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Gefangene der Zeit

Sowohl menschliches Handeln allgemein als auch die Geschichtsschreibung, die auf Vergangenes zurückblickt, sind immer ihrer Zeit verhaftet – das ist die Prämisse, die als eine Art lose Klammer die Texte zusammenhält, die in Christopher Clarks Aufsatzband Gefangene der Zeit versammelt sind. Wenn der Untertitel dabei suggeriert, dass Geschichte und Zeitlichkeit von Nebukadnezar bis Donald Trump behandelt werden, ist das etwas zu hoch gegriffen, denn der Schwerpunkt liegt, passend zu den Forschungsinteressen des mittlerweile einem breiten Publikum bekannten Historikers, auf dem 18. bis 21. Jahrhundert. Der rote Faden, der die recht heterogene Zusammenstellung verbindet, ist eher dünn, aber das heißt nicht, dass die Lektüre sich nicht lohnt.

Das von allen Texten zuletzt entstandene Vorwort: Wie aus Gegenwart Geschichte wird nimmt die gerade grassierende Corona-Pandemie in den Blick, die Historikerinnen und Historiker der Neuzeit zwingt, sich stärker mit einer Seuche auseinanderzusetzen, als sie es Clarks Einschätzung nach gemeinhin tun. Im ersten eigentlichen Aufsatz Der Traum des Nebukadnezar oder Gedanken über die Macht geht es weniger um Nebukadnezar als historische Persönlichkeit und mehr um die biblische Geschichte, in der Daniel dem babylonischen Herrscher einen Traum deutet, in dem für Clark der unlösbare Konflikt zwischen dem Streben nach (dauerhafter) Macht und der menschlichen Endlichkeit und Sterblichkeit exemplifiziert ist.

Der nächste Essay, der sich mit dem Deutschland des 18. und 19. Jhs. befasst, bedeutet also einen großen zeitlichen Sprung: In Die Juden und das Ende aller Tage geht es um überwiegend erfolglose protestantische Bestrebungen, Menschen jüdischen Glaubens zum Christentum zu bekehren und dabei auch auf materielle Anreize zu setzen. Die Frage Welche Bedeutung hat eine Schlacht? stellt sich Clark dagegen in einem Vortrag, der zwar anlässlich einer Konferenz zur Schlacht bei Hastings gehalten wurde, sich aber primär mit Ereignissen des 16. und 19. Jahrhunderts befasst.

Als Frage formuliert ist auch der Titel des nächsten Beitrags, Von Bismarck lernen?, in dem Clark nicht nur imaginiert, wie wohl ein Managementratgeber aus der Feder Otto von Bismarcks aussehen würde, sondern auch herausarbeitet, inwieweit dieser in heutiger Zeit von Personen als Vorbild betrachtet wird, die für einen autoritären Politikstil plädieren (und dabei die Zeit- und Systemgebundenheit von Bismarcks eben nicht immer nachahmenswerter Handlungsweise gern verkennen). Findet man hier noch viel Bekanntes wieder, geht es in Liebesgrüße aus Preußen. Fanatismus, Liberalismus und Öffentlichkeit im Königsberg der 1830er Jahre in eher unvertraute Winkel der preußischen Geschichte, wenn ein Skandal um sektiererische Religiosität und eine den Sitten der Zeit widersprechende Sexualmoral nachgezeichnet wird.

Der Kaiser und sein Biograph dagegen ist eine Art erweiterter Rezension von John Röhls mehrbändiger Biographie Wilhelms II. und Reflexion darüber, inwieweit Röhls eigener Lebensweg zwischen Großbritannien und Deutschland sich auf sein wissenschaftliches Arbeiten ausgewirkt haben mag. Dem Thema der Biographie bleibt auch der folgende Aufsatz Leben und Tod des Generalobersten Blaskowitz treu, der am Beispiel eines Offiziers in der Nazizeit verdeutlicht, dass selbst manche Personen, die punktuell Kritik an Gräueltaten übten, in anderer Hinsicht die Terrorherrschaft weiter mittrugen, so dass eine Dichotomie zwischen überzeugten Nazis und Widerstand zu kurz greift, um die tatsächlichen Verhältnisse zu erfassen. Mit derselben Epoche befassen sich auch die Psychogramme aus dem Dritten Reich, wobei der Titel in die falsche Richtung denken lässt, denn ein detailliertes Persönlichkeitsbild wird eigentlich nur von Himmler geliefert, während Hitler mittelbar in einem Abwägen verschiedener historiographischer Einschätzungen gegeneinander erscheint. Ansonsten stehen weniger Individuen im Mittelpunkt als die Strategie der Führungsriege der Nazis, mit alten gesellschaftlichen Eliten zu kooperieren und deren Lebensstil bis zu einem gewissen Grade zu kopieren.

Thematisch ganz anders ist Die Zukunft des Krieges gelagert; hier geht es ausgehend von einem Beispiel aus dem 18. Jahrhundert, aber auch unter Einbeziehung von Science-Fiction und modernen Sachtexten, um Vorhersagen künftiger kriegerischer Konflikte. Naturgemäß sind auch solche Blicke nach vorn von ihrer jeweiligen Gegenwart geprägt und darum in vielen Fällen alles andere als zutreffend. Mit Hoch in heiterer Luft (einer Laudatio auf Jürgen Osterhammel) und Nachruf auf einen Freund (einem Nachruf auf Christopher Bayly) folgen zwei Texte, die jeweils das Wirken eines Historikers umfassend würdigen. Beide Kollegen von Christopher Clark haben das Interesse an der Überwindung eurozentrischer Perspektiven in der Geschichtswissenschaft gemeinsam.

Dagegen widmet sich Clark in Von Nationalisten, Revisionisten und Schlafwandlern Kritik an seinem eigenen Werk Die Schlafwandler. Den offenbar mehrfach geäußerten Vorwurf, er würde darin die deutsche Schuld am Ersten Weltkrieg relativieren, hält er für verfehlt. Vielmehr sei es ihm darum gegangen, aufzuzeigen, dass die deutsche Kriegstreiberei auf fruchtbaren Boden fallen konnte, weil auch in anderen Ländern ein vergleichbar imperialistisches Gedankengut vorherrschte, und die insbesondere im englischen Sprachraum noch gängige Glorifizierung dieses Krieges als verfehlt zu entlarven.

Der abschließende Text Unsichere Zeiten bietet einen Blick auf unsere Gegenwart, in der die alten Gewissheiten des 20. Jahrhunderts ins Wanken geraten und die internationale Politik – erörtert insbesondere am Beispiel von Donald Trump und seinem schwankenden Verhältnis zu Kim Jong Un – unberechenbarer denn je wirkt. Clark sieht einen zentralen Grund dafür darin, dass die bis vor wenigen Jahrzehnten von vielen Menschen geteilte Zukunftsvision eines unaufhaltsamen Fortschritts hin zu immer mehr Demokratie, Wohlstand und technologischer Perfektion an Strahlkraft verloren und stattdessen angstvollen Endzeitszenarien aller Art Platz gemacht habe. So mündet die Betrachtung der Vergangenheit in diesem Buch letztendlich in den Aufruf, über die Zukunft nachzudenken und gerade in unserer Zeit voller Krisen und Unwägbarkeiten neue Pläne und Hoffnungen zu entwickeln – ein beachtenswerter Denkanstoß.

Die Übersetzung von Norbert Juraschitz transponiert Clarks eingängigen Stil insgesamt überzeugend ins Deutsche, trifft aber an einigen Stellen nicht immer exakt den passenden Ausdruck (wenn z.B. behauptet wird, Hitler habe gern „seine eigenen Wasserfarben“ [S. 217] verschenkt, fragt man sich, ob nicht doch eher Aquarelle im Sinne von Bildern – englisch watercolours – gemeint sein könnten). Auffällig ist auch, dass dort, wo dasselbe Zitat in unterschiedlichen Aufsätzen zweimal auftaucht, jedes Mal eine andere Übersetzung gewählt wird (so etwa drohte Kim Jong Un je nach Version entweder eine „schockierende, wirkliche Maßnahme“ [S. 256] an oder mit einer „schockierenden eigentlichen Aktion“ [S. 318]). Hier hätte man sich ein etwas genaueres Lektorat gewünscht.

Christopher Clark: Gefangene der Zeit. Geschichte und Zeitlichkeit von Nebukadnezar bis Donald Trump. München, DVA, 2020, 336 Seiten.
ISBN: 978-3-421-04831-8


Genre: Geschichte

1066. Englands Eroberung durch die Normannen

Die Eroberung Englands durch die Normannen im Jahre 1066 gilt bis heute als wichtige Zäsur nicht nur in der britischen, sondern in der europäischen Geschichte insgesamt und verfügt mit dem Teppich von Bayeux auch über eine der eindrucksvollsten historischen Quellen überhaupt. Entsprechend viel ist zu dem Thema schon geschrieben worden. Dominik Waßenhoven fügt mit 1066 dieser Literatur eine kompakte, transparent quellenkritische und gut lesbare Einführung hinzu, die allerdings an einer nicht hundertprozentig einleuchtenden Entscheidung bezüglich der Darstellungsreihenfolge krankt.

Das Positive zuerst: Waßenhoven beschreibt mit viel Sachverstand Ursachen, Verlauf und Folgen des Konflikts, der in der Schlacht bei Hastings (14. Oktober 1066) zwischen dem normannischen Herzog Wilhelm dem Eroberer und dem angelsächsischen König Harold Godwinson, der dabei den Tod fand, kulminierte. Besonders greifbar werden in seiner Schilderung die engen familiären, diplomatischen, aber auch immer wieder kriegerischen Kontakte, die es zwischen den Eliten Englands, der Normandie und Skandinaviens im 11. Jahrhundert gab. England selbst erscheint als einerseits erfolgreich kosmopolitisches und vielsprachiges, andererseits aber auch von Machtkämpfen der Führungsschicht in sich zerrissenes Gebiet, in dem schon zwischen den kurz aufeinanderfolgenden Eroberungsversuchen durch Harald den Harten von Norwegen (der bei Stamford Bridge scheiterte) und durch Wilhelm (der erfolgreich war, seine Herrschaft aber auch nach Hastings noch brutal gegen erhebliche Widerstände durchsetzen musste) nicht unbedingt Ruhe und Frieden herrschten. Rücksichtslosigkeit oder gar Grausamkeit war dabei auf allen Seiten nicht nur gegenüber politischen Gegnern – bisweilen einschließlich eigener Verwandter – an der Tagesordnung, sondern auch im Umgang mit der einfachen Bevölkerung.

Dass gerade Wilhelm sich durchsetzen konnte, war mithin nicht vorgezeichnet, und Waßenhoven macht eindringlich deutlich, dass die von ihm bejahte Charakterisierung von 1066 als „Epochenjahr“ (S. 117) sich daraus ergibt, dass die Eroberung Englands durch die Normannen und daraus resultierende Vereinigung der Herrschaft über England und die Normandie längerfristig Bestand hatten, was mehreren historischen Zufällen geschuldet war.

Diesem Bewusstsein, dass die Konsolidierung von Wilhelms Herrschaft nach 1066 letztlich entscheidender war als die Eroberung an sich, ist möglicherweise auch der Einfall geschuldet, die chronologische Nacherzählung und Deutung der Ereignisgeschichte mit einem eigenen Kapitel zum Thema Legitimation und Interpretation zu durchbrechen, das zwischen der Darstellung des Widerstands gegen Wilhelm nach 1066 und dem abschließenden Abschnitt über die Folgen der Eroberung eingefügt ist. Waßenhoven untersucht darin minutiös, wie Wilhelms und Harolds Thronansprüche jeweils begründet wurden, und kommt zu dem interessanten Schluss, dass angesichts von Unterschieden im normannischen und angelsächsischen Recht durchaus beide Männer jeweils davon ausgegangen sein könnten, der legitime Nachfolger Eduards des Bekenners zu sein.

Aufgrund der Auslagerung dieser Überlegungen in ein eigenes Kapitel fehlen jedoch Eduards Nachfolgeregelungen (die vermutlich erst Wilhelm, dann Harold bevorzugten) in den ansonsten relativ linear aufgebauten Ausführungen zum Vorlauf der Eroberung. Wilhelms Entschluss, in England einzufallen, wird hier zunächst nicht weiter motiviert. In einer Einführung, die ansonsten – auch dank eines Glossars und übersichtlicher Stammbäume und Karten – sehr gut darauf ausgelegt ist, einem fachfremden Publikum ohne größere Vorkenntnisse das Verständnis der historischen Vorgänge zu erleichtern, ist diese Auskoppelung darum nicht auf den ersten Blick nachvollziehbar.

Sieht man von diesem Detail ab, bietet 1066. Englands Eroberung durch die Normannen jedoch einen soliden Überblick, der sich für alle eignet, denen etwa Jörg Peltzers empfehlenswertes ausführlicheres Buch über dieselben Ereignisse zu umfangreich ist.

Dominik Waßenhoven: 1066. Englands Eroberung durch die Normannen. München, C.H. Beck, 2016, 128 Seiten.
ISBN: 978-3-406-69844-6


Genre: Geschichte

Reise zum Ursprung der Welt

Heliopolis, am Südostrand des Nildeltas gelegen, war jahrtausendelang ein bedeutendes Heiligtum. Anders als bei den bekannten oberägyptischen Tempeln ist von aller Pracht und Herrlichkeit jedoch bis auf einen einzigen noch aufrecht stehenden Obelisken wenig offen Sichtbares erhalten geblieben. Heute liegt Heliopolis in der Millionenmetropole Kairo und ist nicht nur von modernen Baumaßnahmen, sondern auch von einem steigenden Grundwasserspiegel bedroht. Das klingt zunächst einmal eher unspektakulär, doch mit dem Urteil läge man falsch, wie Dietrich Raue in Reise zum Ursprung der Welt beweist. Mit der Darstellung der Geschichte von Heliopolis und der neueren Ausgrabungen dort, die vor allem durch die Auffindung einer Kolossalstatue Psammetichs I. 2017 mediale Aufmerksamkeit fanden, ist ihm ein beeindruckendes Buch gelungen, das den Reiz der Ägyptologie über Fachgrenzen hinaus nachempfindbar macht.

Heliopolis (altägyptisch: Junu) galt den alten Ägyptern nicht nur als Ort der Schöpfung oder vielmehr Emanation der Welt durch den Gott Atum, sondern war auch eng mit dem Mythos um Isis, Osiris, Seth und Horus verbunden, einer Geschichte also, die unter anderem von der Durchsetzung rechtmäßiger Erbansprüche gegen eine gewaltsame Usurpation handelt. Dadurch gewann Heliopolis eine zentrale Bedeutung für die Herrschaftslegitimation. Nur ein König, der sich hier überzeugend als Garant der rechten Weltordnung inszenieren konnte, hatte Aussichten, dauerhaft an der Macht zu bleiben. Das ganz irdische Heliopolis war darum von Anfang an auch mit dem Heliopolis der religiösen, politischen und nicht zuletzt auch literarischen Vorstellungswelt verknüpft.

Es ist diese Koppelung der Imagination an einen realen Ort, die Raue im ersten Teil des Buchs – Auf der Suche nach dem Ursprung der Welt – eindringlich heraufbeschwört. Dicht an den Quellen arbeitend, macht er das aus heutiger Sicht oft fremdartig anmutende Weltbild des alten Ägypten mit seiner Fülle von Gottheiten (die auch durchaus schon einmal in Hundertfüßergestalt auftreten konnten) fass- und nachvollziehbar.

Der zweite, unter Mitarbeit von Aiman Ashmawy verfasste Teil – Kleine Geschichte eines großen Tempels – schildert chronologisch die Entwicklung des Tempels von Heliopolis, die schon im 4. Jahrtausend v. Chr. mit der Entstehung einer Siedlung an einem topographisch markanten Punkt begann, an dem es ab dem 3. Jahrtausend ein Heiligtum mit enger Anbindung an das Königshaus gab. Jahrhundertelang verewigten sich hier Pharaonen durch Stiftungen, Statuen und Inschriften oder ließen bauliche Erneuerungen größeren und kleineren Umfangs vornehmen. Wichtig war dabei oft auch der Rückgriff auf ältere Kunststile oder Sprachstufen, um die eigene Verbundenheit zur Tradition zu betonen und das jeweilige Jetzt als eine Art Renaissance einer vermeintlich guten alten Zeit zu präsentieren.

Erst im Hellenismus setzte – vermutlich nach Zerstörungen durch die Perser – der Niedergang von Heliopolis ein. Von der römischen Antike an wurden Kunstwerke wie z.B. Obelisken an andere Orte verschleppt, und die Tempelgebäude dienten als Steinbruch. Noch im islamischen Mittelalter wurden Steine aus Heliopolis in Kairo verbaut, doch zugleich gab es in dieser Zeit erste Stimmen, die sich gegen eine Zerstörung der altägyptischen Bauwerke wandten und ihren Wert als Zeugnisse vergangener Epochen betonten. Das andere, literarische Heliopolis bestand jedoch bis in die Neuzeit fort und wurde immer wieder aktuellen religiösen und ideellen Gegebenheiten angepasst. Beispielsweise existieren örtliche Überlieferungen, die Heliopolis mit dem aus dem Alten Testament bekannten Joseph in Verbindung bringen und ihn gar auf erhaltenen Reliefs dargestellt sehen wollen.

Gerade der schlechte Erhaltungszustand der Stätte, die nur über ein kleines Freilichtmuseum verfügt und nicht zu den großen Touristenattraktionen Ägyptens zählt, bringt sie aber immer wieder mit der umliegenden modernen Großstadt und ihrem Bedarf an Bauland (oder auch an Platz für Müllkippen) in Konflikt, so dass sich die heutigen Ausgrabungen, zu deren Leitern Dietrich Raue zählt, oft schwierig gestalten. Auch die unsicheren politischen Verhältnisse machen den Archäologen ihre Tätigkeit nicht einfacher. Dennoch berichtet Raue mit viel Begeisterung von seinen Forschungsergebnissen und -erlebnissen, oft auch mit merklichem Sinn für Situationskomik (wenn etwa bei der Arbeit mit ausgebüxten Kühen oder Schafbockattacken gerechnet werden muss).

Dank der üppigen Bebilderung und insgesamt gelungenen Gestaltung des Buchs stimmt auch der äußere Rahmen für diesen Ausflug in ferne und jüngere Zeiten, der neben der titelgebenden Reise zum Ursprung der Welt auch eine schrittweise Rückreise ins Heute umfasst und ein großes Lektürevergnügen nicht nur für Archäologiebegeisterte bietet.

Dietrich Raue: Reise zum Ursprung der Welt. Die Ausgrabungen im Tempel von Heliopolis. Unter Mitarbeit von Aiman Ashmawy. Darmstadt, Philipp von Zabern (WBG), 2020, 384 Seiten.
ISBN: 978-3-8053-5252-9


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Gladius

Der Gladius, das Kurzschwert, zählte zu den wichtigsten Waffen römischer Soldaten. Um diese – konkret um Roms Legionen in Germanien – geht es in Thomas Fischers spannender Überblicksdarstellung, in der er kenntnisreich und prägnant das spannungsgeladene Verhältnis zwischen Römern und Germanen unter Betonung der militärhistorischen Aspekte schildert.

Schon seit dem Zusammenstoß Roms mit den Kimbern und Teutonen, dann aber spätestens von den Feldzügen Caesars an bis in die Spätantike flammte der Konflikt zwischen dem römischen Reich und wechselnd zusammengesetzten germanischen Gruppierungen immer wieder neu auf. Gleichwohl kam es auch zu Austausch oder sogar Kooperation: So dienten häufig Germanen im römischen Militär, und was Kleidung und Bewaffnung betraf, lernte man mit der Zeit viel vom jeweiligen Gegner. Insofern mutet es geradezu folgerichtig an, dass mit dem Frankenreich einer der langlebigsten Nachfolgestaaten des Imperium Romanum gerade aus einer Synthese germanischer und römischer Elemente hervorging. Als große vertane Chance der Geschichte sieht  Fischer es denn auch, dass Kaiser Antoninus Pius es im 2. Jahrhundert ablehnte, schon frühzeitig aufnahmewillige Germanen ins römische Reich zu integrieren; auf diesem Wege wären möglicherweise manche Verwerfungen der späteren Völkerwanderungszeit zu verhindern gewesen.

Das Buch ist chronologisch aufgebaut und gibt unter Berücksichtigung sowohl von Schriftquellen als auch von archäologischen Funden die bewegte Ereignisgeschichte von der Zeit Caesars bis zum Ende des weströmischen Reichs wieder. Eingefügt in dieses Kontinuum sind separate Kapitel, die Bewaffnung, Ausrüstung, Wehrbauten und militärische sowie administrative Infrastruktur der jeweils behandelten Epoche bis ins Detail vorstellen. Besonders herausragende archäologische Fundplätze und Funde vom Römerkastell bis zum germanischen Fürstengrab erfahren dabei in eigenen kleinen Abschnitten eine besondere Würdigung. Auch wenn der Buchtitel zunächst eine Konzentration auf die römische Seite nahezulegen scheint (die natürlich durch ihre Schriftkultur auch um einiges besser dokumentiert ist), kommt der Blick auf ihre germanischen Gegner dabei nie zu kurz. Auch Vor- und Frühgeschichtsinteressierte, denen die Verhältnisse in der Germania Magna stärker am Herzen liegen als die in den römischen Provinzen, finden hier also zahlreiche für sie wertvolle Informationen.

Fischers Stil liest sich angenehm und flüssig. Missverständliche Formulierungen finden sich nur an ganz wenigen Stellen (wenn es etwa heißt, dass „auch der hl. Augustinus den Vandalen zum Opfer“ gefallen sei, S. 257, könnte man das so fehldeuten, dass Augustinus durch direkte Gewalt der Vandalen zu Tode gekommen sei; nach allem, was wir wissen, starb er zwar während der Belagerung der Stadt Hippo Regius durch die Vandalen, aber krankheitsbedingt).

Besonders hervorzuheben ist die üppige Bebilderung des Bands, die über hilfreiches Kartenmaterial und Fundillustrationen hinaus auch anschauliche Rekonstruktionen zu bieten hat. Besonders die Zeichnungen von Boris Burandt, dessen einprägsame Arbeiten schon in der Braunschweiger Ausstellung (2013/2014) zur Schlacht am Harzhorn Römer und Germanen wieder zum Leben erweckten, stechen hier hervor.

Obwohl Thomas Fischer in aller wissenschaftlichen Redlichkeit betont, dass der Erkenntnisstand von Archäologie und Geschichtswissenschaft notwendigerweise immer unvollständig und zeitverhaftet bleibt, hat Gladius dank all dieser Vorzüge durchaus das Zeug dazu, zu einem Klassiker zu werden. Wer einen Überblick über die Militärgeschichte der Römer in Germanien gewinnen will, kann derzeit kein besseres Buch finden.

Thomas Fischer: Gladius. Roms Legionen in Germanien. Eine Geschichte von Caesar bis Chlodwig. München, C.H. Beck, 2020, 344 Seiten.
ISBN: 978-3-406-75616-0


Genre: Geschichte

The First Fossil Hunters

Fossilien und die griechisch-römische Antike sind zwei Themenkomplexe, die eher selten in einem Atemzug genannt werden. Adrienne Mayor beweist in The First Fossil Hunters jedoch, dass es sich lohnt, der Frage nachzugehen, wie die Menschen des Altertums mit Fossilienfunden umgegangen sind, denn die Spurensuche fördert Interessantes und Überraschendes zutage.

Eine Hürde muss man bis dahin allerdings erst einmal nehmen: In ihrer Einleitung klopft Mayor sich etwas zu ungeniert dafür auf die Schulter, die Wissenschaft diesbezüglich ein gutes Stück vorangebracht zu haben. Hat man diese Selbstbeweihräucherung überstanden, beginnt jedoch eine recht spannende Mischung aus Forschung und persönlicher Entdeckungsreise.

Zum Ausgangspunkt nimmt Mayor den Greifen, ein Mischwesen aus Adler und Raubkatze, das für sie unter den Fabeltieren der Antike eine Sonderstellung einnimmt: Anders als bei Sphinx, Pegasus und anderen vergleichbaren Kreaturen gibt es keine Sagen um einen konkreten Greifen, sondern nur literarische Überlieferungen über angeblich goldhütende Greifen allgemein im asiatischen Raum. Mayor bringt diese Schilderungen mit in derselben geographischen Region offen zutage tretenden Funden von Dinosaurierfossilien der Gattung Protoceratops in Verbindung. Diese Knochen – so ihre spekulative, aber durchaus bestechende These – könnten die im Altaigebiet siedelnden Nomaden zu Geschichten über vierfüßige, aber mit einem Schnabel versehene Tiere, mithin also Greifen, inspiriert haben, eine Fossiliendeutung, die sich dann verselbständigt und bis zu anderen Völkern verbreitet habe.

Während für diese Theorie, deren entscheidender Zwischenschritt von der heute nicht mehr zu belegenden mündlichen Überlieferung einer schriftlosen Kultur abhängt, letztgültige Beweisen fehlen, kann Mayor im Folgenden Texte und paläontologische Funde direkter zusammenbringen, wenn sie untersucht, inwieweit Schriftquellen, die von der Entdeckung ungewöhnlicher Gebeine berichten, tatsächlich von Orten berichten, an denen bis heute immer wieder Überreste von Mammuts, prähistorischen Giraffen oder anderen urzeitlichen Tieren zum Vorschein kommen. Tatsächlich scheint hier die Überschneidung sehr groß zu sein, so dass man davon ausgehen kann, dass Griechen und Römer auf Fossilien stießen und sie im Rahmen ihres Weltbilds zu interpretieren versuchten.

Einige der für übergroße Knochen gefundenen Erklärungen muten nach heutigem Kenntnisstand naiv an (so glaubte man mehrfach, auf die Überreste von Riesen oder hünenhaften Helden der Vorzeit gestoßen zu sein). In anderen Fällen dagegen war man auch in der Antike schon mit Funddeutungen bemerkenswert nahe an der Wahrheit. So verband sich z.B. mit einer Fundstätte von Fossilien prähistorischer Elefantenarten in Griechenland die Sage, der Gott Dionysos habe Elefanten aus Indien dorthin geführt, um sie in den Kampf gegen die Amazonen zu schicken. Hier war man trotz aller mythischen Verbrämung schon sehr nahe daran, das korrekte Tier zu identifizieren.

In manchen Fällen ist sogar archäologisch erwiesen, dass in der Antike Fossilien entdeckt und als etwas Besonderes betrachtet wurden. So wurden etwa auf der griechischen Insel Samos und in Ägypten Fossilien gezielt als Weihegaben in Tempeln deponiert. Einen interessanten indirekten Beleg bildet auch eine Vasenmalerei, die Herakles im Kampf mit einem Monster zeigt, dessen Kopf in der Art eines fossilen Schädels dargestellt ist.

Ein Ausblick auf das umgekehrte Spiel mit Sagen und Fabelwesen – nämlich die antiken wie modernen Versuche, teils mit Fälschungsabsicht, teils nur im Scherz „Beweise“ dafür wie etwa ein vermeintliches Zentaurenskelett zu fabrizieren – beschließt Mayors Blick auf den Umgang mit Fossilien im Altertum, führt aber zugleich schon inhaltlich ein gutes Stück weit davon weg. Insgesamt bieten die First Fossil Hunters aber dennoch anregende Lektüre, die einem Lust darauf macht, tiefer ins Thema einzusteigen.

Adrienne Mayor: The First Fossil Hunters. Dinosaurs, Mammoths, and Myth in Greek and Roman Times. With a new introduction by the author. Princeton und Oxford, Princeton University Press, 2011, 362 Seiten.
ISBN: 978-0-691-15013-0


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Frühe Kulturen der Ägäis

Der Titel ist Programm: In Frühe Kulturen der Ägäis stellt Klaus Tausend unter dem ansprechenden Untertitel Die Ahnen der homerischen Helden die Kulturen des Ägäisraums vom Neolithikum bis in die mittlere Bronzezeit vor, teilweise mit einzelnen Ausblicken in spätere Epochen. Ein zweiter Band, der sich mit der Spätbronzezeit bis frühen Eisenzeit und insbesondere mit den Mykenern befassen soll, ist in Planung. Gedacht ist die Einführung nicht nur für das Studium, sondern auch für ein an der Epoche interessiertes breites Publikum. Anders als in einer reinen Fachpublikation wird dementsprechend auch überwiegend auf eine Auseinandersetzung mit Forschungsdebatten verzichtet, sondern vor allem nüchtern die wissenschaftliche Mehrheitsmeinung referiert.

Nach einer Einleitung, die nicht nur einen knappen forschungsgeschichtlichen Überblick bietet, sondern auch die Fragwürdigkeit des Ansatzes erläutert, aus den griechischen Sagen allzu konkrete Rückschlüsse auf tatsächliche historische Geschehnisse ziehen zu wollen, ist die Darstellung geographisch gegliedert. Jeweils ein Kapitel ist Troia, Zypern, den Kykladen, Kreta, Aigina und dem griechischen Festland gewidmet. In sich sind diese Kapitel chronologisch geordnet und schildern die Siedlungsgeschichte und kulturelle Entwicklung der einzelnen Gebiete. Eingangs erleichtert immer eine Tabelle zur örtlich unterschiedlichen Periodisierung der prähistorischen Epochen die Orientierung. Im Fließtext werden die allgemeinen Informationen dadurch aufgelockert, dass in farblich abgesetzten Kästen einzelne Fundorte als Beispiele beschrieben werden, sei es nun, dass sie besonders typisch für eine bestimmte Zeit sind oder dass sie bemerkenswerte Besonderheiten zu bieten haben. Hier erfährt man z.B. Näheres zu bestimmten Siedlungsschichten von Troia oder zum Palast von Knossos.

Wohl auch dank des guten Forschungsstands zu den dort lebenden Minoern enthält das Kapitel über Kreta zusätzlich eigene Abschnitte über Gesellschaft und Wirtschaft, Religion, Gräber und Bestattungen, Architektur und Kunst sowie Seefahrt und Schiffe, während diese Aspekte bei den anderen Regionen in die Unterkapitel zu den jeweils behandelten Epochen integriert sind.

Kartenmaterial, Grundrisse, Fotos einzelner Funde oder Ausgrabungsstätten und schematische Skizzen illustrieren den Band und tragen zur Anschaulichkeit bei. Insgesamt ermöglicht das Buch so einen übersichtlichen Einstieg in eine frühe Phase der Geschichte Griechenlands und ausgewählter angrenzender Regionen, der in dieser Kompaktheit sonst bisher gefehlt hat.

Nur das Korrekturlesen ist offenbar eher flüchtig erfolgt. Dieses Versäumnis wäre zu vernachlässigen, wenn dabei nur harmlose Fehler wie der übersehen worden wären, dass das Kapitel zur Insel Aigina die sonderbare Überschrift „Aiginabook“ trägt (S. 139, im Inhaltsverzeichnis, S. 6, dagegen schlicht „Aigina“). Leider brechen aber auch ganze Sätze ab, ohne dass man aus dem Kontext ihren Fortgang erraten könnte (z.B. S. 87), oder sind durch eine unglückliche Absatzgestaltung auseinandergerissen (z.B. S. 36 und 49). Falls es irgendwann zu einer Neuauflage der ansonsten sehr nützlichen Einführung kommt, besteht hier noch Verbesserungspotenzial.

Klaus Tausend: Frühe Kulturen der Ägäis. Band 1: Die Ahnen der homerischen Helden. Stuttgart, Kohlhammer, 2021, 194 Seiten.
ISBN: 978-3-17-036338-0


Genre: Geschichte

Die Alpen

Die Alpen, die wie ein Querriegel den mediterranen Raum von Mitteleuropa trennen, haben auf Wetter, Flora und Fauna des Kontinents entscheidende Auswirkungen. Aber auch das Gebirge selbst bildet eine spezifische Landschaftsform mit einer Fülle von Vegetationszonen und kulturellen Eigenheiten, die sich im Laufe der Jahrhunderte durch die vom Naturraum bestimmten Lebens- und Wirtschaftsformen herausgebildet haben. Hansjörg Küster nimmt in der kompakten Einführung Die Alpen. Geschichte einer Landschaft sowohl die Naturgeschichte als auch die historische Entwicklung der Region von den Anfängen bis in die heutige Zeit in den Blick.

Nach einer knappen, persönlich gehaltenen Einleitung, in der der Autor seinen eigenen Bezug zu den Alpen erläutert, werden zunächst Geographie, Geologie und Vegetation der Alpen skizziert, bevor in den folgenden Kapiteln die Besiedlung der Alpen durch den Menschen in den Mittelpunkt rückt. Schnell wird dabei deutlich, dass die Alpen keine unberührte Naturlandschaft sind und schon vor Klimawandel und Massentourismus ein erheblicher menschlicher Einfluss auf das Gebirge bestand. So verschiebt z.B. die in den Alpen betriebene Viehwirtschaft die Waldgrenze in etwas tiefere Lagen, als sie unter unbeeinflussten Bedingungen zu finden wäre.

Ein eigenes Kapitel ist der Schweiz als dem Alpenland schlechthin gewidmet, für deren bis heute beibehaltenen Sonderweg im Vergleich zum restlichen Europa historisch schon recht frühe Wurzeln auszumachen sind. Ein weiterer Abschnitt nimmt alpenländisches Brauchtum generell unter die Lupe und zeigt auf, dass Teile davon – wie etwa die als typisch geltenden Trachten – jünger als oft angenommen sind und ihre Entstehung erst dem 19. bis 20. Jahrhundert zu verdanken haben, der gleichen Epoche, in der sich auch ein bis in die heutige Zeit immer intensiver betriebener Tourismus entwickelte, der durchaus seine Schattenseiten hat.

Im Vergleich zu der bei aller Kürze des Buchs doch sorgfältig nachgezeichneten Geschichte des Alpenraums wirkt das Schlusskapitel zur Gegenwart der Alpen, in dem gerafft Industrie, Verkehrsinfrastruktur, Wintersport, Klimawandel und Landschaftsschutzprobleme skizziert werden, doch ein wenig zu knapp. Hier hätte man gern noch mehr Einzelheiten erfahren.

Insgesamt aber bilden Die Alpen einen lesenswerten ersten Einstieg in die Beschäftigung mit einem Gebirge, das in den Augen vieler Mitteleuropäer sicher bis heute „die Berge“ schlechthin verkörpert.

Hansjörg Küster: Die Alpen. Geschichte einer Landschaft. München, C.H. Beck, 2020, 128 Seiten.
ISBN: 978-3-406-74828-8


Genre: Geschichte, Sachbuch allgemein

Gebrannte Erde

Keramik zählt zu den häufigsten archäologischen Funden aus dem Altertum und ist in den Museen in reicher Fülle vertreten. Ihre Bedeutung beschränkt sich nicht auf den unbestreitbar hohen künstlerischen Wert mancher Stücke, sondern besteht auch darin, dass sie eine wichtige Hilfestellung zur Datierung von Fundkomplexen geben kann. Aus Laiensicht wirkt die Bandbreite von Gestaltungsformen und Funktionen der antiken Keramikobjekte jedoch schnell verwirrend. Hier will Wolfram Letzner mit seiner Einführung Gebrannte Erde. Antike Keramik – Herstellung, Formen und Verwendung Abhilfe schaffen. Der kompakte, reich bebilderte Band macht sowohl mit der griechischen als auch mit der römischen Keramik vertraut.

Nach einem einleitenden Abschnitt, der sich mit der im Dunkeln liegenden Begriffsherkunft des ursprünglich aus dem Griechischen stammenden Begriffs „Keramik“ und dem Material an sich befasst, unterrichtet ein epochenübergreifendes Kapitel über Abbau und Aufbereitung des Tons und über die Besonderheiten der Gefäßproduktion in der Antike, von der Töpfertechnik über den Brand bis hin zur Werkstattorganisation.

Das Kapitel zur griechischen Keramik präsentiert vor allem Gefäße, die bei Tisch, im Ritual oder zu kosmetischen Zwecken eingesetzt wurden. Natürlich spielt hier auch die Vasenmalerei eine wichtige Rolle, da an griechischen Gefäßen bis heute vor allem ihr Bildreichtum fasziniert. Im Kapitel zur römischen Keramik steht die auf den ersten Blick schlichter gestaltete Terra Sigillata, das bekannte rote Tafelgeschirr, im Mittelpunkt. Abermals epochenübergreifend abgehandelt wird in einem eigenen Kapitel die Schwerkeramik, beispielsweise Transportamphoren und fassähnliche Dolia, die zu Lagerzwecken dienten. Kurze Abschnitte widmen sich den tönernen Lampen der Antike, der Baukeramik, dem Problem von Fälschungen antiker Gefäße und der Nutzung von Keramik zur Datierung von Ausgrabungsstätten. Eine knappe Bibliographie und ein Glossar beschließen den Band.

Zusätzlich liefern im ganzen Buch immer wieder vom übrigen Text abgesetzte Kästen knappe Überblicksinformationen zu Spezialthemen, etwa zu den Kontexten, in denen Keramik genutzt wurde wie z.B. beim griechischen Symposion oder in der römischen Küche. Hilfreich sind die zahlreichen Illustrationen, die unter anderem ermöglichen, verschiedene Gefäßtypen unterscheiden zu lernen. Neben solchem Grundlagenwissen vermittelt Wolfram Letzner aber immer wieder auch verblüffende Einzelheiten am Rande, so etwa die, dass in der Zeit um Christi Geburt Schiffe um riesige tönerne Dolia herumgebaut und dann quasi als eine Art Tankschiffe genutzt wurden, oder dass große Amphoren gelegentlich als Baumaterial dienten, um die Statik zu verbessern. Solche Details lockern die ansonsten auf das Wesentliche beschränkte Einführung auf und animieren dazu, sich noch näher mit dem Thema zu befassen. Tiefergehende Analysen kann das Buch aufgrund seines begrenzten Umfangs natürlich nicht liefern. Für den ersten Einstieg bietet Gebrannte Erde jedoch genau das, was man braucht, um sich zurechtzufinden.

Wolfram Letzner: Gebrannte Erde. Antike Keramik – Herstellung, Formen und Verwendung. Mainz, Nünnerich-Asmus, 2015, 128 Seiten.
ISBN: 978-3-943904-98-7

 


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Die Religion der Römer

Es ist nicht einfach, Die Religion der Römer – so der Titel der Überblicksdarstellung von Jörg Rüpke – methodisch zu erfassen. Zwar gab es im alten Rom durchaus Schriften über Religiöses (ob nun Mythen oder Rituale), aber, anders als in den heute dominierenden monotheistischen Religionen, keinen für alle verbindlichen kanonischen Grundlagentext und abgesehen von einigen Mysterienkulten und Vereinen auch keine feste Glaubenszugehörigkeit, sondern nur Partizipation an religiösem Handeln. Ähnlich wie in seinem jüngeren Werk Pantheon baut Rüpkes Argumentation daher auf der Annahme auf, dass man neuzeitliche Begriffe von Religion und Religiosität nicht ohne Abstriche auf die Antike übertragen kann, wenn man deren einerseits offeneres, andererseits aber viel enger mit dem Alltagsleben verflochtenes religiöses System verstehen möchte.

Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf dem stadtrömischen Bereich, in dem sich besonders gut beobachten lässt, wie eng die Religionspraxis der Eliten mit der Politik verknüpft war, übrigens auch, was die Übernahme von religiösen Ämtern betraf, die überwiegend nicht in Form eines Berufspriestertums, sondern als zusätzliche Aufgaben anderweitig tätiger Personen existierten (z.B. war der eher als Autor, Redner und Politiker im Gedächtnis gebliebene Cicero gleichzeitig auch Augur, also damit betraut, durch die Beobachtung von Vögeln Vorzeichen zu erkennen). Neben dieser untrennbar mit dem sozialen und politischen Gefüge des Stadtstaats verknüpften Form von Religion gab es jedoch zahlreiche Spielarten privater Religiosität. So erfährt man beispielsweise, welche Ratschläge Cato der Ältere für ein Trankopfer an Jupiter im Rahmen des Kults auf einem Landgut gibt (wobei der Hausherr und seine familia am Ende mehr vom Wein abbekommen als der Gott).

Während die römische Götterfülle im Text nur eine Nebenrolle spielt (und es bei der Lektüre sicher nicht schadet, diesbezüglich schon ein paar Vorkenntnisse mitzubringen, um die genannten Gottheiten zuordnen zu können), wird rituelles Handeln vom Opfer über das Gelübde bis hin zum Umgang mit Geburt und Tod ausführlich geschildert. Besondere Aufmerksamkeit wird auch der Bedeutung von Raum und Zeit im religiösen Kontext gewidmet. Daneben ist noch Platz für mancherlei Kuriosa, die aus heutiger Sicht eher in den Bereich des Aberglaubens fallen (wie z.B. eine auch in einer Abbildung präsente, nach Art einer Voodoopuppe mit Nadeln gespickte Tonstatuette, die im Rahmen eines Liebeszaubers eingesetzt wurde).

Generell sieht Rüpke dabei die in die Christianisierung mündende religiöse Entwicklung der Kaiserzeit von zwei Tendenzen geprägt, einerseits vom Versuch der Kaiser, die in der Republik noch auf viele Schultern verteilte religiöse Autorität immer stärker zu monopolisieren, andererseits aber auch von dem zunächst von einzelnen Kulten getragenen Bestreben, die Religion als vom Alltag und von der Politik getrennte Kategorie zu etablieren. Obwohl er vor vereinfachenden Modellen wiederholt warnt, gelingt es ihm so, auch für Laien nachvollziehbare Verständniszugänge in sein bisweilen durchaus sperriges Thema zu eröffnen. Alles in allem bildet Die Religion der Römer damit eine anregende Einführung, die viele Denkanstöße bereithält.

Nur das Lektorat war wohl nicht in Bestform. Anders ist nicht zu erklären, dass in der Bildlegende auf S. 181 ein happiger Fehler stehen geblieben ist: Wenn dort von der „Maison Carré aus Nîmes (Narbo)“ die Rede ist, fragt man sich, warum niemandem aufgefallen ist, dass Nîmes, das antike Nemausus, nicht mit Narbo, dem heutigen Narbonne, identisch ist. So gut erhalten und schön die Maison Carrée (tatsächlich in Nîmes) auch ist – das hätte, gerade in der 3. Auflage des Buchs, eigentlich nicht passieren dürfen.

Jörg Rüpke: Die Religion der Römer. 3. Aufl. München, C.H. Beck, 2019, 264 Seiten.
ISBN: 978-3-406-73774-9


Genre: Geschichte

Militärgeschichte des Mittelalters

Die Militärgeschichte des Mittelalters ist – so führt Martin Clauss in seiner Einleitung zu dem gleichnamigen Band aus – in mehrerlei Hinsicht ein problematisches Gebiet, einmal aufgrund der Quellenlage, die für einen großen Teil des Jahrtausends zwischen 500 und 1500 zu wünschen übrig lässt, dann aber auch, weil die deutsche Forschung der englischen und französischen um mehrere Jahrzehnte hinterherhinkt, da das Thema nach Nazizeit und Zweitem Weltkrieg hierzulande nachvollziehbarerweise mit großer Skepsis betrachtet wurde.

Vielleicht auch dadurch bedingt, wechselt der geographische Schwerpunkt in der chronologisch aufgebauten Militärgeschichte des Mittelalters relativ häufig. Clauss greift oft gut Bekanntes und Erforschtes heraus, so dass man nach der ohnehin nicht mit modernen Ländergrenzen in Deckung zu bringenden Situation unter den Merowingern und Karolingern zunächst etwas über die Ottonenzeit erfährt, um dann durch einen Schwenk zur Schlacht von Hastings (1066) kurzzeitig nach England versetzt zu sein, bevor nach einem Blick auf das Rittertum allgemein und die Verwerfungen der Salierzeit die Kreuzzüge im Vordergrund stehen. Mit Bouvines (1214) und Dürnkrut (1278) werden exemplarisch zwei Schlachten des 13. Jahrhunderts abgehandelt, während das 14. Jahrhundert weniger ereignishistorisch als soziokulturell und waffentechnisch skizziert wird, um die wachsende Bedeutung der Infanterie herauszuarbeiten. Ein eigenes Kapitel ist dem Hundertjährigen Krieg zwischen England und Frankreich gewidmet, während für das ausführlich betrachtete Spätmittelalter neben einer Analyse des Bedeutungsgewinns von Städten und der Erfindung von Feuerwaffen der deutschsprachige und daneben der burgundische Raum zum Hauptschauplatz des Buches werden, wenn man von einigen Ausflügen nach Osteuropa absieht.

Das Ergebnis ist eine Einführung, aus der man zahlreiche Informationen über das Phänomen Krieg im Mittelalter entnehmen kann, die aber gelegentlich eher einen Flickenteppich von Einzelbeobachtungen bietet, als Entwicklungslinien kontinuierlich nachzuzeichnen. Am klarsten gelingt das noch bei den technischen Aspekten von Kriegführung (wie der Bedeutung unterschiedlicher Waffengattungen), denn hier weiß Clauss deutlich zu machen, dass die Frühe Neuzeit nicht unbedingt einen revolutionären Umbruch brachte, sondern an zahlreiche schon innerhalb des Mittelalters begonnene Veränderungen anknüpfte.

Seine größte Stärke hat das Buch in der Betrachtung des ideellen Zugangs der Zeitgenossen zum Krieg und der ethischen Fragen, die sich daraus ergaben. Insbesondere das Spannungsverhältnis zwischen der gewaltfeindlichen Ausrichtung des Christentums und den Umdeutungen, die nötig waren, um dennoch Kämpfe unter christlichen Vorzeichen bis hin zu Glaubenskriegen wie den Kreuzzügen zu rechtfertigen, wird differenziert herausgearbeitet. Ein weiterer Pluspunkt ist, dass Clauss nie die Situation der Zivilbevölkerung aus dem Blick verliert (auch wenn – wie er ebenfalls aufzeigt – je nach Situation die Grenzen zu den Kämpfenden fließend sein konnten). So erfährt man auch, dass es von Personenkreisen, denen Kriege materielle Vorteile und zentrale Komponenten für ihr Selbstbild lieferten (ob nun Ritteradel oder Söldner), bis hin zu entschiedenen Kriegskritikern schon im Mittelalter Menschen mit ganz unterschiedlicher Haltung zu militärischer Gewalt gab.

Trotz aller geographischen und thematischen Sprunghaftigkeit kann man die Militärgeschichte des Mittelalters daher durchaus mit Gewinn lesen und dabei auch verblüffende Quellendetails entdecken (wie etwa die Tatsache, dass ein gewiefter Kämpfer am Geruch eines Pferdeapfels erkennt, dass mit Gerste gefütterte Streitrösser und nicht etwa harmlose, auf der Weide gehaltene Tiere in der Nähe sind). Es schadet aber eindeutig nichts, schon ein paar Grundkenntnisse über die Epoche mitzubringen, um das Geschilderte in einen umfassenderen Kontext einordnen zu können.

Leider hat das Lektorat hier und da Tipp- und Flüchtigkeitsfehler übersehen, die im Einzelfall irreführend wirken (z.B. ist die Angabe, der als Geschichtsschreiber der ottonischen Zeit bekannte Widukind von Corvey sei „nach 793“ gestorben – S. 35 – sachlich nicht völlig falsch, aber bei einer Person, die erst im 10. Jahrhundert überhaupt geboren ist, naturgemäß wenig aussagekräftig).

Martin Clauss: Militärgeschichte des Mittelalters. München, C.H. Beck, 2020, 128 Seiten.
ISBN: 978-3-406-75752-5


Genre: Geschichte