Weisheitsschenker und Runenfinder, Heiler von Pferden wie von Menschen, Gott der Herrscher und der Krieger, aber auch der Skalden, Herr über ein Totenheer, düsterer Empfänger von Menschenopfern und vielleicht sogar Spender von Fruchtbarkeit – Odin hat viele Gesichter, die sich nicht alle mühelos miteinander in Einklang bringen lassen. Mit Odin widmet nun der Skandinavist Klaus Böldl dem weithin berühmten, aber unter den vielen kursierenden Fehlvorstellungen der Populärkultur letzten Endes doch ziemlich unbekannten Gott eine lesenswerte Monographie, die neben den Odin der frühen Quellen auch den der Rezeptionsgeschichte seit dem christlichen Mittelalter stellt.
Der erste Teil des zweigliedrigen Buchs, der sich dem widmet, was sich aus den Quellen aus über die wohl schon seit der Antike und dann im Frühmittelalter bis in die Wikingerzeit hinein verehrte Gottheit Odin (je nach Region auch als Wodan oder Woden bekannt) herauslesen lässt, macht vor allem eines deutlich: Die direkt aus heidnischen Zeiten stammende Überlieferung ist verschwindend gering, da fast alle erzählenden Texte, aus denen das Meiste dessen, was wir über Odin „wissen“ (oder wohl eher zu wissen glauben), stammt, erst nach der Christianisierung entstanden und viele heute als Allgemeinbildung über den Asen geltende Vorstellungen (einschließlich der vermeintlichen Funktionsweise von Walhall als Gefallenenjenseits) weitaus jünger sind, als man vermuten könnte. Die tatsächlichen frühen Glaubenswelten, auf die man Rückschlüsse ziehen kann, bleiben also oft diffuser und in ihrer Interpretation schwieriger als die bunt ausgemalten hochmittelalterlichen Geschichten.
Abseits der noch irgendwie, wenn auch gebrochen, auf paganen Ideen beruhenden Erzählungen macht – wie im zweiten Teil, der sich Odins Rezeptionsgeschichte vom Mittelalter bis in die Gegenwart widmet, erläutert wird – die Odinsgestalt in dieser Epoche eine gewaltige Wandlung durch, die sich in zwei Hauptstränge aufteilen lässt: Besteht einerseits das gelehrte Bestreben, Odin (den sich immerhin mehrere Herrscherhäuser als Ahnherrn zuschrieben) euhemeristisch zu einem menschlichen König aus grauer Vorzeit, der zu Unrecht göttlich verehrt worden sei, zu erklären, wird Odin aus anderer Perspektive zum dämonischen Wesen (im Gefolge des Teufels oder in Überschneidung mit diesem) und treibt in dieser Form nicht nur literarisch, sondern auch im volkstümlichen Aberglauben sein Unwesen (wobei Böldl gut herausarbeitet, dass beide Bereiche nicht so unabhängig voneinander sind, wie Mythenforscher des 19. Jahrhunderts, darunter auch Jacob Grimm, in ihrer Hoffnung auf pagane Relikte im Volksglauben gern annehmen wollten).
Noch wilder wird es allerdings mit dem in der Neuzeit erwachenden teils wissenschaftlichen, teils romantisierenden Interesse an Odin, denn abgesehen von Bildwerken unterschiedlichster Couleur, literarischen Arbeiten, die von der Verklärung bis zur Satire reichen, und der bekannten Popularisierung durch Wagners Ring des Nibelungen gibt es hier kuriose Forschungsthesen (nach denen Odin beispielsweise entweder mit Odysseus oder mit Buddha identisch sei), aber im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts leider auch bald die bis heute immer wieder aufflammende völkisch-nationalistische Vereinnahmung Odins mit einer Überbetonung des Kriegsgottaspekts und einer hässlichen Verquickung esoterischer und rassistischer Ideen (übrigens nicht allein im deutschsprachigen Raum, sondern z. B. auch in den USA). Dem gegenüber stehen radikal andere moderne Interpretationen, die Odin als Repräsentanten der Queerness, des Schamanismus oder gleich von beidem sehen. Ähnlich uneinheitlich ist das Bild in der abschließend analysierten Musik der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart (von Folk bis Heavy Metal), in der Odin nicht nur in den Liedern Rechtsextremer, sondern auch in weit harmloseren Texten besungen wird. Wie beim Odin der Literatur und der bildenden Kunst ist die Auswahl der vorgestellten Beispiele notwendigerweise selektiv (wahrscheinlich würde es den Umfang eines einzigen Buchs auch sprengen, auch nur annähernd die ganze Fülle der künstlerischen Odinrezeption wiedergeben zu wollen), auffällig ist allerdings, dass die Odindarstellung in neueren Medien (etwa im Film) ausgeklammert bleibt.
Insgesamt beeindruckt Böldls Darstellung jedoch nicht nur durch ihren Kenntnisreichtum über alle Epochen hinweg, sondern auch durch ihre Ausgewogenheit und Fairness im Urteil und ihren Verzicht auf überzogene Spekulationen. Denn letztlich, so zeigt sich, ist es unmöglich, aus den wenigen tatsächlich noch aus paganen Zeiten überlieferten Informationen die Religion, die sich mit Odin einmal verband, vollständig zu rekonstruieren – wobei es allerdings aufgrund des langen Zeitraums, des weiten geographischen Rahmens und der Schriftarmut der Odinverehrung die eine, kanonische Variante vermutlich gar nicht gab, sondern von Anfang an heterogene Vorstellungen existiert haben dürften. Was bleibt, ist am Ende also der Eindruck einer komplexen, vielschichtigen und nicht auf einen einfachen Nenner zu bringenden Gottheit, die gerade deshalb wohl auch weiterhin zu den unterschiedlichsten Annäherungen und Deutungen inspirieren wird – hoffentlich eher im Guten als im Schlechten.
Klaus Böldl: Odin. Der dunkle Gott und seine Geschichte. Von den Germanen bis Heavy Metal. München. C.H. Beck, 2024, 320 Seiten.
ISBN: 978-3-406-82168-4