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Odin

Weisheitsschenker und Runenfinder, Heiler von Pferden wie von Menschen, Gott der Herrscher und der Krieger, aber auch der Skalden, Herr über ein Totenheer, düsterer Empfänger von Menschenopfern und vielleicht sogar Spender von Fruchtbarkeit – Odin hat viele Gesichter, die sich nicht alle mühelos miteinander in Einklang bringen lassen. Mit Odin widmet nun der Skandinavist Klaus Böldl dem weithin berühmten, aber unter den vielen kursierenden Fehlvorstellungen der Populärkultur letzten Endes doch ziemlich unbekannten Gott eine lesenswerte Monographie, die neben den Odin der frühen Quellen auch den der Rezeptionsgeschichte seit dem christlichen Mittelalter stellt.

Der erste Teil des zweigliedrigen Buchs, der sich dem widmet, was sich aus den Quellen aus über die wohl schon seit der Antike und dann im Frühmittelalter bis in die Wikingerzeit hinein verehrte Gottheit Odin (je nach Region auch als Wodan oder Woden bekannt) herauslesen lässt, macht vor allem eines deutlich: Die direkt aus heidnischen Zeiten stammende Überlieferung ist verschwindend gering, da fast alle erzählenden Texte, aus denen das Meiste dessen, was wir über Odin „wissen“ (oder wohl eher zu wissen glauben), stammt, erst nach der Christianisierung entstanden und viele heute als Allgemeinbildung über den Asen geltende Vorstellungen (einschließlich der vermeintlichen Funktionsweise von Walhall als Gefallenenjenseits) weitaus jünger sind, als man vermuten könnte. Die tatsächlichen frühen Glaubenswelten, auf die man Rückschlüsse ziehen kann, bleiben also oft diffuser und in ihrer Interpretation schwieriger als die bunt ausgemalten hochmittelalterlichen Geschichten.

Abseits der noch irgendwie, wenn auch gebrochen, auf paganen Ideen beruhenden Erzählungen macht – wie im zweiten Teil, der sich Odins Rezeptionsgeschichte vom Mittelalter bis in die Gegenwart widmet, erläutert wird – die Odinsgestalt in dieser Epoche eine gewaltige Wandlung durch, die sich in zwei Hauptstränge aufteilen lässt: Besteht einerseits das gelehrte Bestreben, Odin (den sich immerhin mehrere Herrscherhäuser als Ahnherrn zuschrieben) euhemeristisch zu einem menschlichen König aus grauer Vorzeit, der zu Unrecht göttlich verehrt worden sei, zu erklären, wird Odin aus anderer Perspektive zum dämonischen Wesen (im Gefolge des Teufels oder in Überschneidung mit diesem) und treibt in dieser Form nicht nur literarisch, sondern auch im volkstümlichen Aberglauben sein Unwesen (wobei Böldl gut herausarbeitet, dass beide Bereiche nicht so unabhängig voneinander sind, wie Mythenforscher des 19. Jahrhunderts, darunter auch Jacob Grimm, in ihrer Hoffnung auf pagane Relikte im Volksglauben gern annehmen wollten).

Noch wilder wird es allerdings mit dem in der Neuzeit erwachenden teils wissenschaftlichen, teils romantisierenden Interesse an Odin, denn abgesehen von Bildwerken unterschiedlichster Couleur, literarischen Arbeiten, die von der Verklärung bis zur Satire reichen, und der bekannten Popularisierung durch Wagners Ring des Nibelungen gibt es hier kuriose Forschungsthesen (nach denen Odin beispielsweise entweder mit Odysseus oder mit Buddha identisch sei), aber im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts leider auch bald die bis heute immer wieder aufflammende völkisch-nationalistische Vereinnahmung Odins mit einer Überbetonung des Kriegsgottaspekts und einer hässlichen Verquickung esoterischer und rassistischer Ideen (übrigens nicht allein im deutschsprachigen Raum, sondern z. B. auch in den USA). Dem gegenüber stehen radikal andere moderne Interpretationen, die Odin als Repräsentanten der Queerness, des Schamanismus oder gleich von beidem sehen. Ähnlich uneinheitlich ist das Bild in der abschließend analysierten Musik der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart (von Folk bis Heavy Metal), in der Odin nicht nur in den Liedern Rechtsextremer, sondern auch in weit harmloseren Texten besungen wird. Wie beim Odin der Literatur und der bildenden Kunst ist die Auswahl der vorgestellten Beispiele notwendigerweise selektiv (wahrscheinlich würde es den Umfang eines einzigen Buchs auch sprengen, auch nur annähernd die ganze Fülle der künstlerischen Odinrezeption wiedergeben zu wollen), auffällig ist allerdings, dass die Odindarstellung in neueren Medien (etwa im Film) ausgeklammert bleibt.

Insgesamt beeindruckt Böldls Darstellung jedoch nicht nur durch ihren Kenntnisreichtum über alle Epochen hinweg, sondern auch durch ihre Ausgewogenheit und Fairness im Urteil und ihren Verzicht auf überzogene Spekulationen. Denn letztlich, so zeigt sich, ist es unmöglich, aus den wenigen tatsächlich noch aus paganen Zeiten überlieferten Informationen die Religion, die sich mit Odin einmal verband, vollständig zu rekonstruieren – wobei es allerdings aufgrund des langen Zeitraums, des weiten geographischen Rahmens und der Schriftarmut der Odinverehrung die eine, kanonische Variante vermutlich gar nicht gab, sondern von Anfang an heterogene Vorstellungen existiert haben dürften. Was bleibt, ist am Ende also der Eindruck einer komplexen, vielschichtigen und nicht auf einen einfachen Nenner zu bringenden Gottheit, die gerade deshalb wohl auch weiterhin zu den unterschiedlichsten Annäherungen und Deutungen inspirieren wird – hoffentlich eher im Guten als im Schlechten.

Klaus Böldl: Odin. Der dunkle Gott und seine Geschichte. Von den Germanen bis Heavy Metal. München. C.H. Beck, 2024, 320 Seiten.
ISBN: 978-3-406-82168-4


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Wir haben das Dasein geübt

Gedichtbände gibt es viele, ebenso Kunstbücher und selbstverständlich auch Kombinationen aus beidem, aber selten gehen Texte und Bilder solch eine organische, zwingend anmutende Verbindung ein wie in Wir haben das Dasein geübt. Aus einem künstlerischen Dialog zwischen der Schriftstellerin Andrea Drumbl und dem Maler Paul Sägesser entstanden, ist das Buch nicht nur äußerlich ein wahres Schmuckstück, sondern auch in seinen vielfältigen Bezügen zwischen der Poesie der Worte und der, die in den um Collage-Elemente ergänzten und teils abstrakten, teils mit figürlichen Darstellungen arbeitenden Gemälden liegt, eine Kostbarkeit und etwas ganz Besonderes.

Foto: Auf beigefarbenem Hintergrund liegt das Buch "Wir haben das Dasein geübt" von Andrea Drumbl und Paul Sägewerk. Das hellgraue Leinencover zeigt neben Titel, Autorennamen und der Verlagsangabe "Scheidegger & Spiess" ein eingeprägt Leitermotiv in Schwarz, eine um die Mitte des Buchs verlaufende Schutzbanderole ein abstraktes Gemälde in Blau- und Grautönen.

Worum geht es nun in diesem in Paaren aus jeweils einem Gedicht und einem ihm gegenübergestellten Bild getanzten Reigen aus Sprache und Farbe? Gewiss auch um Begegnungen, wie der Untertitel verspricht, aber eigentlich schier um alles. Der Auftakt ist nach zwei bildlosen Fragen ein einleitendes Gedicht, das in seinem Sinnieren über Sprechen ohne Sprache und den Ort, den ein Gegensatz im Verhältnis zum Satz einnehmen mag, schon viel über Drumbls kluge Technik des Wörtlichnehmens von Ausdrücken und des dann doch wieder folgenden Abstrahierens oder Wendens ins Ungewöhnliche, Unerwartete verrät. Gegenübergestellt ist dem das eindringliche Bild einer dunklen, hell gerahmten Gestalt, in dem man wie hingeworfen auch Teile des zugehörigen Gedichts geschrieben finden kann – eine erste Mahnung, bei Sägessers Bildern immer gut hinzusehen und unter dem ersten Anschein auch die Feinheiten zu suchen, in denen sich oft die Rückbezüge auf die Texte verbergen.

Was folgt, sind in drei Kapiteln (Der Mond ist ein TierFische küssenUndine schreit nicht) angeordnete Gedicht- und Bildpaare, in denen bisweilen eben auch die Gemälde Textausschnitte enthalten oder umgekehrt die Lyrik durch typographische Kunstgriffe zur bildenden Kunst wird (wenn etwa die Form des Gedichts der einer Träne, die sein Thema ist, entspricht). Grenzen verschwimmen in diesem Buch aber nicht nur formal, sondern durchaus auch thematisch, einerseits durch die zahlreichen Verflechtungen der Gedichte untereinander, andererseits aber auch dadurch, dass die gebrauchten sprachlichen Bilder immer wieder jäh ins Unerwartete kippen und Menschliches, Phantastisches, der Natur Entnommenes, Mythisches und Gegenwärtiges eine unlösbare Verbindung eingehen.

Es geht um Kindheit, Liebe und Tod, die Härte aber auch die Zartheit des Daseins, das sich, wie immer deutlicher wird, anders, als der Titel suggeriert, gar nicht so gut üben und auch keinesfalls vollständig erlernen oder durchschauen lässt, sondern immer nur in behutsamen bis schonungslosen Annäherungen umkreist wird, ohne je seine Unberechenbarkeit und auch sein ebenso Wunderbares wie Verwunderliches zu verlieren. So findet man hier einen Lichtstrahl, der sich das Genick bricht, einen Februar, der unendlich sein kann, oder den drohenden Karfreitagstod, und Adam und Eva haben ebenso ihren Auftritt wie Sagen- und Märchengestalten, bevor in diese flirrende Welt des Fabulierens jäh das Zeitgeschehen in Form des Ukrainekriegs einbricht.

Gleichermaßen reich und tief sind Paul Sägessers Bilder, in denen etwa ein zerknitterter Nachtfalter, ein angebissener Apfel, eine warm gekleidete Frau oder ein verzerrtes Gitter deutlich umrissen ist, dann aber wieder ein unvollständiges Gesicht die nur begrenzte Erfassbarkeit von Welt und Leben empfindbar macht oder Linien und Farbfelder eher eine Stimmung, ein Gefühl, einen flüchtigen Gedanken evozieren, als einem klare Vorgaben beim Betrachten zu machen.

Auf bloße Gefälligkeit, dekorative Effekte oder ein leichtes Dahinlesen, respektive Dahinbetrachten, ist nichts davon angelegt, und so kommt zu der Zwiesprache zwischen Gedichten und Bildern noch eine weitere hinzu, die man selbst mit dem Buch hält, fragend, fordernd und anregend. Es lohnt sich.

Andrea Drumbl, Paul Sägesser: Wir haben das Dasein geübt. Begegnungen. Zürich, Scheidegger & Spiess, 2025, 144 Seiten.
ISBN: 978-3-03942-256-2


Genre: Anthologie, Kunst und Kultur
Illustrated by Paul Sägesser

Wie man den Zorn besiegt

Unter dem Titel Moralia ist eine Sammlung philosophischer Schriften des griechischen Autors Plutarch bekannt. Die Altphilologin Marion Giebel hat bereits mehrere Auszüge daraus (wie etwa auch schon Freunde und Feinde) übersetzt, mit einem Vorwort versehen und durch Kommentare erschlossen. Wie man den Zorn besiegt ist eines dieser Teilstücke der Moralia und hier um einen Auszug aus einem Brief Ciceros ergänzt, in dem er seinen Bruder Quintus zum Umgang mit dem Zorn berät.

Nominell ist Wie man den Zorn besiegt in der Form eines Dialogs gehalten, aber eigentlich wäre es fast angemessener, von einem dem Römer Fundanus in den Mund gelegten Monolog zu sprechen, zu dem sein Gesprächspartner Sulla (nicht identisch mit dem gleichnamigen Diktator) eigentlich nur den Anstoß geben darf, in dem er beobachtet, dass sein alter Freund Fundanus offensichtlich sein aufbrausendes Temperament weitaus besser im Griff hat als früher. Von Sulla darum gebeten, legt Fundanus daraufhin dar, wie es ihm gelungen ist, seine Neigung zum (Jäh-)Zorn zu überwinden, und diese mit Zitaten aus literarischen Werken gespickte Schilderung enthält durchaus einige bedenkenswerte Überlegungen.

Zugegeben: In manchen Gedankengängen erweist sich Plutarch stark als Kind seiner Zeit. Wenn er etwa beobachtet, dass die absolute Macht eines Herrn über seine Sklaven Ersteren zu einem ethisch nicht vertretbaren Verhalten verleiten kann, oder hilflosen Zorn als charakteristisch für die von ihm als den Männern unterlegen betrachteten Frauen oder eben für versklavte Menschen beschreibt, ist er zweifellos in Teilen etwas Richtigem auf der Spur, bringt aber nicht den geistigen Sprung fertig, zu erkennen, dass die Sklaverei als Institution und die traditionelle Unterdrückung und Unterschätzung von Frauen hier die eigentlichen Fehler sein könnten. Die Perspektive bleibt also immer die eines männlichen Familienoberhaupts, aber wenn man damit leben kann, dass bestimmte Passagen dementsprechend dem heutigen moralischen Empfinden zuwiderlaufen, wird einem deutlich, dass Plutarch auch viel Zeitloses zu sagen hat, das heute nicht minder aktuell ist als im Römischen Reich.

Denn Zorn, so Plutarch, steht vernünftigem Verhalten oft im Wege, besonders, wenn er völlig überproportional zu dem, was ihn ausgelöst hat, ist, und das kann nicht nur Beziehungen vergiften, sondern, sobald ein Zorniger über eine gewisse Macht verfügt, auch noch weit fatalere Folgen haben. Die guten Ratschläge, die Wut anderer zu betrachten und sich zu fragen, ob man selbst in seinem Zorn gleichermaßen abstoßend und bösartig wirken möchte, und sich vor Augen zu führen, dass man Zorn nicht mit Stärke verwechseln sollte (da oft eher das genaue Gegenteil dahintersteht), sollte sich wohl auch heute noch manch ein Mensch zu Herzen nehmen, im wahren Leben wie auch in den sozialen Medien, in denen Wut und Empörung so oft hohe Wellen schlagen.

Marion Giebel übersetzt wie immer modern und treffsicher, mit viel Gespür dafür, einen gut lesbaren Text herzustellen, dem man nicht anmerkt, dass man ihn nicht in seiner Originalsprache vor sich hat. Allein schon deshalb macht die Lektüre der von ihr herausgegebenen antiken Werke viel Vergnügen, aber natürlich sind Plutarchs Gedankengänge auch abgesehen davon immer einen Blick wert.

Marion Giebel (Hrsg.): Plutarch: Wie man den Zorn besiegt. Stuttgart, Reclam, 2023 (RUB Nr. 14274), 86 Seiten.
ISBN: 978-3-15-014274-5


Genre: Kunst und Kultur

Ségurant

Einer illustren Familie entsprossen und in einem entlegenen Inselreich aufgewachsen, zeichnet sich der junge Ségurant schon früh durch besondere Tüchtigkeit auf der Jagd und im Waffengebrauch aus. Nach dem Ritterschlag durch seinen Großvater zieht er in die Welt und macht sich als schier unbesiegbarer Kämpfer einen Namen. Sein Antreten bei einem Turnier in Winchester unter ganz besonderen Bedingungen soll ihm den Weg an den Artushof ebnen, doch die Zauberin Morgane hat etwas dagegen und beschwört aus der Hölle einen Teufel herauf, der in Drachengestalt fortan Ségurant das Leben schwermachen wird …

Ségurant ist ein mittelalterlicher Artusroman, aber alles andere als ein typischer Vertreter seiner Gattung. Bereits seine Entdeckungsgeschichte ist ungewöhnlich: Der Mediävist Emanuele Arioli fand in einer Pariser Handschrift der Prophéties de Merlin, einer Sammlung dem Zauberer Merlin zugeschriebener Prophezeiungen, eine stückweise zwischen diese eingestreute Geschichte um den Ritter Ségurant und seine Abenteuer. Daraus und aus 27 weiteren fragmentarischen Textzeugen rekonstruierte er einen in seinem Grundbestand wohl am ehesten in die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts zu datierenden, aber später fortgesetzten und erweiterten Roman und brachte ihn sowohl in einer kritischen Ausgabe als auch in einer neufranzösischen Leseausgabe heraus.

Die vorliegende Ausgabe basiert auf einer Übersetzung von Ariolis Übertragung ins Neufranzösische ins Deutsche und ist zudem an einigen Stellen gekürzt, so dass man die Übersetzung einer Übersetzung eines unvollständigen Texts vor sich hat. Prächtig mit zahlreichen Abbildungen aus den verschiedenen Handschriften, auf die Arioli zurückgriff, illustriert, nur sehr spärlich mit Anmerkungen versehen, dafür aber mit einem Glossar heute nicht mehr gängiger mittelalterlicher Begriffe und einem kurzen Nachwort aus Ariolis Feder und einem zweiten der Romanistin Susanne A. Friede ausgestattet, richtet das Buch sich eher an ein allgemeines als an ein wissenschaftliches Publikum und erlaubt nur geringe Aufschlüsse darüber, wie die vorliegende Textgestalt zustandegekommen ist. Immerhin: Eine Aufteilung in den Haupttext, Fortsetzungen (die nicht im Widerspruch zu dem, was Arioli als älteste überlieferte Version ansetzt, stehen und ihn eher ergänzen) und Neubearbeitungen (die auch nur als Fragmente erhalten sind, aber erkennbar auf anderen Prämissen beruhen als die älteren Fassungen) ist vorhanden.

Mehr als eine äußerlich sehr gelungene Leseausgabe zum Kennenlernen der Handlung darf man also nicht erwarten, aber die Lektüre macht durchaus Vergnügen, da die Übersetzung von Andreas Jandl sich trotz einiger zu gewollt anmutender Archaismen (z. B. „[W]as wollet Ihr?“ statt „Was wollt Ihr?“, S. 190) flüssig und gefällig liest. Einen neuen Erec, Iwein oder Parzival darf man allerdings nicht erwarten, denn der Ségurant ist, vielleicht nicht zuletzt durch die späte Entstehungszeit bedingt, ein sehr anderer Roman, und das nicht nur, weil es, wie Arioli vermutet, einzelne Einflüsse der der Artuswelt eigentlich fremden Sagen um Sigurd/Siegfried gegeben haben könnte. Vielmehr ist Ségurant eine überzeichnete Gestalt mit gargantueskem Appetit, die trotz einer Zweiteilung der Handlung in die Zeit vor und nach dem Turnier in Winchester nicht die klassische Doppelwegstruktur eines Artusromans durchläuft und weder Liebe noch Herrschaft, ja noch nicht einmal die angestrebte Aufnahme in die Tafelrunde erringt.

Um moralische Vervollkommnung in irgendeiner Form geht es nicht (stark zu bemerken etwa, wenn Ségurant vor allem amüsiert und bestenfalls oberflächlich kritisch darauf reagiert, dass sein Kumpan Dinadan ein Bauernmädchen vergewaltigt hat), und auch insgesamt erinnert der Tonfall oft eher an schwankhafte Erzählungen oder die etwas schrägeren späten Vertreter der Heldenepik (etwa die aventiurehafte Dietrichepik) als an einen typischen Artusroman. Verstärkt wird diese Tendenz noch dadurch, dass Ségurant als zumindest zeitweilige Gefährten Gestalten beigesellt werden, die eher grotesk bis komisch wirken: Der schon erwähnte Dinadan gebärdet sich mit seinen witzigen Bemerkungen häufig eher wie ein Hofnarr als wie der Artusritter, der er eigentlich ist, und lässt in seinem Verhalten generell stark zu wünschen übrig. Der junge Golistan dagegen, der wünscht, von Ségurant zum Ritter geschlagen zu werden, hat den Vorsatz, sich an Tristan zu rächen, ist aber entschlossen, erst dann, wenn er selbst Ritter ist, sein Schwert gegen einen Ritter zu führen, so dass seine Vergeltungsaktion vorerst warten muss. Da Ségurant ihm den Ritterschlag wiederholt verweigert, kann Golistan sich mit ihm feindlich gesonnenen Rittern nur prügeln, was zu recht sonderbaren Szenen führt.

Am auffälligsten ist aber die Behandlung der Drachenkämpferthematik, denn auch wenn der Untertitel Die Legende des Drachenritters eine typische Drachentötergeschichte zu verheißen scheint (und diese dann in einer der Neubearbeitungen dann auch über Ségurant erzählt wird), ist der von Morgane auf Ségurant gehetzte Drache explizit ein nicht zu tötender Geist, so dass Ségurant ihn mit den üblichen Rittermethoden gar nicht überwinden kann (sondern – so wird im Text angekündigt – auf äußere Hilfe dadurch, dass ein anderer den Gral findet, wird warten müssen). Die Drachenjagd, auf der Ségurant sich aus dem Umfeld des Artushofs wieder entfernt, hat also in der ältesten Romanversion gar kein Ende, sondern droht den Protagonisten noch am Schluss der Geschichte auf unbestimmte Zeit zu beschäftigen, ohne dass er selbst auf den Ausgang seiner Queste sinnvoll Einfluss nehmen könnte. Aus eigener Kraft kann er damit gar nicht zur Reintegration in die Gesellschaft gelangen, und von einer heilsamen Selbsterkenntnis scheint er auch meilenweit entfernt zu sein.

Der Gedanke an eine zumindest unterschwellige Kritik an bestimmten Idealen des Rittertums (oder auch am ganz realen Verhalten von Zeitgenossen) liegt daher nicht fern, aber zu überwiegen scheinen im Großen und Ganzen doch Fabulierfreude und Unterhaltungslust. Die Lektüre lohnt sich daher auch für ein heutiges Lesepublikum unter gleich mehreren Aspekten, Nur einen typischen Artusroman sollte man eben nicht erwarten, und für alle, die sich in der Materie auskennen und vielleicht gern tiefer in Text und Kontext einsteigen wollen, bleiben manche Fragen offen.

Emanuele Arioli: Ségurant. Die Legende des Drachenritters. Das vergessene Mitglied der Artusrunde. Stuttgart, Reclam, 2024, 288 Seiten.
ISBN: 978-3-15-011484-1


Genre: Kunst und Kultur, Roman

Exil im Paradies

Die Geschichte des deutschsprachigen Exils während der Nazizeit wird nicht selten vor allem als eine Geschichte von Männern erzählt. Ursel Braun wählt gezielt eine andere Perspektive: In Exil im Paradies stellt sie sechs Frauen in den Mittelpunkt, die in Los Angeles und seinen Vororten, sei es für immer oder nur auf Zeit, eine neue Heimat fanden, und schildert ihr Leben in den Jahren 1940 bis 1945.

Salka Viertel, Katia Mann, ihre Schwippschwägerin Nelly Kröger-Mann, Marta Feuchtwanger, Alma Mahler-Werfel und Helene Weigel hatten vor ihrer jeweiligen Emigration sehr unterschiedliche, nicht zuletzt durch ihre jeweilige soziale Herkunft bestimmte Lebenswege, waren aber alle mit bekannten deutschsprachigen Autoren verheiratet und ab einem bestimmten Zeitpunkt Teil derselben Exilgemeinschaft, die für einige Jahre unter dem Spitznamen „New Weimar“ zahlreiche Größen aus Kunst, Literatur, Musik und Schauspiel an der Pazifikküste versammelte.

Neben dem Ort, an den ihre Flucht (bzw. in Viertels Fall eine gerade noch rechtzeitige Auswanderung vor dem völligen Entgleisen der Verhältnisse in Europa) sie geführt hatte, einte die sechs aber noch etwas: Leicht hatten sie es alle nicht, ganz gleich, ob sie ein materiell komfortables Leben führen konnten, wie die finanziell gut ausgestattete Katia Mann, oder vielmehr wie Helene Weigel, die in ihrem Beruf als Schauspielerin in den USA nicht Fuß zu fassen vermochte, von Geldsorgen geplagt waren. Als Geflüchtete spätestens seit dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten immer wieder mit Vorurteilen, rechtlichen Einschränkungen oder gar Bespitzelung konfrontiert, mussten sie um in Europa zurückgebliebene Angehörige und Bekannte bangen. Zumeist blieb es auch allein an den Frauen hängen, sämtliche praktische Seiten des Ehe- und Familienalltags zu organisieren und ihren teilweise mit der neuen Lebenssituation fremdelnden bis überforderten Männern den Rücken für ihre literarische Arbeit freizuhalten, ohne unbedingt viel Dank und Anerkennung dafür zu bekommen.

Denn eines wird bei den Schilderungen von Alltag, Gesellschaftsleben und kleinen Freuden inmitten schwerer Zeiten leider auch deutlich: Trotz ihres fürchterlichen und unverdienten Schicksals waren nicht alle von den Nazis in Exil Getriebenen unbedingt durch und durch sympathische Gestalten. Die ihre Frauen oft munter rechts und links betrügenden und ein beträchtliches Anspruchsdenken an den Tag legenden Schriftsteller sind allerdings nicht die Einzigen, die nicht gerade als moralische Vorbilder taugen. Auch über die ungeachtet ihrer Ehe mit dem Juden Franz Werfel an antisemitischen Vorurteilen festhaltende und ohnehin in fast schon grotesker Überheblichkeit schwelgende Alma Mahler-Werfel schüttelt man bei der Lektüre mehr als einmal den Kopf.

Von solchen Merkwürdigkeiten, der über allem schwebenden Ungewissheit um Kriegsausgang und eigene Zukunftsaussichten, aber auch von Amüsantem wie einer Heimatgefühle weckenden Sachertorte nach Spezialrezept, einer am Wegesrand aufgelesenen Schildkröte und dem Kulturschock aus Europa in das ihnen sehr fremde Amerika Verpflanzter erzählt Ursel Braun in einem gut lesbaren, flüssigen Stil, vor allem aber auch mit viel Sachkenntnis und Einfühlungsvermögen. Fotos von ihren Protagonistinnen und deren Angehörigen (teilweise in der Zeit des Exils, manchmal auch schon in früheren Jahren aufgenommen) lockern den Text auf und illustrieren bestimmte Detailbeobachtungen. Vorn und hinten im Einband bietet darüber hinaus ein Stadtplan, in dem die jeweiligen Frauen ihren Wohnorten zugeordnet sind, Zusatzinformationen (ein Manko an diesem Plan ist allerdings die leider etwas kontrastarm geratene Farbgebung von Karte und Schrift; man braucht schon sehr gute Beleuchtung am Leseplatz, um die Straßen- und Ortsnamen entziffern zu können)

Ein Epilog skizziert den weiteren Weg der fünf Frauen, die über die im Detail geschilderte Zeit hinaus noch am Leben blieben (die von ihrer Situation sehr belastete und von den Verwandten ihres Mannes Heinrich Mann immer abgelehnte Nelly Kröger-Mann hatte 1944 Suizid begangen), und eine kurze Bibliographie gibt eine nach den jeweiligen Frauen geordnete Übersicht über die Literatur zu ihnen, so dass man, wenn man durch Exil im Paradies neugierig geworden ist, noch tiefer in die Lektüre über sie einsteigen kann.

Hervorhebenswert ist darüber hinaus auch die hübsche äußere Gestaltung des in der Reihe blue notes erschienenen Buchs, das ein kleine Schmuckstück im Regal ist und es verdient hat, mehr als einmal daraus hervorgezogen zu werden, und das nicht nur aus historischem Interesse. Gerade angesichts der Tatsache, dass das titelgebende Paradies derzeit eher als von den Waldbränden um Los Angeles schwer gezeichnete Flammenhölle Schlagzeilen macht und es nicht nur in Europa, sondern auch in Amerika zu politischen Verwerfungen kommt, drängen sich Kontraste und Parallelen zwischen Vergangenheit und Gegenwart auf, die dem Buch eine besondere Aktualität verleihen und es auch abseits jedes speziellen Interesses an den Porträtierten und ihrem Umfeld lesenswert machen.

Ursel Braun: Exil im Paradies. Von Marta Feuchtwanger bis Helene Weigel. Berlin, ebersbach & simon, 2025, 144 Seiten.
ISBN: 978-3-86915-311-7


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur, Sachbuch allgemein

Der Bauernkrieg. Ein Medienereignis

Ohne den Buchdruck und die dadurch ermöglichte massenhafte Verbreitung von Flugblättern und ähnlichen Schriften, die aktuelle Themen aufgreifen konnten, hätte es den Bauernkrieg ebenso wenig wie die eng mit ihm verflochtene Reformation gegeben – das ist die Prämisse, von der Thomas Kaufmann in seinem umfangreichen Werk Der Bauernkrieg. Ein Medienereignis ausgeht, um den Umgang der Druckwerke der Zeit mit dem Bauernkrieg speziell, aber auch mit Bauern allgemein unter die Lupe zu nehmen.

Eine Einführung in den Bauernkrieg an sich ist das Buch gleichwohl nicht: Dass sein Lesepublikum die Grundzüge der Ereignisse und ihre wichtigsten Akteure kennt, setzt Kaufmann ebenso voraus wie ein gewisses Maß von Vertrautheit mit Fachausdrücken und alten Sprachen. Hervorhebenswert ist das vor allem deshalb, weil Der Bauernkrieg sich damit in gewisser Weise in eine Tradition einreiht, die der Autor auch schon für die zeitgenössische Publizistik konstatiert: Von einzelnen Ausnahmen wie den Zwölf Artikeln und der Memminger Bundesordnung einmal abgesehen fangen die überlieferten Druckwerke nicht die Stimmen der Bauern selbst ein und haben diese auch nicht als hauptsächliche Zielgruppe, sondern sind eher Zeugnisse von Äußerungen über Bauern aus Sicht zumeist in der Geistlichkeit oder in einem städtischen Umfeld zu verortender Gebildeter.

Zeigt schon der weitgespannte Rezeptions- und Forschungsüberblick, den Kaufmann einleitend bietet, dass in der Historiographie bei aller Kritik am gewaltsamen Vorgehen der Bauern früh Verständnis dafür aufkam, dass sie sich gegen unhaltbare Zustände zur Wehr gesetzt hatten, lässt auch der Blick auf die im Vorfeld und während des Bauernkriegs und kurz darauf veröffentlichten Werke kein einheitlich negatives Bauernbild, sondern von Anfang an eine gewisse Ambivalenz erkennen. Denn neben den Bauern als tumben und ungeschliffenen Rüpel und potenziellen Unruhestifter trat in der Literatur der Zeit mit der Reformation verstärkt der mit gesundem Menschenverstand und Selbstbewusstsein gesegnete einfache Mann, der als Gegenüber und Diskussionspartner ernst genommen werden musste.

Nicht jeder wollte freilich das, was man im philosophisch-theologischen Bereich auf einmal gelten zu lassen bereit war, auch auf politische Belange übertragen, so dass bei weitem nicht alle der Reformatoren, deren Wirken erheblich mit zu der Gemengelage beigetragen hatte, in der es zu einer überregionalen Aufstandsbewegung kommen konnte, auf die Anliegen der Bauern verständnisvoll reagierten. Martin Luthers wüste Invektiven sind diesbezüglich als Negativbeispiel bekannt, aber an ihnen zeigt Kaufmann auch auf, wie es Gegnern aus dem katholischen Lager glückte, durch Nachdrucke aus dem Kontext gerissener Textteile Luthers Äußerungen noch schlimmer erscheinen zu lassen, als sie ohnehin schon waren – ein Vorgehen, das einen durchaus an die in modernen Internetdebatten gern genutzten Tricks erinnern kann.

In den Publikationsstrategien, auf die man zurückgriff, um Widersacher und Rivalen möglichst schlecht dastehen zu lassen, sieht Kaufmann auch den Grund dafür, dass die Bedeutung einzelner Persönlichkeiten des Bauernkriegs, über die viel veröffentlicht wurde, von der Nachwelt überschätzt wurde. So stuft er beispielsweise den Einfluss Thomas Müntzers auf das Gesamtgeschehen weitaus geringer ein, als es in der früheren Literatur bisweilen übrig war (durchaus aber im Einklang mit neueren Darstellungen wie Gerd Schwerhoffs Bauernkrieg). Müntzer hatte wohl schlicht das Pech, dass sich die Wittenberger Reformatoren bereitwillig auf ihn einschossen, um den Einfluss ihrer eigenen Ideen auf die Aufstände herunterzuspielen.

Auch wenn diese letztlich in den meisten Fällen blutig niedergeschlagen wurden und nur in einigen Gebieten, etwa in der Ortenau, durch Verhandlungslösungen tatsächlich Verbesserungen für die Bauern erreicht wurden, wirkten die im Bauernkrieg entwickelten Ideen jedoch fort, sei es in radikalen Utopien, deren Verbreitung im Druck den Verantwortlichen schnell zum Verhängnis werden konnte, oder immerhin in latenten Sympathien, wie sie etwa bei Albrecht Dürer zu vermuten sind, dessen als Lehrstück, nicht als Entwurf für ein konkretes Denkmal konzipierte Bauernsäule einen hinterrücks erstochenen Bauern in Denkerpose so prominent in Szene setzt, dass man dahinter unterschwellige Kritik an den Massakern vermuten kann.

Ob vor, in oder nach dem Bauernkrieg entstanden, vielen Zeugnissen ist gemein, dass neben Überlegungen über die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse und Erfahrungen mit früheren bäuerlichen Aufstandsversuchen auch religiöse Überzeugungen, aber auch in einem heute kaum noch nachempfindbaren Maße abergläubische Vorstellungen etwa von vermeintlichen astrologischen Einflüssen in die Einschätzung der Lage mit einflossen. Über das spezifische Thema des Bauernkriegs hinaus erlaubt Kaufmanns Buch so Einblicke in die in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts vorherrschende Weltsicht und Mentalität.

Viel Freude macht die üppige Bebilderung, denn die besprochenen, oft mit Holzschnitten illustrierten Druckwerke gleich vor Augen zu haben und die darüber getroffenen Aussagen so unmittelbar nachvollziehen zu können, ist ungemein hilfreich. Im Großen und Ganzen ist die Bildqualität hinreichend, nur bei den Abbildungen aus der Petrarca-Ausgabe Von der Artzney bayder Glück sind die Bilder, vielleicht aus Platzgründen oder mangels besseren Ausgangsmaterials, teilweise so klein, dass es schwierig wird, die erwähnten Details darin zu erspähen.

Das aber ist nur ein kleiner Kritikpunkt, der das, was Der Bauernkrieg zu bieten hat, insgesamt nicht schmälert. Bei Interesse an der Epoche sollte man sich also auf das Medienereignis einlassen, denn ganz gleich, ob man jeder Wertung des Autors folgen mag oder nicht, sein Buch ist schon allein dank der eingeflossenen Materialfülle eine lohnende Lektüre.

Thomas Kaufmann: Der Bauernkrieg. Ein Medienereignis. Freiburg im Breisgau, Herder, 2024, 544 Seiten.
ISBN: 978-3-451-39028-9


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Freunde und Feinde

Wer ein Werk mit dem Titel Freunde und Feinde bisher noch nicht mit Plutarch, dem griechischen Schriftsteller der römischen Kaiserzeit, in Verbindung gebracht hat, sollte sich weder um seine Allgemeinbildung sorgen noch auf eine spektakuläre Neuentdeckung hoffen: Wie der Untertitel verrät, handelt es sich bei der handlichen Zusammenstellung um Drei Schriften aus den Moralia, ausgewählt und übersetzt von Marion Giebel, die den Text auch durch Fußnoten erschließt und ihm ein kleines Literaturverzeichnis beigibt.

Enthalten ist in dem schmalen Bändchen nur die deutsche Übersetzung, die mit ihrer modernen, zugänglichen Sprache eine Leseausgabe für ein allgemeines Publikum bildet. Dieser Zielsetzung entspricht auch die knappe Einleitung, die sich Plutarch weniger unter hochspezifischen fachlichen Fragestellungen nähert, als ihn als Autor vorzustellen, der auch uns Heutigen noch einiges zu sagen hat und dessen Überlegungen alles andere als verstaubt sind, sondern sich sehr gut auf aktuelle Kontexte – wie etwa das Verhalten von Menschen in den sozialen Medien – übertragen lassen.

Aufgeteilt sind die präsentierten Auszüge aus den Moralia in drei Kapitel. Unter der Überschrift Soll man viele Freunde haben? geht es nicht nur darum, dass Qualität auch auf dem Gebiet der Freundschaft wichtiger als Quantität ist, sondern auch um das, was einen guten Freund ausmacht, und um die Verpflichtungen, die sich aus solch einer Beziehung ergeben. Denn damals wie heute lebt Freundschaft eben nicht allein von geteiltem Spaß; wichtiger ist letzten Endes die Bereitschaft, füreinander da zu sein.

Auch das zweite Kapitel verrät nicht nur, Wie man Nutzen zieht aus seinen Feinden, auch wenn durchaus Hinweise dazu gegeben werden, sondern richtet breiter gefasst den Blick darauf, wie man sich selbst in solch einem antagonistischen Verhältnis noch menschlich anständig verhalten kann (oder, wenn es gar nicht anders geht, zumindest seine unschönen Affekte nur an denen, die es wirklich böse mit einem meinen, und nicht am Rest seines Umfelds auslässt).

Sind Freunde und Feinde noch relativ leicht einzuordnen, gibt es aber auch Personen, die nicht vollständig in eine der beiden Kategorien fallen, und so ist der Frage, Wie man den Schmeichler vom Freund unterscheidet, wohl nicht ohne Grund das umfangreichste Kapitel gewidmet. Hier wird nicht allein davor gewarnt, sich vor denen zu hüten, die einem allzu gefällig nach dem Mund reden (und einen dabei vielleicht aus Eigennutz auch in moralisch Fragwürdigem bestärken), sondern auch erörtert, wie man als echter Freund bei Bedarf in angemessener Form Kritik üben kann.

All das kommt gleichwohl nicht als trockener philosophischer Lehrtext daher, sondern ziemlich unterhaltsam, denn Plutarch schreibt zitat- und anspielungsreich, mit Verweisen auf alle möglichen literarischen Werke und historischen Anekdoten, so dass man über das eigentliche Thema hinaus gleichsam rechts und links des Weges noch kleine Schätze entdecken kann. So tut das Büchlein mehr, als einen alten Text in heutige Sprache zu übertragen und seine zeitlosen Denkanstöße zu vermitteln: Es macht daneben auch Lust auf die Antike und ihre reiche Literatur.

Gerade in einer Zeit, in der klassische Bildung und die Geisteswissenschaften immer stärker mit Abwertung und Verachtung von verschiedenen Seiten konfrontiert sind, ist es wichtig, dass Bücher wie Freunde und Feinde erscheinen und im Bewusstsein halten, dass Gedanken aus dem Altertum auch heute noch relevant sein können und dass man auf viel Kluges, Hilfreiches und Vergnügliches verzichtet, wenn man ihnen keine Aufmerksamkeit schenken mag.

Marion Giebel (Hrsg.): Plutarch von Chaironeia: Freunde und Feinde. Drei Schriften aus den Moralia. Übersetzt von Marion Giebel. Speyer, Kartoffeldruck-Verlag, 2023 (Opuscula 6), 112 Seiten.
ISBN: 978-3-939526-53-7


Genre: Kunst und Kultur

THE hidden LÄND

In einer archäologischen Ausstellung ein ganzes Jahrtausend abzudecken und das Publikum von der Römerzeit bis kurz vor die Schwelle zum Hochmittelalter zu führen, ist keine ganz einfache Aufgabe. THE hidden LÄND. Wir im ersten Jahrtausend, die diesjährige Landesausstellung in Baden-Württemberg, stellt sich ihr, indem sie jeweils einen von fünf besonderen Fundplätzen exemplarisch eine bestimmte Epoche und einen mit ihr assoziierten Oberbegriff vertreten lässt – eine Gliederung, die sich auch in dem üppig bebilderten, lesenswerten Begleitband niederschlägt.

Alle Kapitel folgen dabei in ihrem Aufbau dem gleichen Schema: Nach einem einführenden Beitrag, der einen kompakten ereignis- und kulturhistorischen Überblick über jeweils zwei zusammen betrachtete Jahrhunderte bietet, wird im nächsten Text der beispielhaft hervorgehobene Fundort vorgestellt, während sich im Anschluss daran Artikel wechselnden Umfangs vertiefend weiteren Funden aus der jeweiligen Epoche, aber auch wissenschaftlichen Arbeitsmethoden (von archäologischer Prospektion bis hin zu molekulargenetischen Untersuchungen) oder geschichtsphilosophischen Überlegungen (so zum Begriff der Völkerwanderungszeit und der damit verknüpften modernen Mythenbildung) widmen.

Aufgrund der hohen Anzahl der von verschiedenen Forschenden verfassten, oft nur sehr kurzen Einzelbeiträge würde eine detaillierte Besprechung Aufsatz für Aufsatz den Rahmen dieser Rezension sprengen; ich beschränke mich daher auf eine Vorstellung der einzelnen Kapitel.

Unter dem Schlagwort Integration steigt man ins 1. und 2. Jahrhundert ein, eine Epoche, in der im Zuge der Etablierung der römischen Herrschaft in Südwestdeutschland Menschen unterschiedlichster geographischer Herkunft dort eine neue Heimat fanden. Der hier zugeordnete Fundort ist Diersheim, wo zahlreiche germanische Brandgräber entdeckt wurden. Obwohl die zeitgenössische (Eigen-)Bezeichnung der dort Bestatteten für uns nicht mehr fassbar ist, könnte es sich um Sueben gehandelt haben. Die bewusst zerstörten Grabbeigaben verraten dabei enge kulturelle Kontakte zur römischen Welt, umfassen aber durchaus auch Kuriosa (etwa einen zu dem Zeitpunkt, als er einem Mann im 1. Jahrhundert mit ins Grab gelegt wurde, schon antiken keltischen Schlüssel). Herausragend unter den in diesem Kapitel behandelten weiteren Funden sind ein in einem germanischen Grab im ukrainischen Kariv entdeckter Bronzekessel, an dem als Verzierung drei Männer mit sogenanntem Suebenknoten dargestellt sind, und das römische Prunkportal von Ladenburg, das sich aus den als Hortfund erhaltenen Türbeschlägen rekonstruieren lässt, unter denen die als Türgriffe dienenden „Seeleoparden“ (nicht identisch mit den gleichnamigen Robben, sondern Mischwesen aus Raubkatze und Fisch) sicher die außergewöhnlichsten sind.

3. und 4. Jahrhundert stehen unter dem Oberbegriff Migration und rücken den vicus Güglingen als Fundort in den Mittelpunkt, an dem sich der tiefgreifende gesellschaftliche Wandel von der römischen Reichskrise des 3. Jahrhunderts bis zu den frühen Alamannen gut zeigen lässt: In den wildbewegten Zeiten änderten sich die Siedlungsstruktur und die kulturelle Identität der Menschen vor Ort beträchtlich, obwohl, anders als an anderen Fundstätten, nichts auf eine Zerstörung des vicus samt Ermordung seiner Bewohner bei den Plünderungszügen des 3. Jahrhunderts hindeutet. Weitere interessante Beiträge dieses Kapitels befassen sich mit archäobiologischer Forschung (die Veränderungen von Ackerbau, Viehzucht und sonstiger Tierhaltung zwischen römischer und alamannischer Zeit greifbar macht) und mit einem Grabstein aus Bad Cannstatt für zwei Kataphrakten (Panzerreiter), deren Herkunft aus dem Osten des römischen Reichs die hohe Mobilität von Individuen eindrucksvoll verdeutlicht.

Kommunikation ist das Schlagwort für das 5. und 6. Jahrhundert. Eine Form von Kommunikation ist ohne Zweifel die im Rahmen von Bestattungsbräuchen betriebene Repräsentation, und so überrascht es nicht, dass hier mit dem überregional bekannten alamannischen Gräberfeld von Lauchheim ein Fundort im Vordergrund steht, an dem sich an Grabbeigaben des Frühmittelalters viel darüber ablesen lässt, durch welche Gegenstände soziale Rollen und Hierarchien noch im Tod abgebildet wurden. Darüber hinaus spielen in diesem Kapitel aber auch anthropologische Untersuchungen eine große Rolle, so etwa zu den Bestatteten des Gräberfelds von Niederstotzingen, deren Verwandtschaftsverhältnisse sich dank DNA-Untersuchungen nachzeichnen lassen. Prunkstück unter den präsentierten Einzelfunden ist sicher die unbeschreiblich gut erhaltene, aus dem 6. Jahrhundert stammende Leier von Trossingen mit ihren kunstvoll geschnitzten Verzierungen, die dank einer Umzeichnung bis ins Detail zu erkennen sind.

Spielten Glaubensüberzeugungen (etwa durch Verweise auf Mithräen, Jupitergigantensäulen oder Verstorbenen mitgegebene Goldblattkreuze) schon in den vorherigen Kapiteln hier und da eine Rolle, wird Spiritualität zum Oberthema für den dem 7. und 8. Jahrhundert gewidmeten Abschnitt. Die Christianisierung als entscheidende Weichenstellung für die folgenden Jahrhunderte wird durch die Sülchenkirche von Rottenburg am Neckar bzw. eigentlich durch deren bei Sanierungsmaßnahmen zufällig entdeckten Vorgängerbau aus dem 7. bis 8. Jahrhundert repräsentiert. Mit der Hinwendung zum Christentum ging auch ein allmählicher Wandel der Bestattungsbräuche einher, der hier in verschiedenen Beiträgen differenziert nachgezeichnet wird. Das interessanteste besprochene Fundstück ist aber kein religiöses, sondern eine prunkvolle, mit einer Runeninschrift ausgestattete Fibel aus Neudingen, die zwar wahrscheinlich im Oberrheingebiet gefertigt wurde, aber künstlerische Einflüsse aus verschiedenen Regionen aufweist.

Haben die jeweils (zumindest lokal oder regional) Mächtigen einer Zeit auch schon bisher immer wieder Erwähnung gefunden, wird Herrschaft zum zentralen Thema des abschließenden, mit dem 9. und 10. Jahrhundert befassten Kapitels, in dem die Herausbildung des Herzogtums Schwaben und der Verfestigung einer für das Mittelalter prägenden Ständegliederung betont werden. Hier rückt Ulm, das in dieser Zeit als Zentralort und Königspfalz an Bedeutung gewann, in den Fokus, aber es fließt auch mit ein, was zum Machtaufbau und -erhalt beitrug (z. B. die in Dettingen unter Teck nachweisbare Eisenverhüttung). Einzelne Beiträge greifen dabei auch über die engen Grenzen des festgelegten Zeitraums hinaus, so etwa der über Schwerter und der über Ringe (jeweils über Jahrhunderte bedeutsame Statussymbole, über die sich diachron mehr aussagen lässt, als wenn man nur einen sehr kurzen Zeitabschnitt betrachtet). Den Kontrapunkt zu dieser Konzentration auf die Eliten bilden anthropologische Untersuchungen an den sterblichen Überresten der ländlichen Bevölkerung, die oft kein leichtes Leben hatte.

Insgesamt entsteht so ein vielschichtiges und reizvoll die Balance zwischen Einzelbetrachtungen und übergeordneten Aspekten wahrendes Bild der Entwicklung Südwestdeutschlands im ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung. Ein rundum gelungener und empfehlenswerter Ausstellungsbegleitband also? Nicht ganz, denn trotz aller unbestreitbaren Qualitäten gibt es doch einen Wermutstropfen.

Dieser in meinen Augen durchaus gewichtige Minuspunkt ist das eine unzureichend frisierte, misstrauisch dreinsehende Gestalt im trist gefärbten Umhang, die ihren Goldring zur Schau stellt, in Szene setzende Titelbild, das laut Angaben des Archäologischen Landesmuseums Baden-Württemberg im sozialen Netzwerk Bluesky mithilfe der Agentur Jung von Matt mittels KI generiert ist. Angesichts der Fülle gelungener Fundfotos im Buch (darunter übrigens auch eines von dem Ring, der für den KI-generierten Pate gestanden hat, S. 264), die prächtige Covermotive abgegeben hätten, bin ich doch ein wenig traurig und enttäuscht, dass die für die Gestaltung Verantwortlichen nicht lieber darauf zurückgegriffen haben. Aber auch abseits aller ethischen Fragen, die das Thema KI aufwirft, erschließt sich mir nicht ganz, warum man, wenn man schon diese Form der Bilderzeugung wählt, damit auch noch ausgerechnet ein Motiv herstellt, das bis zu einem gewissen Grade das Klischee von Ungepflegtheit und Wildheit in den vermeintlichen „Dark Ages“ Europas reproduziert. Dieses Buch, das inhaltlich einiges zu bieten hat und immer wieder auch mit Vorurteilen aufzuräumen versucht, hätte Besseres verdient gehabt.

Gabriele Graenert, K. Felix Hillgruber (Konzeption): THE hidden LÄND. Wir im ersten Jahrtausend. Hrsg. von Archäologischen Landesmuseum Baden-Württemberg und dem Landesamt für Denkmalpflege im Regierungspräsidium Stuttgart. Oppenheim am Rhein, Nünnerich-Asmus, 2024, 288 Seiten.
ISBN: 978-2-96176-251-4


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur

Verschwundene Wörter des Mittelalters

Viele Wörter aus dem Mittelhochdeutschen erschließen sich einem relativ schnell, sind sie doch Vorformen heute noch gebräuchlicher Begriffe. Andere dagegen haben den Sprachwandel im Laufe der Zeit nicht überstanden, sondern sind irgendwann außer Gebrauch gekommen, und so sind es Verschwundene Wörter des Mittelalters, die Michael Schwarzbach-Dobson in den Mittelpunkt seines ebenso informativen wie vergnüglich zu lesenden Buchs stellt.

Zugegeben – einige der erläuterten Wörter sind nicht ganz so verschwunden, wie der Titel es suggeriert, denn auch wenn wir unsere heutigen Liebesbeziehungen wohl nicht mehr unter minne subsumieren würden und in aller Regel keine brünne tragen, können die meisten von uns im historischen Kontext noch etwas mit den Ausdrücken anfangen. Andere, etwa wert für „Insel“, sind zumindest noch Ortsnamen wie Kaiserswerth erhalten und dadurch nicht ganz unbekannt, aber spätestens bei lîtgebe (ein Wirt, der vielleicht auch lît, einen Obstwein, ausschenkt) oder kunter (ein Monster oder Tier, das allerdings sprachhistorisch nichts mit kunterbunt zu tun hat und ebendas dementsprechend auch nicht sein muss) wird es schon kniffliger.

Die verschiedenen Begriffe sind dabei zu sechs unterschiedlich umfangreichen Kapiteln zusammengefasst, in denen dann lexikonartig die einzelnen behandelten Wörter in alphabetischer Reihenfolge erscheinen. Passend zu dem, was die meisten mit dem (Hoch-)Mittelalter assoziieren, bilden den Einstieg Rittertum und Kampf, gefolgt von den Bereichen Familie und Soziales, Kultur und Religion, Alltag und Handwerk, Natur und Medizin sowie Liebe und andere Gefühle.

Wer befürchtet, dass solch eine Auflistung von Wörtern und zugehörigen Erklärungen notwendigerweise trocken und auf die Dauer zäh gerät, irrt übrigens, denn Schwarzbach-Dobson schreibt unterhaltsam und mit vielen Rückgriffen auf die spätere Mittelalterrezeption (von Wagner bis zum Herrn der Ringe), so dass sich auch für ein Publikum, das sich mit Epoche und Sprache noch nicht näher befasst hat, zahlreiche Anknüpfungspunkte finden.

Daher lassen sich die Verschwundenen Wörter des Mittelalters auch als zwangloser Einstieg ins Mittelhochdeutsche, die Welt, der es entstammt, und seine Literatur nutzen, denn der Autor erläutert nicht nur mit leichter Hand sprachliche Themen wie etwa die zweite Lautverschiebung, sondern zitiert auch immer wieder jeweils im Original und in Übersetzung aus allen möglichen mittelhochdeutschen Werken, wobei ein gewisser Schwerpunkt auf Heldenepik und Artusromanen zu liegen scheint (alle, die aus der germanistischen Mediävistik kommen, werden hier also viele alte Bekannte wiedertreffen, während fachfremde Interessierte erste Einblicke in die literarischen Welten des Mittelalters erhaschen können). Durch diese Auswahl wird noch einmal unterstrichen, was Schwarzbach-Dobson auch explizit hervorhebt: Das Mittelhochdeutsch, über das wir am meisten wissen, ist das einer größtenteils von Geistlichkeit und Adel geprägten Dichtung.

Ein lehrreiches, angenehm lesbares und oft auch humorvolles Buch also – aber noch mehr als das, denn der ansprechende Inhalt ist auch in eine besonders nette äußere Form gebracht worden. Die Buchgestaltung von Clara Neumann (die, gerade für ein Sachbuch eher ungewöhnlich, mit blauer Schrift arbeitet) und die Illustrationen von Adèle Verlinden, die leuchtend bunt auf moderne und frische Art mittelalterliche Vorbilder aufgreifen, machen Verschwundene Wörter des Mittelalters zu einem wahren Schmuckstück nicht nur für Mittelalterbegeisterte, sondern auch für alle anderen, die sich für Sprache und ihre enge Verflochtenheit mit Kultur interessieren, und für Bibliophile allgemein.

Michael Schwarzbach-Dobson: Verschwundene Wörter des Mittelalters. Köln, Greven Verlag, 2023, 222 Seiten.
ISBN: 978-3-7743-0963-0

 


Genre: Kunst und Kultur

Caspar David Friedrich und der weite Horizont

Caspar David Friedrich wurde 1774 geboren, und so ist 2024 ein Jubiläumsjahr, in dem zahlreiche Ausstellungen und Publikationen den berühmten Maler würdigen, darunter auch das äußerlich besonders ansprechend gestaltete Büchlein Caspar David Friedrich und der weite Horizont.

Die Kunsthistorikerin Kia Vahland legt damit keine Biographie im klassischen Sinne vor, sondern eher einen bisweilen philosophischen Streifzug durch Bild- und Lebenswelten des Künstlers und die Beschäftigung der Nachgeborenen mit ihm, von der unverdienten Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten bis zu den neuesten Perspektiven der modernen Forschung.

Vahland zeichnet Friedrich als durchaus widersprüchlichen Menschen: Einerseits war er frommer Protestant, experimentierfreudiger Kreativer, begeisterter Wanderer und neugieriger Erkunder von Außenwelt und Seelenleben, andererseits aber auch früh durch den Verlust von Mutter und Bruder traumatisiert, unglücklich bis hin zum (glücklicherweise gerade noch vereitelten) Suizidversuch und in späteren Jahren in seiner launischen Art für sein Umfeld, insbesondere auch seine Frau Caroline Bommer, nicht immer leicht zu ertragen.

Dass die in diesem Buch erfreulicherweise in Farbe wiedergegebenen (Landschafts-)Bilder, die solch ein sperriger Charakter malt, alles andere als rein dekorativ und gefällig sind und mancherlei Untiefen aufweisen, versteht sich fast schon von selbst. Vahland nähert sich ihnen einfühlsam und mit viel Scharfblick, ob nun den ganz berühmten wie dem Mönch am Meer und dem Wanderer über dem Nebelmeer oder eher unbekannten Skizzen wie der Flachlandschaft auf Rügen, die viel über Friedrichs Umgang mit dem Horizont verrät, der für Vahland „sein bester Freund“ (S. 35) ist und seine Gemälde wie kaum ein anderes Element prägt.

Doch die Horizonterweiterung, die Friedrich durch besonders weite Blickwinkel vornimmt, ist eben nicht nur eine rein wörtliche, sondern auch eine im übertragenen Sinne zu sehende, die den Menschen zum Nachdenken anregen soll und will. Welche Rolle dabei auch seine oft nur in Rückenansicht auftretenden Figuren spielen, die mehr als bloße Staffage sind und nicht nur auf den Kontrast zwischen (Stadt-)Leben und vermeintlich urwüchsiger Natur, sondern oft genug auch auf spirituelle Inhalte und auf die politischen Diskurse seiner Zeit verweisen, arbeitet Vahland mit einer angesichts des begrenzten Raums von nur 110 Seiten erstaunlichen Tiefe heraus.

Ihr auf ihrem Streifzug durch Friedrichs Welt zu folgen, macht daher nicht nur viel Vergnügen, sondern ist auch lehrreich und regt dazu an, sich vielleicht selbst noch genauer mit dem ein oder anderen Gemälde zu befassen.

Kia Vahland: Caspar David Friedrich und der weite Horizont. Berlin, Insel Verlag, 2024 (Insel-Bücherei Nr. 1535), 110 Seiten.
ISBN: 978-3-458-19535-1

 


Genre: Biographie, Kunst und Kultur