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Märchensagas

Unter dem Begriff der Märchensagas wird ein recht heterogenes Korpus von zumeist spätmittelalterlichen Prosatexten zusammengefasst, die gewisse Überschneidungen mit den Vorzeitsagas, Isländersagas, Rittersagas und Königssagas aufweisen, sich aber durch eine besondere Dominanz übernatürlicher, fabulierfreudiger und in der Tat märchenhafter Elemente auszeichnen. Rudolf Simek und sein Team ergänzen mit ihrem Buch unter diesem Titel die vor einigen Jahren erschienenen drei Bände der Sagas aus der Vorzeit  und beweisen einmal mehr, wie vielfältig, überraschend und auch heute noch lesenswert altnordische Literatur sein kann.

Die Saga von Bard, dem Schutzgeist des Snaefell, die den Band eröffnet, hat viel mit den Isländersagas gemein, handelt es sich bei dem titelgebenden Bard doch um einen frühen Siedler auf Island. Allerdings wird ihm eine Abstammung von Riesen und Trollen nachgesagt, und wie diese ist er eine bestenfalls ambivalente Gestalt: Mag er auch, nachdem er sich nach einem blutigen Racheakt an seinen minderjährigen Neffen, die das Abtreiben seiner Tochter auf einer Eisscholle zu verantworten haben, aus der menschlichen Gesellschaft zurückgezogen hat, zu einer Art oft rettend eingreifendem „Schutzgeist“ für die Bewohner der Gegend werden, neigt er auch weiterhin zu Fehlverhalten, wenn er etwa die blutjunge Tochter von Gastfreunden schwängert. Die Grenze zwischen mystischem Wesen und mit Vorsicht zu genießendem Gesetzlosen ist hier bestenfalls verschwommen, wenn überhaupt vorhanden.

Auch die darauf folgende Saga von Gold-Thorir könnte eigentlich fast eine klassische Isländersaga sein, handelt sie doch über weite Strecken von mehr oder minder realistischen Nachbarschaftskonflikten um Land und Vieh und den daraus resultierenden wilden Kämpfen. Aber der Protagonist Thorir gewinnt als junger Mann auf einer Reise nach Norwegen auf den Rat eines untoten Verwandten hin im Drachenkampf nicht nur einen Schatz, sondern auch magische Handschuhe, die gegen Kampfwunden feien. Das Ende der Geschichte ist leider nur unvollständig überliefert, so dass man nicht erfährt, wie es mit Thorir ausgeht.

Wirklich märchenhaft wird es dann in der Saga vom schönen Samson. Dieser, ein Sohn von König Artus, ist zwar kampfstark, aber sehr unbedarft. Kein Wunder also, dass er und die ähnlich naive irische Prinzessin Valentina, um die er wirbt, immer wieder in allerlei missliche Situationen geraten und es, nachdem es sie auf getrennten Wegen in die Bretagne verschlagen hat, mit üblem Trollzauber und einem finsteren Räuber, der es vor allem auf adlige Jungfrauen abgesehen hat, zu tun bekommen.

Noch abenteuerlicher und für die Begriffe der Zeit auch exotischer wird es in der spätmittelalterlichen Saga von Vilhjalm Sjod, auch wenn die Hauptfigur ebenfalls ein englischer Königssohn ist. Da er sich zu mehreren Schachpartien gegen einen Troll verleiten lässt und die entscheidende verliert, muss er, um seine Spielschulden zu begleichen und daneben seinen von Trollen entführten Vater zu finden, bis ins Innere von Afrika vordringen. Da er zudem um eine byzantinische Prinzessin wirbt und am Ende bis nach Babylon gelangt, ist der geographische Rahmen weit gespannt, und selbstredend braucht ein Held wie Vilhjalm auch den passenden Gefährten in Gestalt eines Löwen (ein Motiv, das man aus dem Iwein kennt). All das könnte in seiner Fülle etwas grotesk wirken, aber glücklicherweise nimmt die Saga von Vilhjalm Sjod sich selbst nicht allzu ernst und verrät durch viele augenzwinkernde Wendungen ans Publikum, dem abschließend sogar der Segen der Trolle gewünscht wird, dass es hier vor allem um den Spaß geht.

Spielte Byzanz schon in der letzten Geschichte eine Rolle, ist Die Saga von Damusti ganz dort angesiedelt und hat mit Damusti einen handfesten Antihelden zu bieten, der ohne Zögern eine Verschwörung anzettelt, um einen untadeligen Rivalen um die Gunst seiner Angebeteten umzubringen. Nicht nur die Tatsache, dass er diese sodann vor einem andersweltlichen Schurken rettet, sondern auch und vor allem seine intensive Marienfrömmigkeit bewahrt ihn davor, dauerhaft ein Schurke zu bleiben, und nach einer kurzen Zeit ehelichen Glücks beschließen seine Frau und er ihr Leben als christliche Büßer (eine Wendung, die auch aus realistischeren Sagas bekannt ist, wie etwa bei Thorstein und Spes in der Saga von Grettir dem Starken, hier aber besonders betont wird).

Die Saga von Vilmund Einzelgänger bringt den Titelhelden, einen Bauernsohn, in Kontakt mit zwei von ihrem Vater sehr ungleich behandelten Prinzessinnen, befasst sich daneben mit den Umtrieben eines finsteren Sklaven, der sich als böswilliger Zauberkundiger entpuppt, und weist zudem eine so ordinäre Schlussformel auf, dass diese in der Handschrift schamhaft gelöscht wurde und nur noch mittels moderner Technik lesbar ist.

Die Saga von Ali Fleck lässt ihre Titelfigur, einen als Säugling ausgesetzten Prinzen, oft in Situationen großer Hilflosigkeit geraten, da er bösartigen Verfluchungen zum Opfer fällt. Glücklicherweise findet er in Thornbjörg, der Königin der Tartarei, eine Frau, die entschlossen alles unternimmt, um ihn zu retten.

Einen ganz anderen Helden, der sich vor allem durch Gerissenheit und technisches Geschick auszeichnet, präsentiert Die Saga von Feilen-Jon, die allerdings leider auch einige innere Widersprüche aufweist und recht sonderbare geographische Vorstellungen zugrunde zu legen scheint (begonnen mit dem von einem öden Hochgebirge umgebenen ersten Handlungsort: Rouen in der Normandie). Nach der heimtückischen Tötung seines Vaters durch den finsteren Rodbert in die Obhut von Zwergen gelangt, findet Jon in dem ihm zunächst nicht allzu freundlich gesonnenen Königssohn Eirek einen Verbündeten und kann daran gehen, seine weiblichen Angehörigen aus Rodberts Gewalt zu retten und Rache zu nehmen.

Stärker um Verortung in der historischen Realität bemüht ist Die Geschichte von Thorstein Haushoch, wird doch Thorstein als Gefolgsmann einer historischen Gestalt, des Königs Olaf Tryggvason, eingeführt. Seine Abenteuer sind aber nicht weniger phantastisch als die der Helden der anderen Märchensagas, von einem Tischtuchraub aus der Unterwelt über eine Zwergenkindrettung und einen durch einen Unsichtbarkeitszauber sehr erleichterten Besuch im Riesenreich bis hin zur Konfrontation mit einem als Wiedergänger aus seinem Grabhügel zurückkehrenden Schwiegervater.

In derselben Epoche ist auch Die Geschichte von Helgi, Thorirs Sohn angesiedelt, doch in diesem kurzen Text verläuft der Kontakt mit dem andersweltlichen Reich des auch schon in der vorherigen Saga erwähnten Herrschers Gudmund weitaus unersprießlicher für den menschlichen Protagonisten, der sein Abenteuer mit seinen Augen bezahlt und kein hohes Alter erreicht.

Ebenfalls im Umfeld von Olaf Tryggvason spielt Die Geschichte von Thorstein Ochsenbein, deren Held zunächst als uneheliches Kind auf Island ausgesetzt, nach seiner Rettung aber doch noch mit einigen Jahren Verspätung von der Familie seiner Mutter angenommen wird. Als junger Mann gelangt er nach Norwegen in die Heimat seines Vaters und übersteht dort mit einem Gefährten nur deshalb mit knapper Not einen Kampf gegen eine gefährliche Trollfamilie, weil er im richtigen Augenblick zum christlichen Glauben findet. Unter Androhung roher Gewalt kann er nun endlich doch noch erreichen, dass sein Vater ihn anerkennt, ist aber gegen Missgunst im Gefolge des Königs nicht gefeit.

Am Hofe Olaf Tryggvasons verortet ist auch Die Geschichte von Thorstein Schreck und stellt das christliche Element noch stärker in den Vordergrund als die bisher erwähnten Sagas, aber auf äußerst bizarre Art: Hier wird dem Helden fast ein nächtlicher Gang zum Abort zum Verhängnis, begegnet er doch dort einem Dämon aus der Hölle, mit dem er ein sehr schwarzhumoriges Gespräch über das Schicksal der ewigen Verdammnis anheimgefallener heidnischer Helden führt, bevor er durch einen Trick seine indirekte Rettung durch den König bewirken kann.

Ähnlich kurz ist Die Geschichte von Toki, Tokis Sohn, der als uralter Mann zu Olaf dem Heiligen gelangt und ihn, nachdem er ihm von seinen Erlebnissen mit Helden der Vorzeitsagas berichtet hat, um die Taufe bittet.

Historisch weiter zurück führt, nur fragmentarisch erhalten, Die Saga von Harald Kampfzahn, in der eher legendäre als historisch wirklich fassbare Könige des schwedischen und dänischen Frühmittelalters im Mittelpunkt stehen. Nach dem frühen Verlust seines Vaters durch die Ränke seines Großvaters mütterlicherseits wird Harald Kampfzahn schon mit fünfzehn Jahren König und herrscht bis ins unwahrscheinlich hohe Alter von hundertfünfzig Jahren, in dem er dann die von zahlreichen auch aus anderen Sagas bekannten Helden bestrittene Schlacht von Bravellir gegen seinen Neffen anzettelt, um ehrenvoll zu fallen und der Ermordung durch seine eigenen Gefolgsleute, denen er zu greisenhaft geworden ist, zu entgehen.

Den Abschluss der Sammlung bilden drei sehr kurze Texte (Wie Norwegen besiedelt wurde, Die Entdeckung Norwegens und Über die Könige der Upländer), die in einer Mischung aus ätiologischen Sagen und pseudohistorischen Genealogien eine sagenhafte Vor- und Frühgeschichte Skandinaviens schildern – einschließlich so mancher Merkwürdigkeiten (wie der als Strafe für die Bewohner gedachten Einsetzung eines Hundes zum Unterkönig eines bestimmten Gebiets oder eines ausführlichen Stammbaums, der die Abstammung des historischen Königs Harald Schönhaar über die altnordischen Götter und König Priamos von Troja auf Adam als ersten Menschen zurückführt).

Jeder Saga ist eine kurze Einführung vorangestellt (den letzten dreien eine gemeinsame), die nicht nur Angaben über die Entstehungszeit macht, sondern oft auch bestimmte inhaltliche Motive und Verbindungen zu anderen literarischen Texten knapp erläutert. Zusätzlich runden einzelne Stammtafeln, eine Karte des nordeuropäischen bis -atlantischen Teils des Handlungsraums, ein Glossar und umfangreiche Register den Band ab.

Da die Übersetzungen sich wie gewohnt flüssig und eingängig lesen, ist auch für alle, die eher am Unterhaltungswert als an der literaturhistorischen Bedeutung der Sagas interessiert sind, eine vergnügliche Lektüre möglich. Allerdings muss man darauf gefasst sein, es eben nicht nur mit den im landläufigen Sinne „typischen“ Sagas nach dem Muster der Isländer- und Vorzeitsagas zu tun zu bekommen, sondern auch mit Texten, die in bestimmten Elementen eher der west- und mitteleuropäischen Literatur des Hoch- und Spätmittelalters nahestehen. Das allerdings schmälert den Lesegenuss keineswegs, sondern macht nur deutlich, wie variabel die Gattung „Saga“ ist.

Rudolf Simek, Jonas Zeit-Altpeter, Valerie Broustin (Hrsg.): Märchensagas. Von Trollen, Rittern, Prinzessinnen und Königen. Unter Mitwirkung von Maike Hanneck und Benedikt Hufnagel. Stuttgart, Kröner, 2022, 496 Seiten.
ISBN: 978-3-520-61801-6

 


Genre: Anthologie, Erzählung, Märchen und Mythen

Sehnsucht

Das Wesen der Sehnsucht ist wohl, dass sie keine mehr ist, sobald sie gestillt werden kann – kein Wunder also, dass dies oft um einen selbstzerstörerischen Preis geschieht. In all ihrer Widersprüchlichkeit ist sie das titelgebende Phänomen für einen Reigen von acht Geschichten, die Annette van den Bergh nicht nur durch das übergreifende Thema, sondern auch durch vielfältige Beziehungen der jeweiligen Ich-Erzählerfiguren untereinander und wiederkehrende Motive eng miteinander verknüpft. Neben den Personen ist ein zentrales verbindendes Element der oft erfolgende Blick in den Spiegel, literarisch von jeher ein Bild der Selbsterkenntnis, die sicher auch das Eingeständnis oft durchaus fataler Sehnsüchte mit einschließt.

Den zutiefst verstörenden Einstieg bildet Klaras Gedanke: Die Titelfigur – die mit klarem, analytischem Blick ihre Umgebung und sich selbst zu sezieren weiß und doch eine Getriebene ist – wird zum Opfer eines schockierend intensiv geschilderten sexuellen Übergriffs und meint, ihn selbst durch einen am ungestraften eigenen Glück zweifelnden Gedanken ausgelöst zu haben.

Golo, der Maler kann nicht nur auf ein Verhältnis mit Klara zurückblicken, sondern hat und hatte auch Beziehungen zu mehreren weiteren Erzählerfiguren, von denen eine, Annalena, Mutter seines Sohnes wurde, zu dem er jedoch keinen Kontakt pflegt, weil ihn das nicht von ihm selbst auf der Leinwand kontrollierte Leben in all seiner Dreckigkeit und Prallheit überfordert. Kein Wunder, dass er am besten mit Kunstfiguren, die sich jeweils selbst erschaffen haben, wie seinem Lieblingsmodell, dem Transvestiten Bella, und seiner aktuellen Geliebten, der einäugigen Journalistin Carlotta, zurechtkommt.

Anders als in Golos Geschichte tritt Annalena Bergengruen in ihrer eigenen nicht primär als Mutter, sondern als Tochter auf, die sich selbst als gescheiterte Existenz begreift und deren Abschied von ihrer eigenen todkranken Mutter, der sie attestiert, auch vermeintlich liebevolle Gesten nur als Werkzeug von Dominanz und Kälte zu gebrauchen, seine Tücken hat. Ob Annalena die von Anfang an unbedingt angestrebte Abnabelung und Distanzierung wirklich gelingt, darf jedoch gegen Schluss bezweifelt werden, denn hier ist der wiederkehrende Blick in den Spiegel noch entlarvender als in den meisten anderen Fällen.

Bella dagegen hat in Green Eyes das Gesuchte gefunden (oder will und muss sich das zumindest selbst einreden) – genderfluid und etwas esoterisch angehaucht, weht die schrillbunte Erzählerfigur (begleitet von Mops Odin) einmal wie eine Windböe durchs Buch und scheint einen für sie selbst besser funktionierenden Umgang mit dem allgemeinen Elend erreicht zu haben als manch ein vermeintlich normalerer Zeitgenosse.

Nicht weniger als Bella zur Selbststilisierung neigt One-Eyed Carlotta, aber mit weitaus düstereren Untertönen, hat die erfolgreiche Journalistin ihre Einäugigkeit doch sich selbst zu verdanken und schreibt ihrem Hang, sich in großen Auftritten selbst zu verwirklichen, sogar den Tod ihres Bruders zu. Die Funktion, die der Spiegel hier übernimmt (der dann auch, gewiss nicht ohne Symbolkraft, zerschmettert wird), lässt schaudern.

Auch Lehrer und Literat Felix im Glück, den man bei Golo schon kurz als Anhängsel von Bella kennengelernt hat, ist nicht gar so glücklich, wie der Titel seiner Geschichte suggerieren könnte. Zwar ist ihm die ersehnte Vollendung seines Buches geglückt, aber ausgerechnet in diesem Augenblick des Triumphs kehrt die Erinnerung an den Selbstmord seiner Freundin, der Sängerin Juliana, mit aller Macht zurück. Dass er sich selbst für so viel klüger als sie hält, wirkt dann doch ein wenig wie das Pfeifen im Dunkeln.

Das Haus rückt ebenfalls in einer Nebenrolle in Golos Geschichte aufgetretene Figuren in den Mittelpunkt und bildet über dieses Buch hinweg eine Klammer zu Annette van den Berghs zweitem Sammelband Lost Paradise, in dem auch ein Beitrag den Titel Das Haus trägt und aus anderer Perspektive und mit einigen inhaltlichen Abweichungen ganz ähnlich vom Scheitern einer Ehe und vom beiderseitigen Festhalten am gemeinsamen Haus erzählt, als handele es sich um unterschiedliche Varianten ein- und derselben Geschichte.

Den Abschluss bildet Sehnsucht, die atemlos-poetische Schilderung eines gefährlichen Hinauswagens ins Meer, die nicht allein durch ihre Anklänge an Andersens Kleine Meerjungfrau einen symbolischen Charakter gewinnt und die Risiken von (Todes-)Sehnsucht angesichts eines als grau empfundenen Lebens offenbart.

Die nicht nur diese eine Geschichte durchstreifende Meerjungfrau ist nicht die einzige Entlehnung aus Kunst und Kultur. Der Wegweiser aus Schuberts Winterreise hat ebenso wiederkehrende Auftritte wie die antike Mythologie, und so ist es eine an Anspielungen und Sprachkunst reiche Welt, in der Annette van den Berghs einsame und doch verbundene Protagonisten ihr innerlich oft erschreckend armes Leben führen. Auf leichte Art vergnügliche Lektüre, die es ihrem Publikum und ihren Figuren einfach macht, darf man hier nicht erwarten, aber doch zahlreiche Denkanstöße, ob das vermeintlich Ersehnte – ob im Buch oder im eigenen Leben – wahrhaftig so erstrebenswert ist und ob man nicht mit der letzten Geschichte doch lieber den Rückweg aus dem verführerischen Sehnsuchtsblau ins tragfähige Grau des Alltags mit all seinen Fehlern und Schwächen antreten sollte.

Annette van den Bergh: Sehnsucht. Norderstedt, Books on Demand, 2021, 116 Seiten (E-Book, auch als Taschenbuch erhältlich).
ISBN: 978-3-7322-5982-3


Genre: Anthologie, Erzählung

Der Fluch des Spielmanns

In den frühmittelalterlichen Alpen wird der Gaukler Corvin vom Pech verfolgt: Nicht genug damit, dass er vor kurzem einen herben Verlust erleiden musste, nun liegt er mit gebrochenem Bein in der bescheidenen Bleibe des alten Einsiedlers Goan und muss sich noch dazu mit drei sehr beharrlichen Geistern herumschlagen, die ihm für den Fall, dass er nicht tut, was sie von ihm verlangen, Böses androhen. Goans Fragen (und sein Bier) locken schließlich die Geschichte, was es mit den dreien auf sich hat, aus seinem verletzten Gast hervor, aber kann und soll er wirklich auf das Anliegen der Gespenster eingehen?

Der Titel von Nike Leonhards Erzählung Der Fluch des Spielmanns evoziert vielleicht nicht ganz zufällig Des Sängers Fluch, denn hier wie dort geht es um die prekäre Situation Fahrender, die auf die Gunst wohlhabender und mächtiger Sesshafter angewiesen sind, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, gleichzeitig aber auch immer damit rechnen müssen, zu Opfern von Willkür zu werden. Leonhard gelingt dabei das Kunststück, das Gauklerdasein, das sich aus schierer Not immer an der Grenze zur Legalität bewegt, nicht zu verklären, wie es in romantisierenden Mittelalterdarstellungen oft der Fall ist, aber dennoch auch seine schönen Augenblicke wie die Freude über einen gelungenen Auftritt und einen mühsam erhaschten kleinen Fetzen des guten Lebens greifbar zu machen. Doch auch abseits der fahrenden Spielleute aus Corvins Wahlfamilie fließen so viel Wissen über und Begeisterung für das Mittelalter, seine Alltagskultur und seine Rechtsvorstellungen in die Erzählung mit ein, dass die geschilderte Welt, in der christliche und pagane Überzeugungen noch nebeneinander existieren, ungemein glaubhaft wirkt.

Die Ausgangssituation – ein auf sich gestellter Held, der sich durch sein eigenes Verhalten unabsichtlich gewaltige Schwierigkeiten auch übernatürlicher Natur eingebrockt hat, aber durch einen Aufenthalt bei einem Eremiten Gelegenheit hat, seinem Leben eine andere Wendung zu geben – erinnert ein wenig an eine der Schlüsselstellen im Parzival Wolframs von Eschenbach, aber ob Goan eine adäquate Besetzung für die Rolle des Trevrizent ist, darf man durchaus hinterfragen. Denn auch mit dem in Glauben und Aberglauben gleichermaßen kundigen Einsiedler hat es mehr auf sich, als man zunächst vermuten könnte, und so nimmt die Geschichte gegen Ende eine unerwartete Wendung.

Eine Besonderheit der Erzählung ist das ausführliche Nachwort, in dem Leonhard nicht nur den historischen Hintergrund (und einige bewusste Abweichungen davon) und literarische Anklänge (eine Ahnin von Victor Hugos Djali aus dem Glöckner von Notre-Dame hat im Buch einen Auftritt) detailliert erläutert, sondern auch die Inspiration zu der Geschichte, die ein archäologischer Fund lieferte: In einem abgelegenen Berggebiet stieß man auf drei Tote aus der Zeit um 800, die offensichtlich gewaltsam ums Leben gekommen und höchst irregulär abseits aller damaligen Siedlungen bestattet worden waren (dass es sich um den Fund von Falein in der Schweiz handelt, wird zwar nicht explizit gesagt, ist aber aufgrund der Beschreibung wahrscheinlich).

So ist die traurige, aber nicht ohne jede Hoffnung endende Geschichte eine spannende und auch sprachlich gelungene Mischung aus Spuk und Grusel, dem Ausloten des historisch Möglichen und einem Anflug von Bewunderung für all diejenigen, die durchs Raster einer Gesellschaft fallen, sich aber auf die ein oder andere Art clever durchzuschlagen wissen und zusammen vielleicht mit etwas Glück zumindest für eine Weile stark genug sein können, um unter widrigen Umständen zu bestehen.

Nike Leonhard: Der Fluch des Spielmanns (Codex Aureus 3). Frankfurt 2016 (E-Book).


Genre: Erzählung

The Little Cozy Book

Hexen, Halunken, Barbaren, Fabelwesen und höhere Mächte bevölkern die Fantasy seit jeher, aber wie düster die Welten, die sie durchstreifen, und ihre abenteuerlichen Erlebnisse sind, schwankt beträchtlich. The Little Cozy Book bietet eine Sammlung von Kurz- und Kürzestgeschichten, die, abgesehen von vier vorher unveröffentlichten Texten, zuerst im Onlinemagazin Wyngraf erschienen sind und überwiegend die hoffnungsvollen, sympathischen und alltäglichen Aspekte des Genres betonen.

Wie Herausgeber Nathaniel Webb in seinem Vorwort erläutert, geht die Idee, in Wyngraf eine Reihe von Flash Fiction zum Thema Cozy Fantasy zu veröffentlichen, ursprünglich auf eine scherzhaft gemeinte Geschichte von Frederick Sheilira zurück, die augenzwinkernd ausgerechnet das oft mit Pulp, Actionlastigkeit und einer zynischen Weltsicht assoziierte Subgenre Sword & Sorcery in einer doch eher freundlichen und idealistischen Cozy-Variante präsentiert und unerwartet ein großer Erfolg war.

Der so entstandene Text, The Cat and the Conerian, bildet dementsprechend auch den Auftakt der Anthologie und lässt einen Barbarenhelden entdecken, dass die in seiner Stammtaverne ansässige Katze in Nöten ist, wovor er natürlich nicht einfach die Augen (und Ohren) verschließen kann.

Etwas boshafter kommt Billable Hours for the Disputed Rights of the Chosen One von L Chan daher, eine sehr spezielle Anwaltsrechnung, die ihren Humor daraus gewinnt, juristische Terminologie (und überhaupt die Idee eines Vorgehens auf dem Rechtsweg gegen einen Rivalen) mit einem generischen Fantasyplot zu verknüpfen.

Up by the Gryphon von Jonathan Olfert dagegen verdient die Bezeichnung „cozy“ wieder voll und ganz, wenn ein in einem Unwetter im Haus eines Igels gestrandeter Mäusegauner nolens volens eine unerwartete Läuterung durchmacht.

Im Gegensatz dazu lebt The 57th Daughter von Neil Wilcox primär von der auch für alle Beteiligten unerwarteten Lösung, die Titelfigur für die Bedrohung eines Dorfs durch einen Wassergeist findet.

George Jacobs schildert in A Stubborn Friend das Abenteuer eines Imkers, dessen Weg zu einer Hochzeit im Nachbardorf nicht ganz so verläuft wie geplant, aber natürlich – da der grummelnde Held Hamsten trotz alles Fluchens ein gutes Herz hat – nicht völlig ins Verderben führt.

Jo Miles spielt in The Skycalled Will Save the World mit der Genrekonvention der Prophezeiung, die eine spezifische Person zur Weltrettung auserwählt, hier aber innerhalb der Geschichte sehr gezielt eingesetzt wird, wie die Erzählerfigur zu ihrem Entsetzen erfahren muss.

Sam Lesek lässt in On a Snowy Evening ein schauriges Totenheer aufziehen – aber zum Glück nicht nur für den kleinen Jungen, der es erspäht, weiß seine alte Großtante ganz genau, wie in einer solchen Situation zu verfahren ist, und so nimmt das, was auch zu blankem Horror getaugt hätte, eine sehr liebenswerte Wendung.

Up the River, Over the Mountains, Across the Sea von Jenna Hanchey erörtert melancholisch, wenn auch nicht ohne Hoffnung die Frage nach der nicht immer eindeutig männlichen oder weiblichen Geschlechtsidentität. Kann eine Fee hier für eine vom Leiden unter gesellschaftlichen Vorurteilen und Unverständnis gebeutelte Person Abhilfe schaffen?

Leichtfüßiger und heiterer kommt Miranda Rays Knight of the Wandering Spring daher. Ein Drache und ein Ritter sind hier Verbündete und nutzen die Eigenschaften des Drachen für ein spezielles Dienstleistungsangebot, erleben dabei aber eine handfeste Überraschung.

Amüsant geht es auch in Toby Anthony Rossers The Witch Box zu, allein schon durch die ebenso witzige wie sozialkritische Erzählstimme der kriminellen Hilfe, die ein windiger Geschäftsmann anzuheuern versucht, um den titelgebenden Gegenstand zu stehlen.

J. Thomas Howards The Flower Knight handelt von einem kleinen Jungen aus einfachsten Verhältnissen, der in seinem kindlichen Spiel die Ritterrolle etwas zu ernst nimmt und gegen einen übermächtigen Gegner als wackerer Beschützer einer Frau auftritt – mit weitreichenden Folgen.

Sheila Massie lotet in Iai, Iai, Mele (Listen, Listen, Child) den Umgang unterschiedlicher Generationen und ein- und derselben Figur in verschiedenen Lebensaltern mit der Überlieferung einer scheinbar untergehenden Kultur und verheerenden Wetterphänomenen aus. Parallelen zu Problemen unserer heutigen Welt lassen sich hier sehr deutlich ziehen.

In See No Evil hat die junge Cecilia es in ihrer magischen Ausbildung nicht leicht, weil sie nicht so wie alle anderen sieht und darauf von ihrer Umwelt wenig Rücksicht genommen wird. Doch in einer besonderen Situation erweist sich die Behinderung dann sogar als ungeahnter Vorteil.

Etwas unheimlicher wird es in Ian Martínez Cassmeyers folktalehaft anmutender Geschichte Tata Duende’s Soothing Song, denn hier lauern im Wald Gefahren, denen die junge Herrera nur mithilfe eines übernatürlichen Wesens entgehen kann.

Jess Hyslop dagegen ist in The Wood-Folk Do Not Want to Marry You alles andere als bemüht, einen authentischen Märchen- oder Sagenton zu treffen, sondern zieht allerlei Motive, die für die insbesondere der Romantasy populären Liebesgeschichten zwischen einer Menschenfrau und einem Elfenwesen typisch sind, gnadenlos durch den Kakao.

Bei Stew Shearer ist The Sword of Our Fathers das Objekt der Begierde, um das zwischen einem alten Haudegen und einem idealistischen Jüngling ein Duell ausgefochten wird, das keinen so üblen Ausgang nimmt, wie man zunächst befürchten könnte.

Ziggy Schutz führt mit der Überschrift A Wolf in Sheep’s Clothing gezielt ein wenig in die Irre, denn was sich sonst als „Wolf im Schafspelz“ übersetzen ließe, ist hier wörtlicher zu nehmen und Teil einer sanften Liebesgeschichte zwischen zwei Frauen, die eben jeweils genau das sind, was die Überschrift verrät.

In Simon Kewins The Great Spell steht der alte Magier Feyrlin kurz vor der seit langem angestrebten Weltrettung. Doch ein entscheidendes Element zu seinem Zauberspruch fehlt ihm noch und ist nur durch eine ganz besondere Erkenntnis zu erlangen.

Nathaniel Webbs Beitrag Iron Harvest führt ins arkadische Idyll einer ländlichen Gemeinschaft, in der Krieg allenfalls noch ein fernes Gerücht ist und Bauer Boric etwas, das er auf seinem Acker findet, entsprechend erst nicht einordnen kann.

Eine ganz andere Welt schildert Jennifer Hudak in Fragile: Zwei sehr gegensätzliche Frauen, die für einen sonderbaren Zirkus arbeiten, finden hier zueinander, und eine von ihnen lernt nicht nur mit ihrer äußerlichen Zerbrechlichkeit umzugehen, sondern auch zu erkennen, dass ihr eigener Wert sich nicht auf ihre Nützlichkeit beschränkt.

Dawn Vogels Erzählerfigur in The Truth of Their Tunes nimmt ganz spezielle Melodien wahr und wird so in einer an ein Rollenspielsetting gemahnenden Fantasytaverne zur helfenden Instanz für einen buntgemischten Abenteurertrupp.

The Knowing von Jamey Toner ist einer der düstersten Beiträge der Anthologie, und inwieweit der harte Kampf eines Barden gegen eine Dämonin noch so recht unter „Cozy Fantasy“ fällt, ist sicher Geschmackssache, werden hier die Elemente, die typische coziness ausmachen, doch eher als Waffe eingesetzt denn um ihrer selbst willen geschildert.

In The Last Night von Gregory Kilcoyne wiederum sind diese Elemente quasi schon die Handlung, die sich auf die Schilderung eines speziellen Rituals, das die Wesen eines ganzen Waldes zusammenströmen lässt, beschränkt.

Cora Buhlert zeigt in A Cry on the Battlefield wieder einmal, dass ihr Barbarenfiguren liegen. Hier ist es der Krieger Jalkar, der auf einem Schlachtfeld eine überraschende Entdeckung macht, eine – zumindest im einen Auge seines Söldnerkameraden Skuffcor – ungewöhnliche Entscheidung trifft, wie er weiter damit verfahren soll, und so unerwartet viel Wärme in eine ansonsten ziemlich finstere Lage bringt.

Der Protagonist von Patricia Millers Dreaming of Violets hingegen hat seine Kämpfertage schon längst hinter sich, sieht den Krieg mittlerweile sehr kritisch und hadert damit, dass eines seiner Kinder sich eine militärische Laufbahn nicht hat ausreden lassen – kann das ein gutes Ende nehmen?

Auch in She Waits, Having Breathed Love on the Salt Air von Amanda Cook geht es um die Sorge um einen geliebten Menschen, der sich fern der Heimat Gefahren stellen muss, aber hier wird mit vielen Odyssee-Anklängen ganz bewusst Magie gewirkt, um eine glückliche Rückkehr zu garantieren.

Banaleren Problemen sieht sich in L. D. Whitneys Moving Day der starke Barbar Hrok gegenüber: Ein Umzug steht an, aber obwohl er selbst stets hilfsbereit ist, fällt es ihm alles andere als leicht, die nötige Unterstützung zu organisieren …

In Tonfall und Thematik decken die verschiedenen Beiträge also eine große Bandbreite ab, aber fast allen ist tatsächlich gemeinsam, dass sie Welten schildern, in denen man sich durchaus wohlfühlen könnte. Viele von ihnen kombinieren daneben Klassisches bis Nostalgisches mit einem Schuss Moderne (wie etwa einer merklichen Diversität hinsichtlich der sexuellen Orientierung oder dem Hinterfragen von Rollenzuschreibungen an ganze Fantasyvölker). Welche Geschichten zu den eigenen Favoriten zählen, hängt sicher in hohem Maße vom subjektiven Geschmack ab, aber eine gute Möglichkeit, viele verschiedene Federn der englischsprachigen Fantasy auf einmal kennenzulernen, ohne sich dabei durch ein dystopisches Szenario nach dem nächsten quälen zu müssen, bietet The Little Cozy Book auf alle Fälle.

Nathaniel Webb (Hrsg.): The Little Cozy Book. The Best of Flash Fiction from Wyngraf. Ohne Ort, Young Needles Press, 2023 (E-Book; auch als Taschenbuch erhältlich, ISBN der Printausgabe: 979-8-3900-1734-0).


Genre: Anthologie, Erzählung

Der Atem des Drachen

Zauberkräftige Feen, hilfreiche Hexen, sanfte Männer, findige Frauen, bestrafte Bösewichte und nicht zu fassende Wolkenschafe: Nike Leonhard erzählt in Der Atem des Drachen sieben Märchen, die auf den ersten Blick wie traditionelle Vertreter ihres Genres anmuten könnten, es auf den zweiten aber dann doch nicht sind. Machtverhältnisse und Geschlechterrollen werden ebenso hinterfragt wie klassische Erzählmuster, und so kann sich hier auch schon einmal eine lesbische Liebesgeschichte ergeben oder die Erkenntnis warten, dass eine Heirat nicht das Ziel aller Träume sein muss.

Der Segen der Fee wird zum Einstieg auf sehr spezielle Weise einem Unsympathen zuteil, der die Erfüllung dreier nicht unbedingt gut durchdachter Wünsche erzwingt, die nicht ohne Konsequenzen bleibt.

Auch im folgenden Märchen Der Fischer und die Nixe findet eine Begegnung zwischen einem Menschenmann und einem übernatürlichen Wesen statt, aber da der Protagonist charakterlich nicht so geartet ist wie der der ersten Geschichte, nimmt alles einen anderen Ausgang.

Dagegen erweist sich Die Flut nach vermeintlich klassischem Beginn als eine ins Märchengewand gehüllte Kritik an den aktuellen Problemen um die Bewältigung der Klimakrise: Verkürzt ausgedrückt weigert sich hier die Politik, Maßnahmen gegen eine sich ankündigende Naturkatastrophe zu ergreifen, mit erwartbaren Folgen.

Der Atem des Drachen, der auch den Titel für die ganze Sammlung liefert, bietet nicht nur den in ein scheinbar ganz typisches Questenabenteuer ausziehenden jüngsten Sohn aus bescheidenen Verhältnissen, sondern mit der Verwandlung einer Person in eine Statue und dem in der mittelalterlichen Literatur gar nicht einmal so seltenen Motiv, dass sich in einem Drachen in Wahrheit ein Mensch verbirgt, noch weitere vertraute Elemente, die aber, originell kombiniert, auf ein Ende hinführen, das man so vielleicht nicht erwartet hätte.

Auch bei Prinzessin Furiosa bildet ein klassischer Baustein – das Turnier, bei dem ein passender Ehepartner für eine Prinzessin bestimmt werden soll – den Ausgangspunkt, allerdings mit der Besonderheit, dass es hier die Prinzessin selbst ist, die auf diesem Weg jemanden mit ganz speziellen Eigenschaften finden möchte. Jemand, der als der Bunte Hund bekannt ist, aber stets nur maskiert auftritt, erfüllt ihre Anforderungen mühelos, doch es gibt ein Geheimnis, das dem glücklichen Ende im Weg stehen könnte.

Bei Dunkelschön oder: Die verschwundene Kiste hat man den Eindruck, dass hier die Geschichte von den drei Äpfeln aus Tausendundeine Nacht Pate gestanden haben mag: Ist es dort der Wesir, dem der Kalif mit der Hinrichtung droht, wenn er ein Verbrechen nicht aufklärt, sieht sich hier der Schatzkanzler einer Königin mit dem gleichen brutalen Ultimatum konfrontiert. In beiden Fällen ist es eine Tochter des unglücklichen Hofbeamten, die schließlich hilft, die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen, allerdings im Fall der hier titelgebenden Dunkelschön wesentlich aktiver und um eine märchentypische Prüfung nach dem Muster der Sechs Schwäne ergänzt. Zugleich wird der Bogen zur ersten Geschichte zurückgeschlagen, denn wie genau deren Ende sich ergeben hat, erfährt man hier ebenfalls.

Den Abschluss bilden die Wolkenschafe, in denen das geläufige Motiv, dass einem Bewerber um die Hand einer Frau eine schier unmögliche Aufgabe zur Bedingung für die Heirat gemacht wird, in kreativer Weise zum Einsatz kommt.

Nike Leonhard schreibt sprachlich gewandt und trifft den überkommenen Märchentonfall gut, nur um ihn hier und da gezielt etwa mit einem „Sag’ mal, spinnst du?“ zu torpedieren, das überdeutlich macht, dass der Blickwinkel ein moderner ist und immer wieder auch dezidierte Sozialkritik geübt wird. Spaß machen die eingestreuten literarischen Anspielungen, denn neben kleinen Hinweisen etwa auf Rotkäppchen oder Moby Dick begegnet einem auch d’Artagnans sehr spezielles Pferd aus den Drei Musketieren wieder, das diesmal aber das Glück hat, bei einem rücksichtsvolleren und netteren Menschen gelandet zu sein.

Ohnehin wird immer wieder Sympathie für diejenigen deutlich, die Mensch und Tier freundlich und respektvoll behandeln und in materieller Hinsicht bescheiden bleiben, statt auf zu Lasten anderer gehenden Reichtum und Luxus aus zu sein. Eine äußerliche Besonderheit des Buchs sind die jeder Geschichte vorangestellten Bilder, die nicht den jeweiligen Text illustrieren, sondern als symbolische Content Notes dienen (der Schlüssel dazu ist hinten im Buch abgedruckt). Wer Wert auf Inhaltswarnungen legt, wird also fündig, während alle anderen zumindest Spaß an den niedlichen Kaninchen, Mäusen & Co. haben dürften.

Nike Leonhard: Der Atem des Drachen. Neue Märchen. Norderstedt, BoD, 2023, 204 Seiten.
ISBN: 978-3-7481-3331-5


Genre: Anthologie, Erzählung, Märchen und Mythen

Das Lied der Tollpatsche

Die Friedensfestspiele sind das Großereignis im Herbstgebirge: Angehörige der unterschiedlichsten Völker kommen hier zusammen, um Handel zu treiben und einen Sängerwettstreit auszutragen. Erle Zapf, die zu den von Zwergen und Menschen abstammenden Dappen gehört, ist allerdings nicht in Feierlaune. Dass ihr Vater unbedingt die Gelegenheit nutzen will, einen Ehemann für sie zu suchen, verdirbt ihr die Stimmung gründlich. Mit ihrem kleinen Neffen Brun eine Runde über den Markt zu drehen und dabei Ausschau nach der Zwergenfrau Nork zu halten, in die sie heimlich verliebt ist, bietet eine willkommene Abwechslung. Doch das Wiedersehen mit Nork verläuft nicht wie erhofft, und dann kommt auch noch Brun im Gedränge abhanden. Erle muss sich auf die Suche nach ihm machen und gerät in ein Abenteuer, das ihr Leben von Grund auf verändern wird …

Iva Moor erzählt in Das Lied der Tollpatsche eine sympathische Geschichte, in der eine junge Frau trotz aller Vorurteile zwischen den einzelnen Gemeinschaften und innerhalb davon lernt, ihren eigenen Weg zu gehen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf inneren Entwicklungen und zwischenmenschlichen (bzw. -dappischen und -zwergischen) Beziehungen, denn auch wenn im Zuge von Bruns Verschwinden durchaus eine lebensgefährliche Situation zu bewältigen ist, sind ihre langfristigen Auswirkungen auf Erle und Nork und das Verhältnis der beiden zueinander weit zentraler als jede vordergründige Action. Dass manches aufgrund der Kürze der Geschichte, die nur etwa 30 Seiten umfasst, eher angedeutet als detailliert ausgeführt ist, schadet nicht, denn Ivar Moor versteht sich darauf, auch in kleine Gesten und Bemerkungen viel zu legen und ihr Lesepublikum daraus seine Schlüsse ziehen zu lassen.

Neben der einfühlsamen Figurenzeichnung liegt die Stärke der Erzählung in ihrem Weltenbau, der jede Menge netter Einfälle bietet. So lernt man nicht nur die im Textilhandwerk höchst erfolgreichen, aber ansonsten unter den Zwergen als Tollpatsche verschrienen Dappen kennen (die etymologisch vielleicht mit dem Dilldapp verwandt sind), sondern auch geschlechtsspezifische zwergische Bartmoden, eine ganz besondere Wirkung von Musik und Norks als Spürhundersatz dienendes Pirkel (eine ebenso niedliche wie charaktervolle Mischung aus Hermelin und Schweinchen).

Als schnelle Lektüre für zwischendurch, die einen an die schönen und fabulierfreudigen Seiten eines heute oft auf düstereren Wegen wandelnden Genres erinnert, ist Das Lied der Tollpatsche daher genau richtig und macht Lust auf mehr aus Iva Moors Feder.

Iva Moor: Das Lied der Tollpatsche. Wien, Littera Magia, 2021 (E-Book).
ISBN: 978-3-9864-7774-5


Genre: Erzählung

Dies ist mein letztes Lied

Ein im wahrsten Sinne des Wortes allumfassendes System mächtiger Wirtschaftskonzerne, so gut wie keine Auf- und Ausstiegschancen für deren Angestellte, aber in bescheidenem Rahmen Brot und Spiele für die Ausgebeuteten: Es ist eine zwar in manchen Belangen (etwa bezüglich der selbstverständlichen Anerkennung verschiedener Geschlechtsidentitäten) progressive, insgesamt aber doch dystopische Zukunft, durch die in Lena Richters Dies ist mein letztes Lied jemand namens Qui – was sich nicht ohne Grund mit „Wer?“ übersetzen lässt – musizierend und geschunden streift, ohne viel über sich preiszugeben, obwohl die Öffentlichkeit und die große Bühne immer wieder Handlungsort sind.

Schon der Einstieg bietet höchstpersönliche Magie als Massenevent: Ein letzter Auftritt der Ich-Erzählerfigur vor Publikum soll ein zu durchschreitendes Portal öffnen, das aus dieser Welt hinausführt. Das wird zum Anlass, zurückzublicken und sich an die vorhergehenden Lieder und Portale zu erinnern, die Qui an diesen Punkt gebracht haben. Dementsprechend auch nicht in Kapitel, sondern in Auftakt, unterschiedliche Lieder und ein Schlussstück gegliedert, spricht das Buch trotz seines ebenso bunten wie bedrückenden futuristischen Settings Probleme der Gegenwart an, von der oft als sinnlos empfundenen Angestelltenexistenz über verfahrene Konflikte bis hin zum menschenverachtend gleichgültigen Umgang mit Krisen und deren Opfern.

Das zu Beginn von Quis Geschichte evozierte Gefühl, in einem unbefriedigenden, von fremden Interessen bestimmten Leben gefangen zu sein, und die eskapistische Phantasie, auf unerklärliche Art plötzlich die Chance zur Flucht daraus geboten zu bekommen, können sicher viele Menschen nachvollziehen. Aber so leicht, das Durchschreiten eines magischen Portals zur Lösung aller Probleme werden zu lassen, macht Lena Richter es weder ihrem Publikum noch ihrer Hauptfigur, denn auch abgesehen von allen schmerzlichen Abschieden kann man rasch vom Regen in die Traufe geraten.

So bekommt Qui es im Laufe der Reise durch immer neue Türen mit Krieg, widrigen Umweltbedingungen, im Kälteschlaf Reisenden auf einem Raumschiff, landschaftlich beeindruckender, aber bedrohter Natur, Alltagstristesse, einer planetenweiten Katastrophe, einer virtuellen Welt mit ganz realen Gefühlen und Gemeinschaften, lebensbedrohlicher Einsamkeit, einer ureigene Bedürfnisse erstickenden Normalität und letztendlich hohlem Erfolg zu tun. Trotz aller Versuche, die Vergangenheit zu bewahren und in nicht unbedingt dauerhaften Freundschaften und Beziehungen die Gegenwart so lebenswert wie möglich zu gestalten, ist eine bessere Zukunft das Einzige, wovon unter diesen Umständen viele – aber längst nicht mehr alle – träumen können. Aber ist sie überhaupt zu erreichen?

Der Kunstgriff des Wechsels von Welt zu Welt durch die musikalisch herbeigezauberten Portale erlaubt es Lena Richter, ihre Vielseitigkeit unter Beweis zu stellen. Gewiss kann man überlegen, ob mit diesem Streifzug durch gängige Formen von Science-Fiction-Kulissen nicht auch ein wenig unser aller kleine Fluchten in immer wieder neue imaginierte Welten hinterfragt werden, aber wenn ja, dann geschieht es nicht auf zynische Art, sondern durchaus mit Verständnis für die Suche nach dem nicht aufzutreibenden Ausweg. Stärker noch schwingt aber die Reflexion über die Rolle von Kunstschaffenden mit, die – trotz aller (hier stets zeitbegrenzten) Eingebundenheit in unterschiedliche Lebenswelten – immer auch eine Außenseiter- und Beobachterposition einnehmen, die ihnen zwar ein gewisses Maß an Macht im Beschreiben und Kommentieren, vielleicht gar Aufrütteln einräumt, sie aber auch in die hilflose Lage stürzt, der Kommodifizierung und Vermarktung von Tiefempfundenem zusehen zu müssen. Auch das in Fantasy und Science Fiction nicht seltene Motiv der Auserwähltheit wird im Zuge dessen gründlich auf den Prüfstand gestellt.

Zugegeben: Eine aufmunternde und tröstliche Lektüre ist das nicht, eher eine, die einen bekümmert und nachdenklich stimmt, aber gerade auch aufgrund des geschickten Einsatzes der Ich-Erzähler-Instanz, über die man so wenig und doch so viel erfährt, eine lohnende Entdeckung abseits ausgetretener Pfade im Genre bietet.

Lena Richter: Dies ist mein letztes Lied. Wien, Verlag ohneohren, 2023 (E-Book).
ISBN: 978-3-903296-59-6


Genre: Erzählung, Roman

Die Vergebung der Sünden

Das hier besprochene Buch ist Teil einer Reihe. Die Rezension des ersten Bandes ist hier zu finden.

Pfarrer Sidney Chambers ist eigentlich mehr als ausgelastet damit, seinen Beruf und das Familienleben mit Ehefrau Hildegard und Töchterchen Anna unter einen Hut zu bringen, aber der nächste Kriminalfall, in dem sein Scharfsinn als Ermittler gefragt ist, findet ihn ganz ohne sein Zutun: In Grantchester erscheint völlig aufgelöst ein Musiker und bittet um Kirchenasyl. Angeblich ist er am Morgen in einem Hotelzimmer neben seiner offenkundig erstochenen Ehefrau erwacht, kann sich aber nicht erinnern, ob er sie getötet hat oder nicht. Als Sidney und sein alter Freund, Inspector Geordie Keating, den vermeintlichen Tatort in Augenschein nehmen, erwartet sie eine Überraschung, denn von einer Leiche oder anderen Hinweisen auf eine Bluttat fehlt jede Spur. Nach einigen Verwicklungen wird aber tatsächlich eine Frau aus dem Umfeld des Musikers tot aufgefunden – allerdings nicht die, mit der er verheiratet ist …

Die Vergebung der Sünden ist natürlich ein Thema, das einen Geistlichen immer beschäftigen sollte, aber nicht jeder trägt so engagiert wie Sidney Chambers dazu bei, dass eine weltliche Sühne erfolgt. Wie gewohnt erzählt James Runcie auch in diesem Band um den Kirchenmann als Detektiv eine Reihe mehr oder minder in sich abgeschlossener Fälle, die durch eine gut zwei Jahre umspannende Hintergrundhandlung um Sidneys Privatleben und die beruflichen Veränderungen (samt Umzug), die eine Beförderung für ihn mit sich bringt, zusammengehalten werden. Typische Krimis sind nicht alle der sechs Geschichten: So geht es nur manchmal primär um die Aufklärung eines Mordes oder sonstigen Verbrechens, während in anderen Fällen relativ schnell klar ist, was sich abgespielt hat, und die sich daraus ergebende Situation bewältigt werden muss. Die Themen sind dabei in diesem Band ziemlich düster, so dass einem einige der Episoden sehr an die Nieren gehen. Beispielsweise werden Sidney und Hildegard zu einem Jagdwochende eingeladen, bei dem sich die Gastgeberin als Opfer häuslicher Gewalt erweist, aufgrund ihrer streng katholischen Überzeugungen aber gar nicht aus ihrer fürchterlichen Ehe ausbrechen will. An anderer Stelle geht es um sexuellen Missbrauch an einer Privatschule und die verheerenden Folgen des von allen, die etwas unternehmen könnten, lange totgeschwiegenen Systems. Auch aufgrund trauriger Parallelen in der Realität lesen sich diese Passagen noch weitaus verstörender als der recht spektakuläre Mord, bei dem ein Mann von seinem eben in Anlieferung befindlichen Konzertflügel erschlagen wird.

Sidneys Freundschaft mit Geordie tritt in diesem Band etwas in den Hintergrund. Für Frotzleien, die fließend in echte Kritik übergehen, ist nun eher Hildegard zuständig, die durch ihren Beruf als Pianistin und Klavierlehrerin auch einen der Anknüpfungspunkte für die immer wieder eingeflochtenen Exkurse in Kunst und Kultur bildet. Mit thematisch etwas anderem Schwerpunkt gilt das auch für Sidneys alte Freundin, die Kunsthistorikerin Amanda Kendall. Diese erhält nicht nur Drohbriefe und arrangiert eine Bildungsreise nach Florenz, auf der Sidney unter Diebstahlsverdacht gerät, sondern feiert auch ihre Hochzeit, was Sidney mit der Frage konfrontiert, ob er nicht doch noch mehr für sie empfindet, als es sich für einen verheirateten Mann eigentlich gehört. Die Figuren schon aus früheren Geschichten zu kennen, ist übrigens ganz hilfreich, da James Runcie mit den Charakterisierungen eher sparsam bleibt und nicht unbedingt ausführlich rekapituliert, wie bestimmte Konstellationen zustandegekommen sind.

Gewünscht hätte man dem Band ein gründlicheres inhaltliches Lektorat, weil hier und da kleine Kontinuitätsfehler auftreten (z. B. scheinen Sidney mehrfach Informationen, über die er schon verfügt, zu entfallen, ohne dass dies als absichtliche Schilderung von Vergesslichkeit oder Unaufmerksamkeit kenntlich gemacht wäre, und Amanda wird auch Monate nach ihrer Hochzeit von Bekannten noch als „Miss Kendall“ angesprochen). Stilistisch liest sich die Übersetzung von Renate Orth-Guttmann aber angenehm, und auch insgesamt bildet die Mischung aus Spannung, Sozialkritik, Humor und philosophischen Momenten keine schlechte Lektüre, obwohl es schöner gewesen wäre, wenn Runcie manchen seiner Figuren mehr Raum gelassen hätte, sich zu entfalten.

James Runcie: Die Vergebung der Sünden. Sidney Chambers ermittelt. 2. Aufl. Hamburg, Atlantik (Hoffmann und Campe), 2020, 368 Seiten.
ISBN: 978-3-455-00548-6

 

 


Genre: Anthologie, Erzählung, Roman

Ein Haus für viele Sommer

Ein alter Turm auf Elba, der über Jahrzehnte hinweg als Ferienhaus einer deutschen Familie dient, ein am Rande der Wildnis gelegenes Gartengrundstück samt Olivenernte und Wildschweinbesuch, Meer, Sonne, Strand, Wandel und Beständiges, aber vor allem auch viele menschliche Eigenarten und Schwächen: Das sind die Zutaten, die bei Axel Hacke Ein Haus für viele Sommer ergeben.

Zugegeben, ein wenig schwer fällt es schon, einzuordnen, was dieses Buch eigentlich sein möchte: Eher Aneinanderreihung kleiner Episoden als Roman ist es keine reine Fiktion (das Ferienhaus in Elba und allerlei auftretende Personen scheint es laut Nachwort wirklich zu geben), aber auch (ebenfalls laut Nachwort) kein größtenteils den realen Tatsachen verpflichteter, die Wirklichkeit nur in ein dichterisches Gewand kleidender Reisebericht. Vielleicht lässt es noch am ehesten als Kaleidoskop autobiographisch inspirierter Betrachtungen beschreiben, die von der Perspektive eines wiederkehrenden Gastes leben, der an seinem Urlaubsort irgendwann kein ganz Fremder mehr ist, aber doch nie zum Einheimischen werden wird.

Unabhängig davon, welches Gefühl dieses Eingeständnis einer bunten Mischung aus Fakten und Fiktion in einem hinterlässt, liest sich das Haus für viele Sommer durchaus unterhaltsam. Heiter, aber nicht anspruchslos und mit zahlreichen Zitaten aus anderen literarischen Werken angereichert, daneben auch mit (immer übersetzten) italienischen Einsprengseln gespickt, lässt der Geschichtenreigen einen eine Reise in ein nun vom Tourismus geprägtes ehemaliges Bergbaudorf unternehmen, das von der Topographie bis zur Abfallentsorgung gewisse Eigenheiten aufweist, vor allem aber auch – ständig oder nur auf Zeit – die Heimat unzähliger schräger Typen ist.

Ob Künstler, Automechaniker, Schmied, Strandwart, Kellner oder zu ungeahnten Wutausbrüchen fähiger Wissenschaftler im Ruhestand, hier haben alle ihre Ecken und Kanten und wechseln sich damit ab, die Hauptrolle in oft ziemlich lustigen Begebenheiten zu spielen. Dabei ist ein eindeutiger Männerüberschuss zu konstatieren, denn Frauen kommen nur vergleichsweise wenige vor, während die Herren der Schöpfung die Bühne dominieren.

Menschen sind allerdings nicht die einzigen liebevoll ausgearbeiteten Charaktere, mit denen man es hier zu tun bekommt: Auch die ebenso gefräßigen wie furchtlosen Nachbarsziegen, ein alter Fiat und nicht zuletzt das Ferienhaus selbst gewinnen ganz individuelle Züge und machen dem oft selbstironischen Ich-Erzähler das Leben nicht immer leicht. Erholsame Ferien sind also nicht garantiert, dafür aber erlebnisreiche und schöne mit feinen Naturbeobachtungen, nachdenklichen Einschüben und immer wieder auch Stellen, an denen man kräftig lachen kann. In diesem Kontext allerdings stellt sich wieder das schon eingangs erwähnte Problem: Manche der geschilderten alltäglichen Begebenheiten sind vor allem dann urkomisch, wenn man sich vorstellt, dass sie so oder so ähnlich tatsächlich passiert sind. Ob sie noch gleichermaßen witzig sind, wenn man sie unter die hinzuerfundenen Einzelheiten einordnen muss, ist wohl Geschmackssache, und diese kleine Unsicherheit bleibt eben überall.

Hervorhebenswert ist die gelungene äußere Gestaltung des Buchs mit flirrend mediterranem Titelgemälde von Thomas Weczerek und meerblauem Leineneinband mit goldgeprägter Schrift. Auch unabhängig vom über weite Strecken amüsanten Inhalt ist es also ein kleines Schmuckstück, das nicht nur vergnüglich zu lesen, sondern zugleich hübsch anzusehen ist.

Axel Hacke: Ein Haus für viele Sommer. München, Kunstmann, 2022, 288 Seiten.
ISBN: 978-3-95614-483-7


Genre: Erzählung

The Christmas Collection

Der Titel ist Programm: In The Christmas Collection bietet die vielseitige Autorin und Hugo-Preisträgerin Cora Buhlert ein Potpourri von Weihnachtsgeschichten unterschiedlicher Länge, das quer durch die beliebtesten Genres der Unterhaltungsliteratur führt, von Romance über Fantasy, Horror und Krimi bis hin zu Science Fiction.

Den Anfang machen fünf in der realen Welt angesiedelte Liebesgeschichten. Drei davon greifen ineinander, da sie alle im selben amerikanischen Einkaufszentrum, der Hickory River Mall, spielen. In der warmherzigen kleinen Meet-Cute-Geschichte Christmas Gifts besorgt Protagonist Tim auf die letzte Minute ein Geschenk für seine Mutter. Es zu verpacken erweist sich als wahre Herausforderung, aber zum Glück naht unerwartete Hilfe, aus der sich rasch mehr ergibt.

Etwas zynischer setzt Christmas Shopping with a Broken Heart ein. Nachdem ihr Freund ihr jäh den Laufpass gegeben hat, bricht Hannah, tief enttäuscht, zu Weihnachtseinkäufen auf. Im Gedränge kommt es zu einem spektakulären Zusammenstoß – und der hat Folgen.

Länger und in nach Weihnachtssongs benannte Kapitel gegliedert ist Christmas at Hickory Mall: The Crappiest Christmas Ever. Während die Studentin Jessica nach dem Scheitern der Ehe ihrer Eltern auf die letzte Minute ein eigenes Weihnachtsfest fernab der Familie zu organisieren versucht, trauert Weihnachtsbaumverkäufer Matt besseren Zeiten nach, und natürlich treffen die beiden aufeinander.

Christmas Eve at the Purple Owl Café führt dagegen auf die andere Seite des Atlantiks. Im zur Abwechslung einmal verschneiten Norddeutschland weigert die junge Katie sich zum ersten Mal, den Heiligabend mit der wenig liebenswerten Verwandtschaft zu verbringen. Doch statt trübsinniger Einsamkeit hat das ungewöhnliche Weihnachten unverhofft doch noch nette Gesellschaft für Katie zu bieten.

Nicht weit entfernt spielt auch Driving Home for Christmas. Auf dem Weg von Münster nach Hamburg hat die Studentin Laura am Heiligabend eine Autopanne. Als dann auch noch ihr Handy versagt, scheint die Lage ernst, aber auf dem Parkplatz, auf dem ihr Wagen liegengeblieben ist, ist sie vielleicht doch nicht so allein, wie sie erst geglaubt hat.

Eine winterliche Romanze fehlt auch in The Bakery on Gloomland Street nicht, aber hier geht es deutlich phantastischer zu als in den fünf vorhergehenden Texten: Rachel Hammersmith übernimmt eine kleine Bäckerei im ewig nebligen Hallowwind Cove, ohne beim Namen der Vorbesitzerin Marie Percht schon Böses zu ahnen, bekommt es aber dann in der Adventszeit mit dem Krampus höchstpersönlich zu tun – denn der ist, wie sich herausstellt, nur auf sehr spezielle Art zu besänftigen (die bei einem deutschen Lesepublikum – je nach regionaler Herkunft – durchaus Kindheitserinnerungen wecken dürfte).

Überwiegend fern der Menschenwelt (und hoffentlich in einem anderen Universum als der vorherige Text) ist Revolt at the North Pole angesiedelt, eine Geschichte, um die Weihnachtsmannfans, die sich das Bild eines gütigen alten Mannes erhalten wollen, lieber einen großen Bogen machen sollten: Die Weihnachtselfen wollen sich nicht länger von Santa Claus ausbeuten lassen, aber ohne Verbündete können sie den Aufstand nicht wagen. Während manche überredet werden müssen, schließt sich unversehens auch ein sehr unwahrscheinlicher Helfer der Revolte an, und Dramatisches geschieht, bevor auch nur ans alljährliche Geschenkeausliefern gedacht werden kann.

Eindeutig düstere Aspekte hat Weihnachten auch in Witchfinders: The Solstice Horror, und das nicht nur, weil die Geschichte vor dem Hintergrund der Hexenverfolgung im Neuengland des späten 17. Jahrhunderts spielt. Der junge Puritaner Matthew Goodson, unlängst noch Lehrling gefürchteter Hexenjäger, ist mit der Hexe Grace Pankhurst auf der Flucht vor seinen ehemaligen Meistern. Doch in dem Wald, den sie durchqueren müssen, um ihren Verfolgern zu entgehen, lauert ein nicht minder gefährliches Wesen, das ausgerechnet im tiefsten Winter aktiv zu werden pflegt.

Zurück in ein Setting ohne übernatürliche Elemente führt A Bullet for Father Christmas. Kurz vor Weihnachten liegt ein Mann im Weihnachtsmannkostüm erschossen in einem Juwelierladen – getötet angeblich von seinem Komplizen bei einem Raubversuch. Der Fall stellt Detective Inspector Helen Shepherd zunächst vor ein Rätsel, aber vielleicht noch schwieriger ist die Frage zu klären, wo sie das besondere Spielzeug auftreiben soll, das ihre kleine Nichte sich von ihr wünscht.

Helen Shepherd hat einen zweiten Auftritt in Santa’s Sticky Fingers und muss auf einem nach deutschem Vorbild gestalteten englischen Weihnachtsmarkt auf die Jagd nach Taschendieben gehen. Während von den Marktbeschickern wüste Verdächtigungen über vermeintlich kriminelle Osteuropäer und den örtlichen Obdachlosen geäußert werden, führen Helens Nachforschungen bald auf eine ganz andere Spur. Ein spezielles Geschenk für ihre Nichte aufzutreiben, ist allerdings auch diesmal wieder eine echte Herausforderung.

Durchaus kriminell geht es auch in The Silencer: St. Nicholas of Hell’s Kitchen zu, allerdings nicht in England, sondern in New York der 1930er Jahre. Richard Blakemore führt dort ein Doppelleben als Pulp-Autor und als sein eigener literarischer Held, der geheimnisvolle „Silencer“, der gegen das Verbrechen kämpft. Als er auf der Flucht vor Verfolgern in ein Kinderheim gerät und erfährt, dass es durch die Machenschaften skrupelloser Immobilienhaie von der Schließung bedroht ist, kann er natürlich nicht untätig bleiben.

The Tinsel-Free Christmas Tree  ist nicht nur eine Satire auf erklärungslastige Science Fiction, die unbeholfen alles und jedes übergenau zu erläutern versucht, sondern bedient sich geschickt einer ähnlichen Erzähltechnik wie die bekannte Kurzgeschichte Despoilers of the Golden Empire: Durch exotisch anmutende, wenngleich korrekte Bezeichnungen wird ein eigentlich sehr alltäglicher Ehekrach zu einer höchst grotesken Diskussion, und der Name des Paares, das sich hier über seinen Weihnachtsbaum in die Haare gerät, bleibt nicht die einzige Anspielung auf Loriot.

Völlig schräg wird es in The Robot Turkey Apocalypse, einer humoristischen Horrorstory, in der das Ende der Welt ausgerechnet durch aus dem Nichts auftauchende Robotertruthähne mit mörderischen Absichten eingeläutet wird.

Wesentlich friedlichere Verhältnisse herrschen in A Year on Iago Prime: Christmas on Iago Prime, aber zufrieden ist die kleine Libby trotzdem nicht: Als Tochter eines Wissenschaftlerpaares ist sie gezwungen, Weihnachten fern des heimatlichen Boston in der Weltraumkolonie Iago Prime zu verbringen, wo sie sich als einziges Kind unter Erwachsenen tödlich langweilt. Als sich abzeichnet, dass es hier nicht einmal einen richtigen Weihnachtsbaum geben wird, kann wohl nur noch eines helfen: eine Nachricht an Santa Claus.

Wie der Titel schon ahnen lässt, ist die Ausgangslage in Christmas after the End of the World um einiges unersprießlicher: Hier versucht die dreizehnjährige Natalie, ihrem kleinen Bruder Liam, Findelkind Olivia und Hund Bud ein schönes Weihnachten unter postapokalyptischen Bedingungen zu ermöglichen. Damit, dass sie alle ein Weihnachtswunder erleben werden, rechnet sie allerdings nicht.

Cora Buhlert schreibt humorvoll, routiniert und oft sozialkritisch, mit souveräner Genrekenntnis und gelegentlich einem Schuss Nostalgie, aber auch reichlich (Selbst-)Ironie. So bieten ihre Texte neben den eigentlichen Geschichten einen bunten Anspielungsstreifzug durch die Popkultur, auch in Form vieler Witze in der Namensgebung (so taucht z. B. in einem der Krimis gewiss nicht ohne Grund ein gewisser Jürgen Roland auf), und sind mit einprägsamen sprachlichen Bildern gespickt (aber in welcher Geschichte genau etwas like the aftermath of a Visigoth raid aussieht, wird hier selbstverständlich nicht verraten).

Außerdem gerät nicht aus dem Blick, dass nicht für alle Menschen um diese Jahreszeit ein christliches oder auch nur säkularisiertes Weihnachtsfest wichtig ist; so schiebt in der Hickory River Mall Barista Mohammad auch am Heiligabend Dienst wie üblich, während in anderen Geschichten Chanukka und pagane Winterbräuche Erwähnung finden. Aber ganz egal, welcher Feiertag genau nun begangen wird: für liebevoll beschriebene kulinarische Genüsse ist immer gesorgt, und so ist ein garantierter Nebeneffekt der Lektüre, dass man beim Lesen Appetit auf alles Mögliche von Weckmännchen über Kekse bis hin zu Glühwein bekommt.

Aufgrund der Fülle abgedeckter Genres ist in der Sammlung wirklich für so gut wie jeden Geschmack etwas dabei. Wer in der Advents- und Weihnachtszeit zur Ablenkung von Stress und Hektik entspannende und unterhaltsame Lektüre sucht, die sich häppchenweise zwischendurch oder auch am Stück prima weglesen lässt, kann mit The Christmas Collection also nicht viel falsch machen.

Cora Buhlert: The Christmas Collection. Bremen / Stuhr, Pegasus Pulp Publications, 2021 (E-Book, PDF-Fassung 226 Seiten).
ISBN: 978-1-393-38370-3


Genre: Anthologie, Erzählung