundhandlung um Sidneys Privatleben und die beruflichen Veränderungen (samt Umzug), die eine Beförderung für ihn mit sich bringt, zusammengehalten werden. Typische Krimis sind nicht alle der sechs Geschichten: So geht es nur manchmal primär um die Aufklärung eines Mordes oder sonstigen Verbrechens, während in anderen Fällen relativ schnell klar ist, was sich abgespielt hat, und die sich daraus ergebende Situation bewältigt werden muss. Die Themen sind dabei in diesem Band ziemlich düster, so dass einem einige der Episoden sehr an die Nieren gehen. Beispielsweise werden Sidney und Hildegard zu einem Jagdwochende eingeladen, bei dem sich die Gastgeberin als Opfer häuslicher Gewalt erweist, aufgrund ihrer streng katholischen Überzeugungen aber gar nicht aus ihrer fürchterlichen Ehe ausbrechen will. An anderer Stelle geht es um sexuellen Missbrauch an einer Privatschule und die verheerenden Folgen des von allen, die etwas unternehmen könnten, lange totgeschwiegenen Systems. Auch aufgrund trauriger Parallelen in der Realität lesen sich diese Passagen noch weitaus verstörender als der recht spektakuläre Mord, bei dem ein Mann von seinem eben in Anlieferung befindlichen Konzertflügel erschlagen wird.

Sidneys Freundschaft mit Geordie tritt in diesem Band etwas in den Hintergrund. Für Frotzleien, die fließend in echte Kritik übergehen, ist nun eher Hildegard zuständig, die durch ihren Beruf als Pianistin und Klavierlehrerin auch einen der Anknüpfungspunkte für die immer wieder eingeflochtenen Exkurse in Kunst und Kultur bildet. Mit thematisch etwas anderem Schwerpunkt gilt das auch für Sidneys alte Freundin, die Kunsthistorikerin Amanda Kendall. Diese erhält nicht nur Drohbriefe und arrangiert eine Bildungsreise nach Florenz, auf der Sidney unter Diebstahlsverdacht gerät, sondern feiert auch ihre Hochzeit, was Sidney mit der Frage konfrontiert, ob er nicht doch noch mehr für sie empfindet, als es sich für einen verheirateten Mann eigentlich gehört. Die Figuren schon aus früheren Geschichten zu kennen, ist übrigens ganz hilfreich, da James Runcie mit den Charakterisierungen eher sparsam bleibt und nicht unbedingt ausführlich rekapituliert, wie bestimmte Konstellationen zustandegekommen sind.

Gewünscht hätte man dem Band ein gründlicheres inhaltliches Lektorat, weil hier und da kleine Kontinuitätsfehler auftreten (z. B. scheinen Sidney mehrfach Informationen, über die er schon verfügt, zu entfallen, ohne dass dies als absichtliche Schilderung von Vergesslichkeit oder Unaufmerksamkeit kenntlich gemacht wäre, und Amanda wird auch Monate nach ihrer Hochzeit von Bekannten noch als „Miss Kendall“ angesprochen). Stilistisch liest sich die Übersetzung von Renate Orth-Guttmann aber angenehm, und auch insgesamt bildet die Mischung aus Spannung, Sozialkritik, Humor und philosophischen Momenten keine schlechte Lektüre, obwohl es schöner gewesen wäre, wenn Runcie manchen seiner Figuren mehr Raum gelassen hätte, sich zu entfalten.

James Runcie: Die Vergebung der Sünden. Sidney Chambers ermittelt. 2. Aufl. Hamburg, Atlantik (Hoffmann und Campe), 2020, 368 Seiten.
ISBN: 978-3-455-00548-6

 

 


Genre: Anthologie, Erzählung, Roman

Ein Haus für viele Sommer

Ein alter Turm auf Elba, der über Jahrzehnte hinweg als Ferienhaus einer deutschen Familie dient, ein am Rande der Wildnis gelegenes Gartengrundstück samt Olivenernte und Wildschweinbesuch, Meer, Sonne, Strand, Wandel und Beständiges, aber vor allem auch viele menschliche Eigenarten und Schwächen: Das sind die Zutaten, die bei Axel Hacke Ein Haus für viele Sommer ergeben.

Zugegeben, ein wenig schwer fällt es schon, einzuordnen, was dieses Buch eigentlich sein möchte: Eher Aneinanderreihung kleiner Episoden als Roman ist es keine reine Fiktion (das Ferienhaus in Elba und allerlei auftretende Personen scheint es laut Nachwort wirklich zu geben), aber auch (ebenfalls laut Nachwort) kein größtenteils den realen Tatsachen verpflichteter, die Wirklichkeit nur in ein dichterisches Gewand kleidender Reisebericht. Vielleicht lässt es noch am ehesten als Kaleidoskop autobiographisch inspirierter Betrachtungen beschreiben, die von der Perspektive eines wiederkehrenden Gastes leben, der an seinem Urlaubsort irgendwann kein ganz Fremder mehr ist, aber doch nie zum Einheimischen werden wird.

Unabhängig davon, welches Gefühl dieses Eingeständnis einer bunten Mischung aus Fakten und Fiktion in einem hinterlässt, liest sich das Haus für viele Sommer durchaus unterhaltsam. Heiter, aber nicht anspruchslos und mit zahlreichen Zitaten aus anderen literarischen Werken angereichert, daneben auch mit (immer übersetzten) italienischen Einsprengseln gespickt, lässt der Geschichtenreigen einen eine Reise in ein nun vom Tourismus geprägtes ehemaliges Bergbaudorf unternehmen, das von der Topographie bis zur Abfallentsorgung gewisse Eigenheiten aufweist, vor allem aber auch – ständig oder nur auf Zeit – die Heimat unzähliger schräger Typen ist.

Ob Künstler, Automechaniker, Schmied, Strandwart, Kellner oder zu ungeahnten Wutausbrüchen fähiger Wissenschaftler im Ruhestand, hier haben alle ihre Ecken und Kanten und wechseln sich damit ab, die Hauptrolle in oft ziemlich lustigen Begebenheiten zu spielen. Dabei ist ein eindeutiger Männerüberschuss zu konstatieren, denn Frauen kommen nur vergleichsweise wenige vor, während die Herren der Schöpfung die Bühne dominieren.

Menschen sind allerdings nicht die einzigen liebevoll ausgearbeiteten Charaktere, mit denen man es hier zu tun bekommt: Auch die ebenso gefräßigen wie furchtlosen Nachbarsziegen, ein alter Fiat und nicht zuletzt das Ferienhaus selbst gewinnen ganz individuelle Züge und machen dem oft selbstironischen Ich-Erzähler das Leben nicht immer leicht. Erholsame Ferien sind also nicht garantiert, dafür aber erlebnisreiche und schöne mit feinen Naturbeobachtungen, nachdenklichen Einschüben und immer wieder auch Stellen, an denen man kräftig lachen kann. In diesem Kontext allerdings stellt sich wieder das schon eingangs erwähnte Problem: Manche der geschilderten alltäglichen Begebenheiten sind vor allem dann urkomisch, wenn man sich vorstellt, dass sie so oder so ähnlich tatsächlich passiert sind. Ob sie noch gleichermaßen witzig sind, wenn man sie unter die hinzuerfundenen Einzelheiten einordnen muss, ist wohl Geschmackssache, und diese kleine Unsicherheit bleibt eben überall.

Hervorhebenswert ist die gelungene äußere Gestaltung des Buchs mit flirrend mediterranem Titelgemälde von Thomas Weczerek und meerblauem Leineneinband mit goldgeprägter Schrift. Auch unabhängig vom über weite Strecken amüsanten Inhalt ist es also ein kleines Schmuckstück, das nicht nur vergnüglich zu lesen, sondern zugleich hübsch anzusehen ist.

Axel Hacke: Ein Haus für viele Sommer. München, Kunstmann, 2022, 288 Seiten.
ISBN: 978-3-95614-483-7


Genre: Erzählung

The Christmas Collection

Der Titel ist Programm: In The Christmas Collection bietet die vielseitige Autorin und Hugo-Preisträgerin Cora Buhlert ein Potpourri von Weihnachtsgeschichten unterschiedlicher Länge, das quer durch die beliebtesten Genres der Unterhaltungsliteratur führt, von Romance über Fantasy, Horror und Krimi bis hin zu Science Fiction.

Den Anfang machen fünf in der realen Welt angesiedelte Liebesgeschichten. Drei davon greifen ineinander, da sie alle im selben amerikanischen Einkaufszentrum, der Hickory River Mall, spielen. In der warmherzigen kleinen Meet-Cute-Geschichte Christmas Gifts besorgt Protagonist Tim auf die letzte Minute ein Geschenk für seine Mutter. Es zu verpacken erweist sich als wahre Herausforderung, aber zum Glück naht unerwartete Hilfe, aus der sich rasch mehr ergibt.

Etwas zynischer setzt Christmas Shopping with a Broken Heart ein. Nachdem ihr Freund ihr jäh den Laufpass gegeben hat, bricht Hannah, tief enttäuscht, zu Weihnachtseinkäufen auf. Im Gedränge kommt es zu einem spektakulären Zusammenstoß – und der hat Folgen.

Länger und in nach Weihnachtssongs benannte Kapitel gegliedert ist Christmas at Hickory Mall: The Crappiest Christmas Ever. Während die Studentin Jessica nach dem Scheitern der Ehe ihrer Eltern auf die letzte Minute ein eigenes Weihnachtsfest fernab der Familie zu organisieren versucht, trauert Weihnachtsbaumverkäufer Matt besseren Zeiten nach, und natürlich treffen die beiden aufeinander.

Christmas Eve at the Purple Owl Café führt dagegen auf die andere Seite des Atlantiks. Im zur Abwechslung einmal verschneiten Norddeutschland weigert die junge Katie sich zum ersten Mal, den Heiligabend mit der wenig liebenswerten Verwandtschaft zu verbringen. Doch statt trübsinniger Einsamkeit hat das ungewöhnliche Weihnachten unverhofft doch noch nette Gesellschaft für Katie zu bieten.

Nicht weit entfernt spielt auch Driving Home for Christmas. Auf dem Weg von Münster nach Hamburg hat die Studentin Laura am Heiligabend eine Autopanne. Als dann auch noch ihr Handy versagt, scheint die Lage ernst, aber auf dem Parkplatz, auf dem ihr Wagen liegengeblieben ist, ist sie vielleicht doch nicht so allein, wie sie erst geglaubt hat.

Eine winterliche Romanze fehlt auch in The Bakery on Gloomland Street nicht, aber hier geht es deutlich phantastischer zu als in den fünf vorhergehenden Texten: Rachel Hammersmith übernimmt eine kleine Bäckerei im ewig nebligen Hallowwind Cove, ohne beim Namen der Vorbesitzerin Marie Percht schon Böses zu ahnen, bekommt es aber dann in der Adventszeit mit dem Krampus höchstpersönlich zu tun – denn der ist, wie sich herausstellt, nur auf sehr spezielle Art zu besänftigen (die bei einem deutschen Lesepublikum – je nach regionaler Herkunft – durchaus Kindheitserinnerungen wecken dürfte).

Überwiegend fern der Menschenwelt (und hoffentlich in einem anderen Universum als der vorherige Text) ist Revolt at the North Pole angesiedelt, eine Geschichte, um die Weihnachtsmannfans, die sich das Bild eines gütigen alten Mannes erhalten wollen, lieber einen großen Bogen machen sollten: Die Weihnachtselfen wollen sich nicht länger von Santa Claus ausbeuten lassen, aber ohne Verbündete können sie den Aufstand nicht wagen. Während manche überredet werden müssen, schließt sich unversehens auch ein sehr unwahrscheinlicher Helfer der Revolte an, und Dramatisches geschieht, bevor auch nur ans alljährliche Geschenkeausliefern gedacht werden kann.

Eindeutig düstere Aspekte hat Weihnachten auch in Witchfinders: The Solstice Horror, und das nicht nur, weil die Geschichte vor dem Hintergrund der Hexenverfolgung im Neuengland des späten 17. Jahrhunderts spielt. Der junge Puritaner Matthew Goodson, unlängst noch Lehrling gefürchteter Hexenjäger, ist mit der Hexe Grace Pankhurst auf der Flucht vor seinen ehemaligen Meistern. Doch in dem Wald, den sie durchqueren müssen, um ihren Verfolgern zu entgehen, lauert ein nicht minder gefährliches Wesen, das ausgerechnet im tiefsten Winter aktiv zu werden pflegt.

Zurück in ein Setting ohne übernatürliche Elemente führt A Bullet for Father Christmas. Kurz vor Weihnachten liegt ein Mann im Weihnachtsmannkostüm erschossen in einem Juwelierladen – getötet angeblich von seinem Komplizen bei einem Raubversuch. Der Fall stellt Detective Inspector Helen Shepherd zunächst vor ein Rätsel, aber vielleicht noch schwieriger ist die Frage zu klären, wo sie das besondere Spielzeug auftreiben soll, das ihre kleine Nichte sich von ihr wünscht.

Helen Shepherd hat einen zweiten Auftritt in Santa’s Sticky Fingers und muss auf einem nach deutschem Vorbild gestalteten englischen Weihnachtsmarkt auf die Jagd nach Taschendieben gehen. Während von den Marktbeschickern wüste Verdächtigungen über vermeintlich kriminelle Osteuropäer und den örtlichen Obdachlosen geäußert werden, führen Helens Nachforschungen bald auf eine ganz andere Spur. Ein spezielles Geschenk für ihre Nichte aufzutreiben, ist allerdings auch diesmal wieder eine echte Herausforderung.

Durchaus kriminell geht es auch in The Silencer: St. Nicholas of Hell’s Kitchen zu, allerdings nicht in England, sondern in New York der 1930er Jahre. Richard Blakemore führt dort ein Doppelleben als Pulp-Autor und als sein eigener literarischer Held, der geheimnisvolle „Silencer“, der gegen das Verbrechen kämpft. Als er auf der Flucht vor Verfolgern in ein Kinderheim gerät und erfährt, dass es durch die Machenschaften skrupelloser Immobilienhaie von der Schließung bedroht ist, kann er natürlich nicht untätig bleiben.

The Tinsel-Free Christmas Tree  ist nicht nur eine Satire auf erklärungslastige Science Fiction, die unbeholfen alles und jedes übergenau zu erläutern versucht, sondern bedient sich geschickt einer ähnlichen Erzähltechnik wie die bekannte Kurzgeschichte Despoilers of the Golden Empire: Durch exotisch anmutende, wenngleich korrekte Bezeichnungen wird ein eigentlich sehr alltäglicher Ehekrach zu einer höchst grotesken Diskussion, und der Name des Paares, das sich hier über seinen Weihnachtsbaum in die Haare gerät, bleibt nicht die einzige Anspielung auf Loriot.

Völlig schräg wird es in The Robot Turkey Apocalypse, einer humoristischen Horrorstory, in der das Ende der Welt ausgerechnet durch aus dem Nichts auftauchende Robotertruthähne mit mörderischen Absichten eingeläutet wird.

Wesentlich friedlichere Verhältnisse herrschen in A Year on Iago Prime: Christmas on Iago Prime, aber zufrieden ist die kleine Libby trotzdem nicht: Als Tochter eines Wissenschaftlerpaares ist sie gezwungen, Weihnachten fern des heimatlichen Boston in der Weltraumkolonie Iago Prime zu verbringen, wo sie sich als einziges Kind unter Erwachsenen tödlich langweilt. Als sich abzeichnet, dass es hier nicht einmal einen richtigen Weihnachtsbaum geben wird, kann wohl nur noch eines helfen: eine Nachricht an Santa Claus.

Wie der Titel schon ahnen lässt, ist die Ausgangslage in Christmas after the End of the World um einiges unersprießlicher: Hier versucht die dreizehnjährige Natalie, ihrem kleinen Bruder Liam, Findelkind Olivia und Hund Bud ein schönes Weihnachten unter postapokalyptischen Bedingungen zu ermöglichen. Damit, dass sie alle ein Weihnachtswunder erleben werden, rechnet sie allerdings nicht.

Cora Buhlert schreibt humorvoll, routiniert und oft sozialkritisch, mit souveräner Genrekenntnis und gelegentlich einem Schuss Nostalgie, aber auch reichlich (Selbst-)Ironie. So bieten ihre Texte neben den eigentlichen Geschichten einen bunten Anspielungsstreifzug durch die Popkultur, auch in Form vieler Witze in der Namensgebung (so taucht z. B. in einem der Krimis gewiss nicht ohne Grund ein gewisser Jürgen Roland auf), und sind mit einprägsamen sprachlichen Bildern gespickt (aber in welcher Geschichte genau etwas like the aftermath of a Visigoth raid aussieht, wird hier selbstverständlich nicht verraten).

Außerdem gerät nicht aus dem Blick, dass nicht für alle Menschen um diese Jahreszeit ein christliches oder auch nur säkularisiertes Weihnachtsfest wichtig ist; so schiebt in der Hickory River Mall Barista Mohammad auch am Heiligabend Dienst wie üblich, während in anderen Geschichten Chanukka und pagane Winterbräuche Erwähnung finden. Aber ganz egal, welcher Feiertag genau nun begangen wird: für liebevoll beschriebene kulinarische Genüsse ist immer gesorgt, und so ist ein garantierter Nebeneffekt der Lektüre, dass man beim Lesen Appetit auf alles Mögliche von Weckmännchen über Kekse bis hin zu Glühwein bekommt.

Aufgrund der Fülle abgedeckter Genres ist in der Sammlung wirklich für so gut wie jeden Geschmack etwas dabei. Wer in der Advents- und Weihnachtszeit zur Ablenkung von Stress und Hektik entspannende und unterhaltsame Lektüre sucht, die sich häppchenweise zwischendurch oder auch am Stück prima weglesen lässt, kann mit The Christmas Collection also nicht viel falsch machen.

Cora Buhlert: The Christmas Collection. Bremen / Stuhr, Pegasus Pulp Publications, 2021 (E-Book, PDF-Fassung 226 Seiten).
ISBN: 978-1-393-38370-3


Genre: Anthologie, Erzählung

Raunächte

Nach vierzig Jahren kehrt Manfred, von schwerer Krankheit gezeichnet, in der Weihnachtszeit in seine Heimat im Reichstal im Schwarzwald zurück. Als alter Mann möchte er endlich seinen Bruder Sebastian wiedersehen, zu dem er keinen Kontakt mehr hatte, seit das einst enge Verhältnis an Neid und Eifersucht von Manfreds Seite zerbrochen ist. Während er sich, zunächst erfolglos, um ein Treffen bemüht, durchstreift er die winterlichen Wälder und erinnert sich zurück: an Minna, zu der beide Brüder sich hingezogen fühlten, an die Abenteuer der gemeinsamen Kindheit, an eine örtliche Sage über ein unglückliches Liebespaar und an abergläubische Vorstellungen, die sich zumal mit den Raunächten zwischen Weihnachten und Dreikönigstag verbinden. Doch je länger Manfred auf Sebastian wartet, desto stärker kristallisiert sich heraus, dass eigentlich nicht die angeblich um diese Jahreszeit umgehenden Dunkelbolde zu fürchten sind, sondern das, was Menschen einander und sich selbst antun können.

Raunächte von Urs Faes ist eine verstörende Erzählung, sprachlich schön und übervoll mit Versatzstücken alter Sagen, historischen Einzelheiten aus der weiteren Umgebung (so findet z. B. Johann Friedrich Oberlin Erwähnung) und zarten Naturschilderungen, denen man heimlich wünscht, in einer liebenswerteren und weniger deprimierenden Geschichte vorzukommen. Denn Manfred ist ein handfester Antiheld, und sensible Menschen, insbesondere Pferdefreunde, sollten um die Raunächte vielleicht lieber einen Bogen machen.

Trotz aller schockierenden und abstoßenden Elemente des Inhalts muss man aber einräumen, dass die Art, wie Urs Faes erzählt, gelungen ist und bis in die kleinsten Details bewusst wirkt. Schon die Namensgebung ist zielgerichtet: Während „Minna“ die Liebe evoziert, die sie in beiden Brüdern weckt, heißt das Pferd, das Manfreds Rachedurst zum Opfer fällt, „Amaro“, also „bitter“, und es ist gewiss auch kein Zufall, dass Sebastian den Namen eines der bekanntesten gemarterten Heiligen trägt. Ob ihn tatsächlich ein wirksamer Fluch seines Bruders getroffen hat oder nur aus ganz irdischer Ursache mehrere Leben zerstört worden sind, bleibt in der Schwebe, aber es fällt bei der Lektüre doch auf, dass überwiegend den Frauen zugeschrieben wird, mit dem Unheimlichen und Unheilbringenden durch Religion und Volksbräuche einen erträglichen Umgang zu finden, während die Männer, die zum Aberglauben vordergründig Distanz zu wahren suchen, das Böse mit Wucht im realen Leben aufflammen lassen.

Manfreds Wandeln in einem gespenstischen Wald der Kindheits- und Jugenderinnerungen wird von den Illustrationen von Nanne Meyer unterstrichen, die winterliche Bäume, die den Menschen klein werden lassen, mit Figuren kombiniert, die wie aus alten Fotos entnommen wirken. Ein Schaudern lässt sich da kaum vermeiden, und eine intensive Gesamtwirkung wird man dem Buch nicht absprechen können, auch wenn man sich gegen die Grausamkeit des Geschehens innerlich sträuben mag.

Urs Faes: Raunächte. 4. Aufl. Berlin, Insel, 2020, 84 Seiten.
ISBN: 978-3-458-19452-1


Genre: Erzählung