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Stadt – Natur

Drei kurze Verse, wie spontan hingeworfen, aber immer durchdacht und voller Esprit – das sind Heike Ballers Haiku, kleine Gedichte nach japanischem Vorbild. Nachdem im letzten Sommer mit Mein Jahr in Haiku die erste Sammlung dieser zarten Poesie mit Tiefgang erschienen ist, folgt nun mit Stadt – Natur der zweite Band.

Der Titel (der den Gegensatz zwischen Stadt und Natur ebenso evoziert wie den Begriff der Stadtnatur) verrät es schon: Heike Baller ist eine begnadete Wortspielerin mit viel Gefühl für sprachliche Zwischentöne. Mehrdeutigkeiten und Assoziationen weiß sie gekonnt einzusetzen, wie etwa dieser Blick ins Buch zeigt:

Blick in das Buch "Stadt - Natur" von Heike Baller (S. 18-19)

Blick ins Buch: Heike Baller: „Stadt – Natur“, S. 18 – 19

Bei der so herrlich verschiedene Interpretationsmöglichkeiten vermengenden „heruntergekommenen Wolke“ (S. 19) allein bleibt es nicht. Zweimal hinlesen muss man auch bei den oft in unerwartetem Kontext pointiert benannten Kontrasten zwischen Tod und Leben, Stehenbleiben und Vorbeilaufen, aber vor allem eben immer wieder auch Stadt (bzw. Zivilisation allgemein) und Natur.

Dieses Neben-, Mit- und manchmal auch Gegeneinander, das ihre auf täglichen Spaziergängen am Stadtrand gemachten Beobachtungen prägt, in ihren Haiku einzufangen, ist laut Vorwort auch Heike Ballers erklärtes Ziel, und es gelingt ihr gut. Gerade ihr Talent, Naturphänomene in sehr menschliche Begriffe zu fassen und umgekehrt Menschengemachtes auf eine Art zu bechreiben, die einen erst einmal an Natürliches denken lässt, lässt einen oft aufmerken und den gewohnten Blick auf die Dinge hinterfragen.

Daneben gibt es aber auch rein poetische Momente zum Schwelgen, oft eingefangen in liebevollen Wortschöpfungen: „Lichttupfenbestreut“ (S. 37) zeigen sich Wolken, während ein Baum „moosummantelt“ (S. 21) ist, und dem, der hinzusehen weiß, bietet sich eine „Fernblicksillusion“ (S. 24), wenn nicht gerade „das Nebel-Nichts“ (S. 45) alles verhüllt. Besonders sind es immer wieder die differenziert in all ihren Schattierungen geschilderten Farben, die auch dann Bilder heraufbeschwören, wenn das jeweilige Gedicht gerade nicht durch eines der schönen Fotos illustriert wird, die auf manchen Seiten die Haiku begleiten und ergänzen. Das „Kopfkino“ (S. 23) läuft auf alle Fälle nicht nur bei der Dichterin, sondern auch bei denen, die ihre Texte auf sich wirken lassen.

Einlullen lassen sollte man sich davon aber nicht, denn die Erwartung, ein stimmungsvolles Naturbild unverfälscht genießen zu können, wird oft genug enttäuscht (clever gemacht etwa in der „Farbharmonie mit Herbstlaub“, S. 12, deren Quell alles andere als romantisch ist). So bietet der Streifzug in 60 Haiku quer durch die Jahreszeiten immer wieder Überraschungen, und man kann sich blendend damit unterhalten, das Buch in einem Abend zu verschlingen. Eigentlich aber haben die schönen Miniaturgedichte es verdient, dass man noch häufiger zu ihnen greift und sich geduldiger auf sie einlässt, denn interessant genug für ein zweites, drittes oder viertes Lesen (und Durchdenken) sind sie allemal.

Heike Baller: Stadt – Natur. Norderstedt, Books on Demand, 2022, 76 Seiten.
ISBN: 978-3-7557-7824-0

Wer gern mehr über die Hintergründe von Heike Ballers Haiku erfahren möchte, findet hier ein Interview, das ich vor einiger Zeit mit ihr geführt habe.

 

 

 


Genre: Anthologie

Der Schatten des Todes

Sidney Chambers ist anglikanischer Pfarrer im Dorf Grantchester in der Nähe von Cambridge und könnte dort eigentlich ein beschauliches Leben führen, um sich – man schreibt das Jahr 1953 – von seinen Kriegserlebnissen zu erholen. Doch nach der Beerdigung eines Anwalts sucht ihn die heimliche Geliebte des Verstorbenen auf und vertraut ihm an, dass sie überzeugt ist, dass der Mann ermordet wurde. Und ein Pfarrer, mit dem man offen reden kann, ist doch wohl der ideale Ermittler, um ihrem Verdacht nachzugehen? Sidney zieht dann doch lieber seinen Freund von der Polizei, Inspector Geordie Keating, zurate, der erst nicht an ein Verbrechen glauben will – nur, um bald eines Besseren belehrt zu werden. Das ist für den jungen Geistlichen der Auftakt zu einer ungeahnten Detektivkarriere …

Der Schatten des Todes enthält sechs Kurzkrimis, nimmt aber in gewisser Weise eine Zwischenstellung zwischen Roman und Geschichtensammlung ein, da die einzelnen kleinen Erzählungen, chronologisch angeordnet und auch über den Protagonisten hinaus durch wiederkehrende Figuren eng miteinander verflochten, eine übergreifende Hintergrundhandlung haben. Durch die im Buch schon angelegte Serienstruktur waren Sidney Chambers‘ Abenteuer natürlich für eine Fernsehverfilmung prädestiniert. Wer – wie die Rezensentin – erst durch die TV-Serie Grantchester überhaupt auf James Runcies Geschichten um den neugierigen Pfarrer aufmerksam geworden ist, wird allerdings eine Überraschung erleben, denn abgesehen vom ersten Fall, der denselben Titel wie das ganze Buch trägt, sind die Abweichungen zwischen dem Original und der Adaptation nicht nur inhaltlich beträchtlich.

Während in Grantchester bei allem immer wieder aufblitzenden Humor Dramatik und sozialkritische Aspekte betont werden, fehlen diese zwar auch im Buch nicht, wirken aber weniger plakativ. Runcie schreibt eher im Tonfall eines klassischen englischen Krimis irgendwo zwischen Agatha Christie und Dorothy L. Sayers, aber mit viel Augenzwinkern, Selbstironie und auch Nachdenklichkeit. Nicht jede Episode handelt dabei von einem Todesfall (auch wenn selbstverständlich mehrere Mörder ihr Unwesen treiben): Manchmal verschwindet auch nur etwas Wertvolles wie etwa ein Verlobungsring oder ein Gemälde und muss wieder aufgespürt werden. Gelegentlich führt ein Ausflug nach London auch einmal aus dem – wenn auch nicht ungetrübten – dörflichen Idyll fort.

Wie es sich für einen anständigen Detektiv gehört, hat Sidney Chambers natürlich auch ein Umfeld aus mehr oder minder schrägen Typen (vom Hilfsgeistlichen mit Faible für Philosophie und russische Literatur bis hin zur resoluten Haushälterin, die ihren verschollenen Ehemann noch am Leben wähnt, weil er sich in spiritistischen Sitzungen partout nicht kontaktieren lassen will). Zwei recht gegensätzliche Damenbekanntschaften garantieren dem Pfarrer ein interessantes Privatleben, und wie er zwischen Liebeswirren und Verbrechensaufklärung auch noch zu einem Hund kommt, liest sich vergnüglich und sympathisch.

Wer bei seiner Lektüre ständig atemlose Aufregung braucht, wird sie hier eher nicht finden (obwohl es durchaus sehr spannende Passagen gibt), aber alle, die Freude an Krimiunterhaltung in bester Genretradition haben und beim Lesen gern auch etwas ins Schmunzeln kommen, können sich hier ein paar entspannte Stunden in der englischen Nachkriegszeit gönnen.

James Runcie: Der Schatten des Todes. Sidney Chambers ermittelt. Hamburg, Atlantik (Hoffmann & Campe), 2. Aufl. 2017, 416 Seiten.
ISBN: 978-3-455-00045-0


Genre: Anthologie, Roman

Mein Jahr in Haiku

5 – 7 – 5: Das ist das Silbenschema im Haiku, einer kurzen Gedichtform japanischen Ursprungs, die sich aber inzwischen auch im Westen wachsender Beliebtheit erfreut. Thematisch befassen sich Haiku oft mit Naturbeobachtungen in Form von Momentaufnahmen, die eine bestimmte Jahreszeit andeuten.

Diesen formalen und inhaltlichen Kriterien bleibt auch Heike Baller in ihrem frisch erschienenen Gedichtband Mein Jahr in Haiku treu. Vom Vorfrühling über Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter bis zur Rückkehr der ersten Schneeglöckchen führen ihre Haiku durch ein ganzes Jahr, und vielleicht ist es gar keine schlechte Idee, das Büchlein auch tatsächlich Stück für Stück im Jahreslauf zu lesen und sich alle paar Tage mit einem der Dreizeiler einen Moment des Innehaltens zu gönnen.

Dass jeweils nur ein einziges Gedicht auf den quadratischen Seiten steht, unterstreicht, dass jedes Haiku ungeteilte Aufmerksamkeit verdient hat und zum flüchtigen „Weglesen“ viel zu schade ist. Einzelne Seiten sind aber auch durch zu den Gedichten passende Fotos illustriert, die zeigen, was zu dem jeweiligen Haiku inspiriert haben könnte.

Aufgeschlagenes Buch "Mein Jahr in Haiku"

Ein Blick ins aufgeschlagene Buch (Heike Baller: Mein Jahr in Haiku, S. 26 / 27)

Was so schlicht, fast minimalistisch gestaltet ist, hat es aber in sich, denn die Betrachtung von Flora und Fauna ist bei Heike Baller selten bloße Kontemplation, sondern meist entweder mit augenzwinkerndem Humor gewürzt oder mit nie auf-, aber immer eindringlicher Kritik am rücksichtslosen Umgang des Menschen mit der Natur aufgeladen. Vor allem sind ihre Haiku also eines: sprachlich elegant formulierte Denkanstöße.

Die können poetisch sein, wenn von „grünsamtenen Füßen“ (S. 24) die Rede ist oder „winterwindgezauste Wolkenberge“ (S. 59) sich auftürmen, aber es kann auch einmal heftiger zur Sache gehen, wenn „Päoniensex“ (S. 25) vorbereitet wird oder unerwartet „fifty shades of grey“ (S. 42) über einen hereinbrechen. Gelegentlich wird man auch herrlich in die Falle gelockt (wie beim „Frostvollmond“ auf S. 67, mit dem es etwas ganz anderes auf sich hat, als man erwarten könnte). Auch literarische Anspielungen, etwa auf Ringelnatz, finden sich, was bei einer Buchbloggerin und Lyrikexpertin als Dichterin nicht überrascht, aber viel Freude macht.

Ein kleines Nachwort, das nicht nur die Besonderheiten des Haiku erläutert, sondern auch den ebenso scharfen wie liebevollen Blick der Autorin auf Kleinigkeiten am Wegesrand näher erklärt, rundet das Buch ab. Sich von Heike Baller auf ihren literarischen Spaziergang durch alle Jahreszeiten mitnehmen zu lassen, kann also nur empfohlen werden.

Heike Baller: Mein Jahr in Haiku. Norderstedt, BoD (Books on Demand), 2021, 72 Seiten.
ISBN: 978-3754327364


Genre: Anthologie

Urban Fantasy: Going Intersectional

Das Konzept der Intersektionalität beschreibt die Tatsache, dass Personen oft nicht nur einer einzigen marginalisierten Gruppe angehören, sondern in unterschiedlichen Aspekten ihres Daseins mehreren Diskriminierungserfahrungen gleichzeitig ausgesetzt sind, die sich überschneiden und potenzieren. Gerade in der deutschen Fantasy wird diesem Blickwinkel nur vereinzelt Beachtung geschenkt – ein Manko, gegen das sich Aşkın-Hayat Doğan und Patricia Eckermann mit der von ihnen herausgegebenen umfangreichen Anthologie Urban Fantasy: Going Intersectional wenden.

Der erste Beitrag überzeugt allerdings nur bedingt. Isabella von Neissenau überträgt in Die Prinzessin, in der die Titelfigur die Hintergründe des Todes ihrer Schwester erforscht, durchaus geschickt das alte Motiv, dass man in manchen magisch aufgeladenen Situationen das Geschlecht seines Gegenübers richtig einschätzen sollte, in den Transgender-Bereich. Daraus wird aber leider eine reichlich blutrünstige und finstere Geschichte, die noch dazu die deprimierende Moral bereithält, dass man im Leben doch nicht voll als das anerkannt wird, was man ist, sondern bestenfalls im Sterben eine kleine Bestätigung erhalten kann.

Vordergründig ebenfalls düster, aber von der Grundstimmung her doch wesentlich hoffnungsvoller ist James A. Sullivans sehr berührender Beitrag Die letzte Heimkehr. Zwar führen hier nicht nur Hautfarbe, Geschlecht und Armut zur Diskriminierung einer Einwanderin in Irland, sondern auch noch übernatürliche Aspekte ihrer Identität (Gargoyles haben es nicht leicht – und ihre noch mythischeren Freundinnen auch nicht!), aber trotz aller Angriffe und Härten, denen sich die mit einer starken Stimme versehene Ich-Erzählerin ausgesetzt sieht, überwiegt letztlich das Lob auf Durchhaltevermögen und Zusammenstehen selbst unter widrigsten Umständen.

Annie Wayes Vegan für fortgeschrittene Tote fährt einiges an Veganer-, Schwulen- und Männlichkeitsklischees auf, um die abenteuerlichen Missgeschicke des Ich-Erzählers zu schildern, ist aber dafür, dass es, durchaus mit Ekelfaktor, um Zombies geht, ungeahnt witzig.

Die intensive nächste Geschichte, Das Innerste der Welt von Lena Richter, lässt jedoch wieder eine beklemmendere Stimmung aufkommen. Die Protagonistin – „die letzte Hexe von Berlin“ – hat nicht nur mit äußeren Härten zu kämpfen, sondern auch mit einer chronischen Krankheit, wobei die Erzählweise in der zweiten Person sie dem Lesepublikum als Identifikationsfigur in einem Ringen mit Erinnerungen an die ostdeutsche Vergangenheit und eine bewegte Familiengeschichte förmlich aufzwingt.

Aufmunternder und ziemlich liebenswert kommt Die Pirouette von Ilka Mella daher, in der ein ballettliebender Troll und die übergewichtige Tochter einer Tanzlehrerin beide ihre liebe Not damit haben, vorurteilsbeladene Angehörige davon zu überzeugen, sie nicht länger mit verletzenden Bemerkungen zu gängeln, sondern ihre Träume leben zu lassen. Das alles ist mit so viel Glauben an die Macht der Freundschaft und der Fähigkeit, sich selbst treu zu bleiben, erzählt, dass man der Geschichte schon fast verzeiht, dass der arme Protagonist „Francois“ ohne Cedille (ç) auskommen muss und bei den französischen Zitaten ein paar Accents fehlen.

Aşkın-Hayat Doğans Burkitty setzt mit einem provokanten Spiel mit Erwartungen ein, entwickelt sich dann aber zur flotten und actionreichen Superheldinnengeschichte, in der von Nazi-Raubkunst über einen optisch höchst interessanten Burkini bis hin zu den Tücken der Arbeitsteilung bei der Haushaltsführung mancherlei unter einen Hut gebracht wird, was man gewöhnlich nicht in ein und derselben Geschichte finden würde.

Ronja Schrimpfs Zuhause greift mit den Buschbränden in Australien ein aktuelles Thema auf und nutzt es am Beispiel einer der Katastrophe nur knapp entkommenen Gestaltwandlerin als Hintergrund für eine nachdenklich stimmende, aber zugleich hoffnungsvolle Geschichte um den früheren und heutigen Umgang der westlichen Welt mit Indigenen.

Robin Nayeli schildert in ZuneigungsFormen humorvoll in einem so authentisch umgangssprachlichen Plauderton, als würde einem die Geschichte am Telefon erzählt, die Nöte einer Legasthenikerin auf Jobsuche. Hätte man es als Mensch in der Situation schon schwer genug, sieht man sich als asexueller Sukkubus aber noch einmal vor ganz andere Probleme gestellt, für die sich allerdings am Ende doch noch eine originelle Lösung findet.

Anders als die überwiegende Mehrzahl der an der Anthologie Beteiligten wählt Oliver Kontny in Antimykotikum nicht die Perspektive einer selbst marginalisierten Person, sondern die eines machohaften Mannes, der zunächst gar nicht merkt, wie indiskutabel seine vermeintlich „normalen“ Überzeugungen sind. Der im Prinzip interessante Ansatz läuft aber auf eine etwas bizarre und in mehrerlei Hinsicht problematische Lösung hinaus, kann man sie doch auch so verstehen, dass die Ansicht des Erzählers, dass die Gender Studies eine Art Sekte sind, die sich die Zwangsbekehrung der Welt auf die Fahnen geschrieben hat, in gewisser Weise bestätigt wird.

Dagegen lädt Teresa Teskes menschlicher und warmherziger Beitrag Magiebegabt, 35F, in Ausbildung von Anfang bis Ende stimmig zum Mitempfinden ein. Die Hauptfigur bekommt nach langem Unverständnis ihrer Familie für ihre Kombination aus Bisexualität, psychischen Problemen und außer Kontrolle geratener Magie endlich eine Chance, sich beruflich zu beweisen, aber dabei kann so einiges schiefgehen …

Judith Vogt versetzt in Majas Queste das klassische Fantasymotiv der Weltenrettung durch eine Auserwählte in eine Stadt, die von einem übernatürlichen Nebel geplagt wird, der sich als Chiffre für die derzeitige Pandemiesituation lesen lässt. Für Maja, die das Down-Syndrom hat, und die Erzählerfigur in ihrer Begleitung wächst sich der Weg zum Supermarkt unversehens zum Abenteuer aus, in dem der Rat mitschwingt, sich nicht von der eigenen Angst aufhalten zu lassen, sondern die Dinge anzupacken.

Serenade und die Berge von Luna Day ist zwar nominell auch eine Kurzgeschichte, liest sich aber fast schon eher wie ein Romananfang und ist weniger tragisch, als die Thematik zunächst vermuten lässt: Die Titelheldin Serenade muss als Sirene Menschen deren Lebensenergie rauben, um selbst überleben zu können, nach einer Zufallsbegegnung tut sich ihr jedoch ein möglicher neuer Weg auf.

In Stefanie Hubers Platanendom wird das Berlin der Moderne in einer eher an magischen Realismus als an typische Fantasy gemahnenden Schilderung zur verstörenden Dystopie, die das Bewusstsein dafür schärft, bis zu welchem Grade Rassismus eine Art Alltagsgrundrauschen bildet, dem niemand entkommen kann – am allerwenigsten natürlich die davon Betroffenen.

Ein wenig aus dem Schema der Anthologie fällt Korallen von Marcel Lewandowsky und Schwartz, denn hier geht es nicht um intersektionale Diskriminierung, sondern um das immer tiefere Abgleiten eines in seiner gleichgesinnten Social-Media-Bubble gefangenen Verschwörungsgläubigen in eine radikale Weltsicht. Das liest sich sprachlich gelungen und zutiefst erschreckend, hat aber mit dem eigentlichen Thema eher am Rande zu tun.

Auch die folgende Geschichte, Jade S. Kyes Gezeiten, ist bedrückend, wenn auch auf andere Art. Hier wird anhand einer Konferenz von Menschen und magischen Wesen aus Sicht der Meerfrau Lorenna deutlich, wie oft es zwar Lippenbekenntnisse zur Beendigung von Diskriminierungen gibt, aber in Wirklichkeit nur von Marginalisierten erwartet wird, sich anzupassen, ja keine Einwände gegen ihre schlechte Behandlung zu erheben und trotz aller Kränkungen auf Abruf zu Hilfsdiensten bereitzustehen.

Amalia Zeichnerin greift in Kein Allheilmittel das in der Fantasy geläufige literarische Motiv auf, dass Übernatürliches – in diesem Fall die Verwandlung in einen Vampir – als Heilungsmethode für gänzlich unmagische Gebrechen in Erwägung gezogen wird. Doch die Hamburger Bibliothekarin, die als Ich-Erzählerin mit dem Gedanken spielt, sich so aus ihrer bipolaren Störung zu retten, hat nicht alles bedacht …

Auch Nora Bendzko spielt in Wünsch mir die Apokalypse mit bekannten Mustern. Von der magischen Schule bis hin zu einer Dreiecksbeziehung mit Werwolf und Vampir sind alle sattsam bekannten YA-Klischees dabei, werden aber nicht nur dadurch genüsslich auf den Kopf gestellt, dass die genretypische Weltrettung hier schon den Ausgangspunkt der Handlung bildet. Das Monster scheint besiegt, und der deutsch-tunesische Ich-Erzähler hat alle Zeit der Welt, sich seinem Liebeskummer hinzugeben – bis etwas Unvorhergesehenes passiert und Köln im Chaos versinkt.

In Jenny Cazzolas Todesduft um Mitternacht wechseln sich zwei Ich-Erzählerinnen damit ab, einen unersprießlichen Vorfall in der Berliner U-Bahn zu schildern: Was für Außenstehende die traurigerweise alltägliche Belästigung einer jungen Muslima durch einen Rüpel vor den Augen einer durch körperliche Einschränkungen in ihren Reaktionsmöglichkeiten ausgebremsten Zeugin sein könnte, gewinnt dadurch eine zusätzliche Dimension, dass alle Beteiligten übernatürliche Eigenschaften haben.

Die Jurte des Todes von Patricia Eckermann dürfte gerade auch Literatur- und Geschichtsinteressierte mitten ins Herz treffen, denn die schonungslose Aufarbeitung der Geschichte der Schwarzen in Deutschland, vom Elend der Völkerschauen bis zu rassistisch motivierten Morden der jüngsten Vergangenheit, ist eine anspielungsreiche Wucht, die das mittelalterliche Motiv des Todes (bzw. der Todesmahnung) als Spiegel des Lebens in die Gegenwart transponiert. Was die frisch in die Wechseljahre gekommene Siggi, die aufgrund ihres Geschlechts und ihrer Hautfarbe gelernt hat, sich immer brav anzupassen, hier erlebt, kann einen animieren, sich auch selbst einmal den Spiegel vorzuhalten.

David Grade entwirft in Kreise eine wilde Mischung aus Schizophrenie, Corona-Pandemie, Fluchtthematik, rassistischer Polizeigewalt und Anspielungen auf Michael Endes Unendliche Geschichte. Der Einstieg fällt nicht leicht, und nach einem verstörenden Verlauf ist auch das  Ende eher unbefriedigend.

Ein versöhnlicheres Leseerlebnis bietet zum Abschluss Me Time von Victoria Linnea und Alexander Neumann. Die pflichtbewusste und hart arbeitende Mỹ, die ständig das Urteil anderer über sich vorwegnimmt und ihr ganzes Leben danach ausrichtet, erhält zum Geburtstag von unbekannter Seite einen rätselhaften Gutschein für einen Restaurantbesuch, der es in sich hat und eine ganz spezielle Form der Küche bietet …

Welche der Blüten aus diesem bunten Strauß einem besonders zusagen, ist sicherlich Geschmackssache, aber gerade in ihrer Verschiedenartigkeit und Fülle schärfen sie den Blick für die großen und kleinen Ungerechtigkeiten des Alltags und machen doch zugleich Mut, die Hoffnung auf eine bessere Welt nicht aufzugeben. Wer moderne Perspektiven sonst eher in der englischsprachigen Phantastik sucht, wird hier die angenehme Überraschung erleben, dass es auch schon im Original auf Deutsch verfasste Fantasy-Kurzgeschichten gibt, die progressiver sind als der Genredurchschnitt.

Aşkın-Hayat Doğan, Patricia Eckermann (Hrsg.): Urban Fantasy: Going Intersectional. Berlin, Ach je Verlag, 2021, E-Book.
ISBN: 978-3-947720-65-1

 


Genre: Anthologie

Der Weg nach Hause

Meinen ersten Kontakt zu Susanne Bonns Büchern hatte ich vor Jahren, als mir zufällig ihr Historienkrimi Der Jahrmarkt zu Jacobi (übrigens lesenswert!) auffiel. Umso mehr hat es mich natürlich vor kurzem gefreut, festzustellen, dass sie auch mein Lieblingsgenre Fantasy schreibt. Der Weg nach Hause ist ein kurzes Buch, das zwei kleine Erzählungen miteinander vereint.

In der Geschichte Der Weg nach Hause, die ihren Titel mit dem gesamten Buch teilt, ist der aus einfachen Verhältnissen zum geachteten Ritter aufgestiegene Groreg nach langen Jahren auf dem Weg zurück in seine Heimat, als er unversehens von Wegelagerern bewusstlos geschlagen wird. In der Obhut fahrenden Volks erwacht er wieder und glaubt seinen neuen Bekannten kein Wort, als sie ihm versichern, ihn nicht selbst überfallen, sondern nur gerettet zu haben. Eigentlich möchte er sie so schnell wie möglich wieder loswerden, aber der Rückweg in sein altes Leben hat seine Tücken.

In Kapuzinerkresse dagegen führt die Gärtnerin Seli Besil unter dem Joch der korrupten Obrigkeit eines frühneuzeitlich inspirierten Polizeistaats ein beschwerliches Leben. Als in ihrem Garten unter dem alten Holunder, den man den Ratschlägen der älteren Generationen ihrer Familie nach tunlichst in Ruhe lassen sollte, eine ihr unbekannte und darum unheimliche Pflanze entdeckt, muss sie es riskieren, eine Verwandte in einem etwas entfernt gelegenen Ort zu besuchen, um sie um Rat zu fragen. Doch solch ein Ausflug ist in ihrer Welt nicht ohne Probleme möglich und hat endgültigere Konsequenzen, als Seli Besil je erwartet hätte.

So gegensätzlich die Hauptfiguren der beiden Geschichten auch sein mögen, eint beide doch, dass sie, mit einer erschreckenden Situation konfrontiert, alte Vorurteile ablegen müssen, um einen gangbaren Weg in die Zukunft zu finden. Sind es in Groregs Fall sowohl die kleingeistige Enge seines Herkunftsdorfs als auch die Arroganz seines neuen Ritterstands, die ihm die Sicht auf das Wesentliche versperren, ist es bei Seli Besil die mangelnde Bereitschaft, sich auf Herausforderungen (wie etwa für sie als Lesefaule nur schwer zugängliche schriftliche Informationen) einzulassen, die erst überwunden werden muss. Ganz leicht fällt es beiden nicht, über ihren Schatten zu springen, und so braucht es jeweils erst die Erfahrung, im gewohnten Umfeld aus verschiedenen Gründen nicht mehr willkommen zu sein, um den entscheidenden Schritt nach vorn zu wagen.

Susanne Bonn erzählt davon auch sprachlich schön und mit dem Mut, manches offenzulassen und so eher die Phantasie ihrer Leserinnen und Leser anzuregen, als jedes Detail vorzugeben. Die skizzierten Kulissen mit ihrem mittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Flair sind eigentlich an Kurzgeschichten fast schon verschwendet und könnten sehr gut auch als Romansetting dienen. Wer Lust auf historisch inspirierte Fantasy hat, die abseits dramatischer Weltrettungen und magisch überfrachteter Auserwählter die kleinen Geschichten am Wegesrand aufspürt, dem bietet Der Weg nach Hause eine nette schnelle Lektüre für zwischendurch.

Susanne Bonn: Der Weg nach Hause. Lindenfels, Selbstverlag, 2020, E-Book.
ISBN (Printausgabe): 978-3753109343


Genre: Anthologie

Die schönsten Liebesmärchen der Welt

Liebe ist ein Thema in zahlreichen Märchen aus aller Welt. Eine Hochzeit gehört fast schon zu den unverzichtbaren Komponenten eines glücklichen Endes, und oft genug ist der Wunsch, Partner oder Partnerin zu retten oder überhaupt erst einmal von sich zu überzeugen, das Hauptmotiv für Held oder Heldin, ins Abenteuer auszuziehen. Doch es gibt auch Abweichungen vom klassischen Schema, die einen beim Lesen überrascht oder amüsiert zurücklassen. Eine abwechslungsreiche Auswahl aus der reichen Fülle von Liebesmärchen hat Clara Paul in Die schönsten Liebesmärchen der Welt zusammengestellt.

Einige Texte sind dabei garantiert nicht nur Märchenfans vertraut: Rapunzel oder das französische Märchen Die Schöne und das Tier begegnen einem vermutlich oft schon in der Kindheit. Doch viele der hier versammelten Märchen richten sich eindeutig eher an ein erwachsenes Lesepublikum, und das nicht nur, weil es manchmal durchaus derb erotisch zugehen kann (wie in der dänischen Geschichte Der Wahrsager). Vielmehr werden auch die Schattenseiten der Liebe verhandelt, wenn bespielsweise in dem italienischen Märchen Meine Frau, die Sirene ein eifersüchtiger Seemann seine untreue Frau zu ertränken versucht und dann bei einem Wiedersehen unter Wasser wesentlich mehr Glück hat, als er verdient. Ohnehin überdauert die Liebe im Märchen so manches, ob nun Ehekrisen, Anschläge von Neidern und Feinden, schieres Pech oder sogar den Tod.

Nicht immer ist es jedoch die Zweierbeziehung allein, die im Mittelpunkt steht. Mehrfach wird z.B. auch die Frage nach der Geschlechtsidentität gestellt. Während es im georgischen Märchen Wie das Mädchen zum Mann wurde die Tochter eines Wesirs gezielt darauf anlegt, in einen Mann verwandelt zu werden, ist es in der Geschichte Der Zauberbrunnen aus Afghanistan für einen Prinzen ein eher unschönes Erlebnis, sich unversehens als Frau wiederzufinden.

Zeitlich ist das abgedeckte Spektrum größer als bei den meisten Märchenbüchern, die sich oft auf neuzeitliche Volks- und Kunstmärchen konzentrieren: Mit Apuleius (Amor und Psyche) und Nizami (Die Geschichte von den Heimsuchungen der Liebenden) sind auch Antike und Mittelalter vertreten. Geographisch ist der Rahmen ebenfalls relativ weit gesteckt, von Europa über den nahen und mittleren Osten bis hin nach Japan und Tahiti. Fast schon überrepräsentiert wirkt dabei Italien, und ein Blick ins Quellenverzeichnis lässt ahnen, woran das liegen könnte: Sämtliche Märchen sind älteren Sammlungen entnommen, und besonders häufig ist eine mit Märchennacherzählungen von Italo Calvino als Fundgrube genutzt worden.

Was dem Buch leider fehlt, ist ein Vor- oder Nachwort, das die Auswahlkriterien offenlegen und vielleicht auch eine Einordnung der kulturübergreifend zu beobachtenden Motive, aber auch etwaiger Unterschiede vornehmen könnte. So bieten Die schönsten Liebesmärchen der Welt zwar unterhaltsame Lektüre, aber wer sich etwas tiefergehend mit ihnen befassen möchte, erhält keinerlei Hilfestellung.

Clara Paul (Hrsg.): Die schönsten Liebesmärchen der Welt. Berlin, Insel Verlag, 2017, 240 Seiten.
ISBN: 9783458363002


Genre: Anthologie, Märchen und Mythen

Im Reich der Wünsche

Das 19. Jahrhundert war im deutschsprachigen Raum die große Zeit der Märchensammler und -dichter. Bei denen von ihnen, die heute noch einem breiten Publikum geläufig sind, handelt es sich in aller Regel um Männer, allen voran natürlich die Gebrüder Grimm, aber auch Autoren wie Wilhelm Hauff, Clemens Brentano oder Ludwig Tieck. Dass diese Auswahl nicht das tatsächliche Veröffentlichungsspektrum der Epoche widerspiegelt, zeigt die Germanistin Shawn C. Jarvis eindrucksvoll in ihrer Anthologie Im Reich der Wünsche. Die schönsten Märchen deutscher Dichterinnen. Auch Frauen sammelten und verfassten damals Märchen und waren in vielen Fällen beliebte und durchaus auch kommerziell erfolgreiche Schriftstellerinnen. Nur eines gelang ihnen weitaus seltener als Männern, wie Jarvis in ihrem aufschlussreichen Nachwort erläutert: die Aufnahme ihrer Werke in die Schullektüre und damit auch in den allgemeinen Bildungskanon. Hier sahen die zumeist männlichen Entscheider Frauen lange nur als Autorinnen reiner Unterhaltungs- oder Kinderliteratur, während vergleichbaren von Männern geschriebenen Texten ein höherer Anspruch und damit auch die Tauglichkeit für Lehrzwecke zugebilligt wurde.

Bis in die Gegenwart als Schriftstellerinnen berühmt sind daher nur einige der Märchenautorinnen, die in diesem Band versammelt sind, darunter Bettine von Arnim, Marie von Ebner-Eschenbach oder Ricarda Huch. Viele andere sind dagegen heutzutage vergessen oder primär für andere Dinge bekannt. So überrascht es z.B., dass die Reihe der Autorinnen von Katharina der Großen angeführt wird. Doch die Zarin schrieb im späten 18. Jahrhundert tatsächlich Märchen für ihre Enkel und war eindeutig nicht ohne literarische Begabung, auch wenn in ihrem Märchen vom Zarewitsch Chlor der erhobene pädagogische Zeigefinger zumindest aus der Erwachsenenperspektive beim Lesen fast schon zum Fremdschämen offensichtlich ist.

Die einzige Geschichte mit einer klar didaktischen Ausrichtung ist dieses Märchen allerdings nicht. Ganz den Weiblichkeits- und Erziehungsidealen ihrer Zeit verpflichtet scheint z.B. Agnes Franz, in deren Prinzessin Rosalieb Gehorsam, Handarbeitsfleiß und Bescheidenheit der Titelfigur von einer recht brutalen Fee geradezu erfoltert werden. Für moderne Leserinnen und Leser nachvollziehbarer und in manchem subversiver geht dagegen Friederike Helene Unger an das Thema heran, deren Prinzessin Gräcula in einer von bissigem Humor geprägten Entwicklungsromanparodie lernen muss, dass Intelligenz und Schönheit allein nicht genug sind, wenn menschlicher Anstand fehlt. Hier wird eher das Versagen der Eltern bei der Erziehung als das Fehlverhalten der Tochter betont, und immerhin: Die eigentlich als uneheliches Kind geborene Prinzessin steigt nach ihrer Läuterung zur Herrscherin auf.

Noch deutlicher treten feministische Elemente in anderen Geschichten hervor. Fanny Lewalds Modernes Märchen – trotz des Titels eigentlich eher eine Erzählung mit phantastischen Zügen als ein Märchen im klassischen Sinn – hat nicht nur eine Ich-Erzählerin, die sich selbst als „heute emanzipiert“ bezeichnet, sondern schildert auch eindringlich, wie deren nicht unbedingt dem Frauenideal des mittleren 19. Jahrhunderts entsprechende unverheiratete Tante die Heldin davor bewahrt, auf nur äußerlich attraktive Männer hereinzufallen, die das Mädchen zu ihren eigenen Zwecken ausnutzen wollen.

Auch andere bis heute aktuelle Probleme werden in verblüffend moderner Form aufgegriffen. Elisabeth Ebelings Schwarz und Weiß mag zwar aus jetziger Sicht sprachlich in einigen Punkten antiquiert sein, doch die märchenhafte Geschichte um den ritterlichen schwarzen Prinzen Almansor, der erkennen muss, dass seine weiße Angebetete ihn aufgrund ihrer Arroganz und ihrer Vorurteile nie respektieren wird, obwohl er sich auf ihren Wunsch in einen Weißen zu verwandeln versucht, ist als Blick auf eingefleischten Rassismus, den selbst alle Anpassungsbemühungen der Opfer nicht überwinden können, leider immer noch nicht überholt.

Einen interessanten Fall stellen die Geschichten Die Nymphe des Rheins von Charlotte von Ahlefeldt und Libelle von Benedikte Naubert da, denn Naubert schrieb in diesem Fall quasi das, was man heute unter dem Begriff der Fanfiction einordnen würde: Geht es in Ahlefeldts Märchen um die Rache einer Rheinnymphe an ihrem untreuen Geliebten, bietet Naubert eine Fortsetzung dazu, in der die im Original nur ganz am Rande erwähnte menschliche Verlobte des Mannes die Hauptrolle spielt und herauszufinden versucht, was aus ihrem verschwundenen Bräutigam geworden ist. Dieser selbst bleibt in beiden Texten übrigens so blass und in seinem Verhalten seinen Partnerinnen gegenüber zweifelhaft, dass man sich insgeheim fragt, warum gleich zwei Damen derart verliebt in ihn sind – aber zu tief sollte man hier wohl nicht zu psychologisieren versuchen.

Zusätzlichen Reiz gewinnt der Band durch die Illustrationen von Isabel Große Holtforth, die mit ihren stilisierten, in Blau, Gold und Weiß gehaltenen Bildern eine zeitlose Begleitung zu den Geschichten schafft.

Wer nun übrigens neugierig geworden ist und gern noch mehr Märchen von oder über Frauen lesen möchte, findet hier eine kleine Auflistung von Buchtipps zum Thema.

Shawn C. Jarvis (Hrsg., unter Mitwirkung von Roland Specht Jarvis): Im Reich der Wünsche. Die schönsten Märchen deutscher Dichterinnen. München, C.H. Beck, 2012, 368 Seiten.
ISBN: 978-3406640247


Genre: Anthologie, Märchen und Mythen

Happy Ends. Liebesgeschichten, die gut ausgehen

Liebesgeschichten mit Garantie auf einen glücklichen Ausgang gelten gemeinhin als Domäne der Unterhaltungs- und Trivialliteratur. So ist es wohl bezeichnend, dass die anspruchsvollen Erzählungen, die Daniel Kampa in Happy Ends. Liebesgeschichten, die gut ausgehen zusammenstellt, nur in manchen Fällen ein klassisches gutes Ende bieten, in anderen hingegen eher eine Kontrafaktur des „Happy End“, die diese literarische Konvention subtil hinterfragt. Auch die Entscheidung, die Sammlung mit Kurt Tucholskys zynischem Gedicht Danach zu beschließen, ironisiert das Konzept, das laut Titel der Anthologie zugrundeliegen soll.
Doch gerade diese Spannung zwischen dem Ideal und immer wieder mit anklingenden schnöden Wirklichkeit macht den Charme dieses Reigens von Liebesgeschichten mit Ecken und Kanten aus. Zeitlich spannt sich der Bogen vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, geographisch nicht nur bei den Handlungsorten, sondern auch bei der Herkunft der Autoren von Russland bis nach Amerika, so dass viele unterschiedliche Verfasser vereint sind (einzig der auf dem Cover versprochene Beitrag von Philippe Djian ist im Buch nirgendwo zu finden).
Auch die geschilderten Liebespaare selbst repräsentieren eine Fülle von Nationalitäten, Altersgruppen und gesellschaftlichen Schichten, sind jedoch in der einen Hinsicht relativ einförmig, dass es in allen Beispielen um die Liebe zwischen Mann und Frau geht; homosexuelle Paare und alternative Lebensentwürfe kommen nicht vor. Stört einen diese Einschränkung nicht, kann man sich aber von den in ihrer Perspektive ansonsten durchaus vielfältigen Annäherungen an das Thema Liebe gut unterhalten lassen und Anregungen zum Nachdenken finden.
Die typischen Komponenten einer Liebesgeschichte kommen dabei wohl am stärksten in Alexander Puschkins Verwechslungskomödie Schneesturm und F. Scott Fitzgeralds um eine von beiden Beteiligten überhöhte Zufallsbegegnung kreisender Liebe in der Nacht zum Tragen. Eine im Grunde altbewährte Handlung lässt sich aber auch überreich an Absurditäten erzählen, wie in Viktorija Tokarjewas Schweinesieg, in dem gleich drei sehr unterschiedliche Männer Interesse an der zunächst auf einer Geflügelfarm angestellten und nicht unbedingt zur romantischen Heldin prädestinierten Protagonistin entwickeln. Das in allen drei Geschichten präsente Element der Trennung vor dem erneuten Zusammentreffen ist in Ray Bradburys Schwerer Diebstahl noch deutlicher ausgeprägt, geht es hier doch ebenso anrührend wie amüsant um eine zweite Chance in vorgerücktem Alter.
Zu den Beiträgen mit eher heiterem Grundton zählt neben Ingrid Nolls Annika, dem erstaunlichen Beweis dafür, dass man selbst eine Inzestbefürchtung scherzhaft abhandeln kann, auch Isabel Allendes Geschichte Die Liebenden im Guggenheimmuseum, wenngleich hier die Darstellung des ermittelnden Polizisten, der sich mit dem von phantastischen Vorkommnissen geprägten Fall zweier im Liebesrausch in ein Museum eingedrungener Fremder auseinandersetzen muss, den Titelfiguren eindeutig die Schau stiehlt.
Andere Ansätze dagegen sind verstörend, so etwa T. C. Boyles Auf dem Dach der Welt, das bei nüchterner Betrachtung kaum mehr als die Romantisierung eines hartnäckigen Stalkers ist, oder Anne Gavaldas Ambre, der in derber Sprache gehaltene Monolog eines von Drogenexzessen fast zugrundegerichteten Musikstars, der seine schwierige Annäherung an eine Fotografin schildert.
Auch Doris Dörries „I love you, wie klingt denn das?“ erzählt an der Oberfläche zunächst einmal keine erfolgreiche Liebesgeschichte; hier sind es die Hintergrundereignisse, die zu einer überraschenden Schlusspointe führen. Mit der kann auch Bernhard Schlinks Nachsaison aufwarten, wird der Leser doch im letzten Augenblick mit der Frage alleingelassen, ob die Liebe zu einem einzelnen Menschen oder nicht vielmehr die ebenso ausgeprägte zu einem ganzen Umfeld entscheidend ist.
Als einziger Autor der Anthologie rückt Guy de Maupassant nicht die Entstehung oder Entwicklung einer Beziehung in den Mittelpunkt. Das Glück zeigt aus der Perspektive eines außenstehenden Beobachters das Langzeitergebnis dessen, was bei seinem Beginn allen außer den Beteiligten als Amour fou erscheint, und bildet so in gewisser Weise ein Gegengewicht zu der in Tucholskys oben erwähntem Gedicht geäußerten Annahme, es habe schon seinen Grund, dass „beim happy end im Film jewöhnlich abjeblendt“ werde. Zwar wird durch die Anordnung der Sammlung am Ende ausdrücklich diese spöttische Distanz beschworen, doch wirkt das fast wie eine Schutzbehauptung, als wolle man ja nicht zu sehr in die Nähe tatsächlich oder scheinbar naiver Genreliteratur geraten. Nicht jedem glücklichen Ende mag zu trauen sein – aber darum ist zugleich noch längst nicht jedes eine bloße Illusion.

 

Daniel Kampa (Hrsg.): Happy Ends. Liebesgeschichten, die gut ausgehen. Zürich, Diogenes, 2012, 296 Seiten.
ISBN: 978-3257241617


Genre: Anthologie

Törtchen-Mördchen. Köstliche Kurzkrimis

Köstliche Kurzkrimis verspricht der Untertitel der von Petra Busch herausgegebenen und mit beiliegendem Lesezeichen in Form eines blutigen Tortenmessers liebevoll-gruselig gestalteten Anthologie Törtchen-Mördchen und macht so Appetit auf dreiundzwanzig Geschichten und ein bitterböses Gedicht, in denen Morde jeweils in irgendeiner Form mit Backwerk oder Süßigkeiten in Verbindung stehen.
Die Mehrzahl der Texte ist in einer spezifischen Stadt oder Region des deutschsprachigen Raums angesiedelt, wobei die Bedeutung des Handlungsorts schwankt: Von einem Hauch Lokalkolorit bis zur geschickten Ausnutzung topographischer Details ist alles vertreten. Letztere Variante zeigt sich besonders schön in Lisa Graf-Riemanns Amors Bogen, einem kleinen Historienkrimi um einen nicht nur um seine große Liebe gebrachten, sondern auch in seiner beruflichen Existenz gefährdeten Mozartkugelhersteller in Salzburg; mit den engen Gassen und Durchhäusern der Stadt sowie dem unterschiedlichen Gepräge der Bereiche rechts und links der Salzach wird hier unaufdringlich gespielt.
Thematisch ist bei der Vielzahl von Beiträgen natürlich nicht zu vermeiden, dass mehrere Autoren vergleichbare Grundideen aufgreifen: Mehrfach wird etwa der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen angeprangert, und auch das Altern mit all seinen traurigen Begleiterscheinungen steht nicht nur einmal im Mittelpunkt. Oft schwingt ein gerüttelt Maß an Gesellschaftskritik mit, die unter anderem Doppelmoral, Vorurteile und zerstörerische Sozialstrukturen aufs Korn nimmt (bisweilen mit ganz aktuellem Bezug, wenn sich etwa in Beate Maxians A Fremde unterm Steffl unverhofft Verbindungen zwischen dem Wiener Fiakerkutschermilieu und skrupellosen Schleppern ergeben, die die Not von Flüchtlingen ausnutzen).
Dementsprechend ist der Mörder auch gar nicht immer der Böse; außer klassischen verabscheuungswürdigen Fieslingen sind unter den Tätern vom Leben gebeutelte Außenseiter und ihre selbsternannten Beschützer, die Rache für erlittenes Unrecht nehmen oder weit weniger planvoll einfach die Gunst der Stunde nutzen. Langeweile kommt trotz dieser wiederkehrenden Elemente nicht auf, denn alle Verfasser verfolgen unterschiedliche Ansätze und zeigen, dass sich aus ähnlichen Zutaten ganz individuelle Leckerbissen zubereiten lassen.
Neben ernsten, durchaus auch erschütternden Geschichten finden sich von schwarzem Humor geprägte und reichlich skurrile. In wenigen Fällen kann man sich dabei fragen, ob die Lust am mörderischen Slapstick nicht zu sehr mit den Autoren durchgegangen ist und das Groteske stärker in den Vordergrund rückt als die eigentliche Krimihandlung, aber wie man zur bis ins Absurde gesteigerten Schilderung  von Luxusexzessen oder sonderbaren Fetischen steht, ist wohl eher Geschmackssache als objektiv zu entscheidende Qualitätsfrage.
Unbestreitbar ein Genuss ist dagegen, wie manchmal Klischees anzitiert und dann kreativ auf den Kopf gestellt werden, so etwa in Amelie Kirschs Mandel-Manne, in dem sich aus der auf einem heruntergekommenen Parkplatz geschlossenen Bekanntschaft zwischen dem titelgebenden Obdachlosen und einem vernachlässigten Mädchen ein ganz anderer Fall entwickelt, als man erwarten könnte, oder in Sunil Manns Auf dünnem Eis, einer klug aufgebauten Erinnerungsgeschichte um einen lange zurückliegenden Tod, dessen Hintergründe sich ganz anders darstellen, als es zunächst scheint, und einen am Ende ein gewisses Mitleid mit allen Beteiligten empfinden lassen. Ein weiterer Höhepunkt der Sammlung sind Martina Schmoocks Ochsenaugen, bei denen man kaum glauben kann, dass es sich laut biographischem Hinweis um den ersten Krimi der Autorin handeln soll, so atmosphärisch wird die zu drastischen Schritten verleitende Sehnsucht nach dem Bauernhäuschen der Großmutter auf dem norddeutschen Dorf inszeniert. Manchmal besteht der Reiz aber auch weniger im Inhalt an sich als in der ungewöhnlichen Perspektive, so beispielsweise in Peter Godazgars Willi will’s essen, der Erkundung einer nur scheinbar paradiesischen Konditorei durch einen verfressenen Mäuserich.
So vielfältig wie die Geschichten selbst sind auch die ihnen jeweils beigegebenen Rezepte (überwiegend für Kuchen aller Art, daneben für andere Naschereien wie gebrannte Mandeln). Auch abgesehen vom praktischen Nutzen lohnt die Lektüre, da teilweise Anspielungen auf die zugehörigen Krimis eingestreut sind. Britt Reißmann lässt z.B. eine der Protagonistinnen ihres Kuchenräubers von Radebeul dem Rezept noch einen sachdienlichen Tipp in breitestem Sächsisch beifügen, und die Herausgeberin Petra Busch weist bei ihrer Anleitung zur Zubereitung mehrerer Windbeutelvarianten augenzwinkernd darauf hin, dass es jedem selbst überlassen sei, „wie groß und rund“ die Windbeutel werden sollen, hat doch ihr in ein tragikomisches Abenteuer um Mamas achtzigsten Geburtstag verstrickter Held ausgerechnet das Problem, dass sein beträchtlicher Leibesumfang ständig von seiner Übermutter kritisiert wird.
Alles in allem liest sich die Anthologie trotz der ernsten Untertöne flott, leicht und unterhaltsam und weckt die Lust darauf, es auch einmal mit einem längeren Krimi aus dieser oder jener hier präsentierten Feder zu versuchen. Eine Gefahr der Lektüre sollte man allerdings nicht verschweigen: Hunger auf Süßes bekommt man dabei garantiert (und ist so doppelt dankbar für die Rezepte, die es einem gestatten, ihn zu stillen, ohne befürchten zu müssen, dass einem Drogen in der Torte oder Glückskekse mit Nebenwirkungen zum Verhängnis werden).

Petra Busch (Hrsg.): Törtchen-Mördchen. Köstliche Kurzkrimis. Hillesheim, KBV, 2015, 350 Seiten.
ISBN: 978-3954412600


Genre: Anthologie