Archive

Die Katzenäugige 1: Der Wald der Welt

Von einem Luchsweibchen großgezogen, lebt ein Mädchen mit Katzenaugen in einem Wald, der eine isoliert gelegene Stadt umschließt. Als deren junge Herrscherin Paqari, um sich zu beweisen, auf die Jagd geht, kostet das die Luchstochter nicht nur ihre Mutter, sondern auch die Freiheit. Der Arzt und Priester Yanta nimmt sich ihrer nicht ganz uneigennützig an. Obwohl sie mit seiner Hilfe die Menschen zumindest sprachlich verstehen lernt, scheint ihre Lage erst einmal ausweglos. Doch so leicht gibt die Luchstochter nicht auf, und als sie auf einen Bildteppich stößt, der eine besondere Geschichte erzählt, eröffnet sich ihr eine neue Sicht auf die Dinge …

Die Katzenäugige 1: Der Wald der Welt von Judith C. Vogt ist der Auftakt einer neuen Fantasyreihe. Trotz seiner Kürze hat das düstere, atmosphärische Buch viel Inhalt zu bieten und besticht vor allen Dingen durch seinen originellen Weltenbau, der mittel- und südamerikanische Inspirationen nicht verleugnen kann (so gibt es etwa einen Jaguar, eine Knotenschrift und einen lichtzentrierten Opferkult). Dieser nuanciert ausgemalten Zivilisation steht der magisch aufgeladene Wald gegenüber, der neben einer ganz eigenen Kultur seiner Wesen auch einen Schmetterling, der es in sich hat, und manch weitere Rätsel zu bieten hat. Der Konflikt zwischen Stadt und Wald ist dabei mit interessanten Zwischentönen geschildert, denn es erweist sich, dass auch Menschen, die selbst schon mit Völkermord und – so kann man vermuten – Eroberung konfrontiert waren, daraus nicht unbedingt lernen, ihren Umgang mit der Natur nicht als gnadenlose Kolonisierung zu gestalten.

Ungeachtet dieses beständig mitschwingenden Hintergrundthemas erscheint der Roman zunächst primär wie eine mit Kontrasten und Parallelen arbeitende Erzählung um zwei junge Frauen, die sich bei aller Verschiedenheit in einer ähnlichen Situation befinden: Beide müssen mit dem plötzlichen Tod ihrer jeweiligen Mutter und weiteren Verlusten zurechtkommen und sind gezwungen, sich in einem Spannungsfeld aus Macht und Hilflosigkeit zu behaupten, das ihre Handlungsmöglichkeiten beschränkt. Zudem zwingt ihre Andersartigkeit – im einen Fall der Herkunft aus dem Wald, im anderen der übermenschlich aufgeladenen Herrscherrolle geschuldet – die Luchstochter wie Paqari, mit Furcht und Zurückscheuen ihrer Umgebung zurechtzukommen. Für die Folgebände deuten sich allerdings epischere Entwicklungen an, bei denen auch noch ein geheimnisvoller Reisender eine Rolle spielt, der die Isolation der Stadt durchbricht und das begrenzte Figurenensemble erweitert.

Das alles ist oft blutig und brutal, manchmal aber auch ungeahnt humorvoll erzählt, immer aber intensiv, wozu auch die ungewohnten Schilderungen aus der Perspektive der Luchstochter beitragen, für die z.B. der Geruchssinn eine weit größere Rolle spielt als für den Durchschnittsmenschen.

Die durchdachte Sprache des Romans verrät viel Spaß an poetischen Wendungen und vor allem auch an bedeutsamen Antonomasien. Zudem gibt es eine Besonderheit: Die Katzenäugige wird explizit damit beworben, in geschlechtergerechter Sprache verfasst zu sein. Das wird all diejenigen freuen, die sich in diesem Bereich Veränderungen wünschen. Aber auch wer (wie die Rezensentin) mit dem generischen Maskulinum gut leben kann, wird hier nicht über sperrige Konstruktionen stolpern. Judith C. Vogt macht vor, wie ein geschicktes, einem literarischen Werk angemessenes Gendern, das den Lesefluss nicht hemmt, aussehen kann.

Bedauerlich ist nur, dass dieser erste Teil schon endet, kaum dass die Figuren einem vertraut geworden sind. Die spannenden Wendungen kurz vor Schluss lassen einen wünschen, gleich weiterlesen zu können, statt schon am Ende des Buchs angelangt zu sein. Aber vielleicht erscheint ja in nicht allzu ferner Zukunft der nächste Band und lässt einen wieder in abenteuerliche Geschehnisse in Stadt und Wald eintauchen …

Vogt, Judith C.. Die Katzenäugige 1: Der Wald der Welt, o. O. 2021. E-Book (über Amazon und Judith C. Vogts Website zu beziehen).
ASIN: B096SLXM5H


Genre: Roman

Hollow Kingdom

Das zahme Krähenmännchen S. T. führt in Seattle ein zufriedenes Leben. Auf seinen Menschen Big Jim lässt S. T. nichts kommen, auch wenn er seinen zweiten Mitbewohner, den Bluthund Dennis, als Trottel ohne Manieren verachtet. Als plötzlich eine Zombieapokalypse über die Welt hereinbricht und auch mit Big Jim besorgniserregende Veränderungen vorgehen, erklärt S. T., der sich eher als Mensch ehrenhalber denn als Vogel versteht, es zu seiner Mission, ihn zu retten. Gemeinsam mit Dennis bricht er auf, um ein Heilmittel für Big Jim zu finden. Erst im Zuge zahlreicher Begegnungen mit anderen Tieren, unter denen ebenso viele eiskalte Killer wie unerwartete Verbündete sind, erkennt S. T. nach und nach, dass in dem radikal gewandelten Umfeld eine ganz andere Aufgabe auf ihn wartet – und dass er ihr nur gewachsen sein wird, wenn er sich damit abfindet, dass es kein Zurück in die vermeintlich gute alte Zeit mehr gibt …

Die Abkürzung „S. T.“ steht für „Shit Turd“, und der Name des Ich-Erzählers gibt den Ton für nahezu das gesamte Buch vor, das von Henning Ahrens gelungen ins Deutsche übersetzt wurde. Die Sprache ist mit Ausnahme einzelner Passagen äußerst deftig, und auch thematisch wird es bei allem schwarzen Humor oft genug ordinär und ziemlich blutig. Kira Jane Buxton holt nicht allein aus der Zombiethematik an Ekel und Grauen heraus, was nur irgend darinsteckt, sondern konfrontiert ihre tierischen Protagonisten auch in anderer Hinsicht immer wieder mit Tod und Verderben. Für manche Schilderungen braucht man einen guten Magen. Es ist wohl Geschmackssache, ob man sie als ungeschminkte Darstellung einer Situation empfindet, in der nach dem Ausfall des Faktors Mensch die Machtverhältnisse rabiat neu ausgehandelt werden, oder doch das Gefühl hat, dass die Lust am Schaurigen bisweilen zu sehr ausgereizt wird.

Wenn man diese vordergründige Ebene der Geschichte ausblenden oder gar goutieren kann, hat Hollow Kingdom aber durchaus interessante Ansätze zu bieten, und das nicht nur, weil es keine schlechte Idee ist, einmal eine Krähe in der Rolle des abgehalfterten und griesgrämigen Antihelden zu präsentierten, der sich als Auserwählter wider Willen auf eine Queste begeben muss, deren Tragweite ihm zunächst selbst gar nicht bewusst ist.

Kira Jane Buxton geht es auch um eine Warnung vor der in ihren Augen besonders durch die Digitalisierung beförderten Naturferne der Menschen, der für die Tiere „Hohlen“, die hier die Quittung dafür präsentiert bekommen, indem sie zu Zombies mutieren, die von Handys und anderen Geräten mit Bildschirmen magisch angezogen werden. Auch darüber hinaus schwingt ein gerüttelt Maß an Gesellschaftskritik mit, allerdings durchaus mit Zwischentönen, wenn sich nach und nach in den Erinnerungen des Ich-Erzählers an den zunächst als tumber Macho und Waffennarr eingeführten Big Jim enthüllt, dass dieser in gewisser Weise auch ein Opfer der Verhältnisse ist.

Eingeflochten in das, was S. T. erzählt (wem genau, zeigt sich übrigens erst ganz am Schluss), sind die Erfahrungen aller möglichen Haus- und Wildtiere nach dem Absturz der Menschen ins Zombiedasein. Teils geht es auch hier drastisch zu, doch daneben finden sich unerwartet poetische Momente, in denen die Naturbegeisterung der Autorin deutlich durchklingt und sich erweist, dass sprachliche Schönheit ihr doch nicht völlig fremd ist.

Das Romanende bietet dann eine vielleicht nicht ganz unerwartete versöhnliche Wendung (zumindest allen, die Simone Hellers How Bees Fly gelesen haben, dürfte hier etwas bekannt vorkommen). Insgesamt hat man aber doch den Eindruck, dass Hollow Kingdom davon hätte profitieren können, wenn die Autorin die ihr am Herzen liegenden Botschaften – auch die, dass man sich auf Veränderungen einlassen muss und nur gemeinsam etwas erreichen kann – etwas subtiler vermittelt hätte und nicht mit dem Holzhammer.

Kira Jane Buxton: Hollow Kingdom. Das Jahr der Krähe. Frankfurt am Main, Fischer Tor, 2020, 362 Seiten.
ISBN: 978-3-596-70527-6


Genre: Roman

Unter dem Ahorn

Chief Inspector Armand Gamache und sein Stellvertreter Jean-Guy Beauvoir werden zu einem ungewöhnlichen Einsatz gerufen: In einem einsamen Kloster in der kanadischen Wildnis, das erst kürzlich durch den ungeahnten Erfolg seiner CD mit gregorianischen Gesängen ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt ist, liegt der Chorleiter Frère Mathieu erschlagen im für Außenstehende nicht zugänglichen Garten des Abts. Schnell zeichnet sich ab, dass die scheinbar so friedliche Gemeinschaft tief gespalten ist und mehr als einer der Mönche ein Motiv gehabt hätte, den Mord zu begehen. Aber noch bevor Gamache und Beauvoir auch nur herausfinden können, was es mit dem geheimnisvollen Pergament auf sich hat, das Mathieu an seinem Todestag bei sich hatte, taucht im Kloster auch noch ihr feindseliger Vorgesetzter Sylvain Francoeur auf, der nichts Gutes im Schilde führt. So droht der schon länger schwelende Konflikt innerhalb der Polizei zu eskalieren, während der Mörder immer noch unerkannt ist …

Louise Pennys Krimireihe um Armand Gamache, den Leiter der Mordkommission von Québec, ist eigentlich eine der besten Serien, die das Genre in den letzten Jahren gesehen hat. Umso mehr überrascht es, dass Unter dem Ahorn, der neueste auf Deutsch erschienene Band, auf ganzer Linie enttäuscht. Zumindest in einer Hinsicht ist das allerdings nicht die Schuld der Autorin: Die Übersetzung von Sepp Leeb weicht in Wortwahl und Sprachduktus erheblich von den übrigen Teilen der Reihe ab (die überwiegend von Andrea Stumpf und Gabriele Werbeck übersetzt wurden), so dass sich die gewohnte Atmosphäre nicht einstellen will.

Abgesehen von dem Eindruck, dass hier ein etwas härterer und „dreckigerer“ Krimitonfall als bisher angestrebt und gerade auch Figuren wie Gamache in den Mund gelegt wird, zu denen er nicht gut passt, finden sich an manchen Stellen eher unglückliche Übersetzungsentscheidungen. So fragt man sich z.B., warum mehrfach die englische Anrede „Sir“ (von Gamache an Francoeur gerichtet, S. 326, oder von Frère Sébastien Gamache gegenüber, S. 494) in der deutschen Fassung stehen geblieben ist, obwohl die Beteiligten an der jeweiligen Unterhaltung allesamt französischsprachig sind und sich vermutlich nicht unbedingt auf Englisch austauschen.

Das alles wäre vielleicht noch zu verschmerzen, wenn der Band wenigstens inhaltlich überzeugen würde, aber das ist nicht der Fall. Durch die Beschränkung der Handlung auf das entlegene Kloster opfert Louise Penny eine der größten Stärken ihrer Reihe: Das Dorf Three Pines und seine herrlich exzentrische Bewohnerschar kommen hier bis auf eine Erwähnung im Nebensatz überhaupt nicht vor. Der eher düstere Mikrokosmos des Klosters bildet keinen adäquaten Ersatz dafür, zumal es, von ein paar Modernisierungen wie Solarstrom und Erdwärmeheizung abgesehen, eher aus einem Schauerroman des 19. Jahrhunderts stammen könnte, als glaubwürdig modernes Ordensleben abzubilden. Hier gibt es mehr Geheimtüren und jahrhundertelang erfolgreich Verborgenes, als man in einem ansonsten mehr oder minder realistischen Krimi erwarten würde.

Der Mordfall selbst wirkt wie eine etwas plumpe Hommage an den Klosterkrimi schlechthin, Umberto Ecos Namen der Rose. Zwar hält sich das Blutvergießen bei Louise Penny im Vergleich dazu in Grenzen, aber hier wie dort wird aus ideologischen Gründen gemordet, um die eigene Deutungshoheit über ein wichtiges Kulturgut zu bewahren, und auch der Auftritt eines dominikanischen Inquisitors (pardon, eines Abgesandten der vatikanischen Glaubenskongregation) darf natürlich nicht fehlen. Nicht nur aufgrund der Orientierung am berühmten Vorbild ist der Mörder relativ früh zu erraten, aber der Fall an sich ist Penny wohl auch weniger wichtig als der Versuch, mit aller Macht die Parallelen zwischen dem Kloster und der ebenfalls zerstrittenen Sûreté herauszuarbeiten. Orden wie Polizei sind eingeschworene Gemeinschaften, die Übeltäter in den eigenen Reihen nur ungern an die Außenwelt ausliefern und in denen bei Konflikten zwischen Führungspersönlichkeiten jeder Einzelne entscheiden muss, auf welcher Seite er stehen will. Dass Beauvoir, der in diesem Buch solch eine Wahl treffen muss, zu allem Elend auch noch in einem der Mönche gewissermaßen sein geistliches Spiegelbild erblickt, ist reichlich dick aufgetragen.

Hier und da blitzt dennoch etwas von dem auf, was Pennys Romane sonst so lesens- und liebenswert macht, etwa in der von beiden Beteiligten noch geheim gehaltenen Beziehung zwischen Beauvoir und Gamaches Tochter Annie oder in einigen humorvollen Szenen, sei es, dass Gamache im Bademantel in die Morgenandacht der Mönche stolpert oder dass die klostereigene Pralinenproduktion sich für die Polizisten immer wieder als unwiderstehliche Verführung zum kulinarischen Sündigen erweist.

Ein vollkommen schlechtes Buch ist Unter dem Ahorn daher nicht, aber doch eben der bisher schwächste Band der Reihe. Man kann nur hoffen, dass es ab dem folgenden Roman wieder bergauf geht und Louise Penny zu Lakritzpfeifen und spritzigen Dialogen zurückkehrt, statt sich weiter wie hier in allzu grobschlächtiger Symbolik zu üben.

Louise Penny: Unter dem Ahorn. Der achte Fall für Gamache. Zürich, Kampa, 2021, 556 Seiten.
ISBN: 978-3-311-12029-2


Genre: Roman

Darkness over Cannae

Jenny Dolfen hat sich vor allem als Illustratorin einen Namen gemacht, aber mit Darkness over Cannae legt sie einen historischen Kurzroman über die Schlacht von Cannae im Zweiten Punischen Krieg vor, in der der karthagische Feldherr Hannibal seine römischen Gegner vernichtend schlug. Die thematische Eingrenzung ist übrigens sehr wörtlich zu nehmen: Die Handlung setzt am Morgen unmittelbar vor der Schlacht ein und endet schon am Abend danach. Die Beschränkung auf diesen knappen Zeitausschnitt ist jedoch noch nicht das eigentlich Ungewöhnliche an der Geschichte. Ihre Wirkung und schiere Wucht gewinnt sie vielmehr in hohem Maße auch daraus, dass sie gewissermaßen als Bilderbuch für Erwachsene gestaltet ist. So gut wie jede Seite weist eine von der Autorin selbst stammende Illustration auf, in der sich das Streben nach historisch möglichst exakter Rekonstruktion und der Sinn für Dramatik und emotionale Ansprache die Waage halten.

Dolfens Held ist dabei eindeutig Hannibal, den sie als brillanten Taktiker zeichnet, der den noch eher traditionsverhafteten und zudem vom Profilierungswettstreit der einzelnen Mitglieder der Nobilität behinderten Römern militärisch selbst in Unterzahl haushoch überlegen ist, sich allerdings politisch übel verkalkuliert, wenn er glaubt, dass ein Sieg bei Cannae den gesamten Krieg entscheiden könnte. Wer sich je gewünscht hat, den ersten Teil der bei Livius Hannibals Mitstreiter Marhabal in den Mund gelegten Einschätzung, Hannibal verstehe zu siegen, aber den Sieg nicht zu nutzen, gewissermaßen in Buchlänge ausgearbeitet zu sehen, findet hier genau das.

Auch die anderen Protagonisten sind überwiegend historisch belegte Kombattanten; darauf, die Situation der Zivilbevölkerung zu schildern, verzichtet Dolfen bis auf einen Verweis auf von den Karthagern abgeerntete örtliche Felder fast völlig. Der reinen Konzentration auf die Schlacht entsprechend, erscheinen die Handelnden auch primär in ihrer militärischen Funktion. Nur bei wenigen Figuren erlaubt die Autorin einen knappen Blick auf Gedanken und Gefühle jenseits des Krieges, wenn die Familie von Hannibals fiktivem Leibwächter Bomilkar Erwähnung findet oder der römische Tribun Lentulus an seine Eltern denken darf. Apropos Lentulus: Ganz so wie beim historischen Vorbild verlaufen seine Erlebnisse nicht, aber mit voller Absicht, denn an seinem Beispiel zeigt Dolfen glaubhaft, wie und warum tatsächliche Geschehnisse möglicherweise hinter einer doch etwas geschönten Version in den Quellen verschwunden sein könnten.

Eindrucksvoll ist Dolfens Detailwissen über Kulturhistorisches und Alltägliches, das praktisch in jeder Szene in die Beschreibungen mit einfließt, ohne explizit lehrhaft vorgetragen zu werden. So vollzieht der römische Konsul Aemilius Paullus ganz selbstverständlich ein Ritual mit verhülltem Haupt (capite velato), wie überhaupt positiv auffällt, dass Dolfen antike Religiosität in ihrer ganzen Bandbreite ernstnimmt – vom aufrichtigen Götterglauben bis hin zu kleinen Tricksereien, um ein günstiges Vorzeichen wahrscheinlicher zu machen.

Obwohl es ein ausführliches Glossar gibt und historisches Vorwissen für die Lektüre nicht zwingend erforderlich ist, schadet es nichts, ein paar Kenntnisse mitzubringen, um hier und da schon beim ersten Lesen Einzelheiten zu bemerken, die an Insiderwitze grenzen. So ist es z.B. vor Beginn der Schlacht ausgerechnet der junge Scipio (lange, bevor er den Beinamen Africanus gewinnt), der als späterer Sieger über Hannibal als einziger Römer bemerkt, dass an Hannibals Truppenaufstellung etwas verdächtig ist. Nicht jede Anspielung stammt jedoch aus der Antike. So kann man zumindest vermuten, dass der im Bild wie im Text präsente rote Mohn durchaus eine symbolische Bedeutung hat und eine Art „In Flanders Fields“ avant la lettre evozieren soll.

Denn was mit Siegesgewissheit auf beiden Seiten beginnt und wider Erwarten sogar Raum für Humor lässt (wenn etwa der Reiterführer Hasdrubal in eine von Sprachbarrieren erschwerte Debatte mit keltischen Kopfjägern unter seinem Kommando gerät), artet nach und nach in ein einziges Gemetzel aus, das für die Gewinner kaum weniger verstörend als für die Besiegten ist. Trotz der immer wieder durchklingenden Bewunderung für Hannibal und seine Fähigkeiten als Feldherr ist Darkness over Cannae damit auch eine in Wort und Bild eindringliche Schilderung des Grauens des Krieges, die über die ins Zentrum gestellte konkrete historische Situation hinaus Gültigkeit beanspruchen kann und nicht nur Antikenbegeisterte betroffen und nachdenklich zurücklassen dürfte.

Dolfen, Jenny: Darkness over Cannae. Thalion Graphics, Eppingen-Mühlbach, 2014, 144 Seiten.
ISBN: 978-3-9816944-1-3


Genre: Roman

Lacroix und die Toten vom Pont Neuf

Unter dem Pont Neuf in Paris wird ein Obdachloser ermordet aufgefunden. Der ein wenig altmodische Kommissar Lacroix und seine Mitarbeiter nehmen sich des Falls an. Bald rückt ein kriminelles Brüderpaar, das im Milieu Schutzgelderpressung betreibt, in den Fokus der Ermittlungen, aber als es nicht bei einer einzigen Leiche bleibt, steht bald ein ganz anderer Verdacht im Raum: Ist etwa der nie gefasste Serienkiller zurück, der schon vor Jahrzehnten an der Seine umging – oder sind die Motive für die neuen Morde vielleicht doch persönlicherer Natur?

Es ist ein sehr klassischer Krimi, den Alex Lépic mit Lacroix und die Toten vom Pont Neuf, dem Eingangsband einer neuen Reihe, vorlegt. Zwar gibt es ein paar behutsame Modernisierungen – so etwa ein recht divers aufgestelltes Ermittlerteam, in dem besonders die engagierte Jade Rio hervorsticht, die aus einem französischen Überseegebiet stammt und in einer lesbischen Ehe lebt -, aber die Hauptfigur Lacroix wird nicht ohne Grund auch buchintern gern mit Maigret verglichen. Technischen Neuerungen abhold, dafür aber mit einer Vorliebe für gutes Essen gesegnet und bestens in einem bei seinen Nachforschungen hilfreichen Umfeld verwurzelt, kann sich der Kommissar ganz auf sein Gespür verlassen und auf traditionelle Art die richtigen Schlüsse aus seinen Beobachtungen ziehen.

Die Runde kauziger Gestalten vom alten Gemüsehändler über die Wirtin des Stammbistros bis hin zum als Priester mit Gott und der Welt bekannten Bruder, die als privater Bezugsrahmen um den Helden etabliert wird, ist nicht unsympathisch, aber typenhafter geraten als z.B. das wiederkehrende Personal in den Krimis von Louise Penny. In gewisser Weise gilt das auch für das Paris, das Lépic beschreibt: Bekannte Landmarken, die auch in jedem Reiseführer vorkommen, haben ihren Auftritt, und das Leben an der Seine wird vielleicht etwas zu sehr so geschildert, wie ein deutsches Publikum es sich gern ausmalt, als wie es wirklich sein könnte. Ein bisschen hat man deshalb den Eindruck, dass der Reiheneinstieg gezielt darauf ausgerichtet ist, auf der Erfolgswelle der Frankreichkrimis mitzuschwimmen, die im Gefolge der beliebten Werke insbesondere von Martin Walker und Jean-Luc Bannalec seit Jahren in wachsender Zahl erscheinen.

Solange man die Erkenntnis, dass hier vorauseilend ganz bestimmte Lesevorlieben bedient werden, mit Humor nehmen kann, wird man jedoch von der Geschichte gut unterhalten. Der eigentliche Kriminalfall ist spannend gestaltet, auch wenn es der Autor seinem Protagonisten bei der Klärung der Frage, ob eine Verbindung zwischen den neuen Mordfällen und denen in der Vergangenheit besteht, vielleicht einen Hauch zu einfach macht. Das Drumherum mit ausgedehnten Bistrobesuchen und Gesprächen auch über Themen abseits der Ermittlungen liest sich vergnüglich, und sich irgendwann auf einen weiteren Besuch in Lépics Paris einzulassen, schadet sicher nicht.

Gründlicher hätte allerdings das Korrektorat vorgehen können, denn neben den üblichen Tippfehlern, die man immer einmal übersehen kann, sind hier und da auch regelrechte Stilblüten stehen geblieben (z.B., wenn Lacroix sich auf der Suche nach Beweismaterial bei einigen Müllmännern erkundigt, ob sie „die restlichen Mülltonnen denn gelehrt“ hätten, S. 156).

Alex Lépic: Lacroix und die Toten vom Pont Neuf. Zürich, Kampa, 2019, 272 Seiten.
ISBN: 978-311-12500-6


Genre: Roman

Bei Sonnenaufgang

Clara Morrow, unterschätzte Malerin und gute Bekannte von Chief Inspector Armand Gamache, bekommt endlich eine große Einzelausstellung. Doch die Freude währt nicht lange: Am Morgen nach der Vernissage liegt die einst gefürchtete, mittlerweile aber in die Bedeutungslosigkeit abgerutschte Kunstkritikerin Lillian Dyson mit gebrochenem Genick in Claras Garten im beschaulichen Dorf Three Pines. Obwohl Lillian eine auffällige Erscheinung war, will niemand sie auf Claras Party am Vorabend gesehen haben. Schnell stellt sich heraus, dass Lillians Tod kein Unfall, sondern Mord war. Personen, die ein Motiv gehabt haben könnten und zum Tatzeitpunkt vor Ort waren, gibt es mehr als genug, und bald muss Gamache sich auch damit auseinandersetzen, dass Clara selbst mit Lillian mehr zu tun hatte, als irgendjemand ahnen konnte …

Louise Pennys in Kanada angesiedelte Krimis um den klugen und kultivierten Ermittler Armand Gamache heben sich durch ihre feine Charakterzeichnung und die angeschnittenen Themen wohltuend vom Durchschnitt des Genres ab. In dem zuletzt auf Deutsch erschienenen siebten Band Vor Sonnenaufgang ist es das Künstlerdasein mit all seinen Höhen und Tiefen, das ausgelotet wird. Dabei geht es nicht nur um Gemälde und ihre Wirkung, sondern auch um Galeristen, die einerseits zwar den von ihnen Betreuten zu Bekanntheit und Erfolg verhelfen können, sich andererseits aber auch oft über Gebühr an ihnen bereichern oder lieber auf leicht Verkäufliches als auf anspruchsvolle Kunst setzen. Noch zentraler für die geschickt aufgebaute Handlung sind jedoch Neid und Missgunst, die unter Kreativen selbst Freundschaften und intime Beziehungen vergiften können. Dass dies nicht nur für die bildenden Künste, sondern auch für die Literatur gilt, wird an der alten Dichterin Ruth deutlich, die sich trotz all ihrer Marotten als kundige Ratgeberin für Clara in Bezug auf den Umgang mit guten wie schlechten Kritiken erweist.

Die Aufklärung des Mordfalls liest sich zwar spannend, ist aber, wie immer bei Louise Penny, eigentlich nicht das Wesentliche an dem Roman. Vielmehr werden die schon in früheren Bänden eingeführten Figuren behutsam weiterentwickelt, diesmal insbesondere Gamaches Stellvertreter Jean-Guy Beauvoir, der nicht nur einen desaströsen Polizeieinsatz, sondern auch das Scheitern seiner Ehe zu verkraften hat und teilweise gefährliche Mittel wählt, um damit zurechtzukommen. Die Liebesgeschichte, die sich hier – wenn auch zunächst einmal sehr einseitig – für ihn zu entwickeln beginnt, ist sensibel und amüsant geschildert.

Ohnehin ist trotz des Ernsts und der Brutalität bestimmter Handlungsaspekte Louise Pennys unaufdringlicher Humor stets präsent, ob nun in den pointierten Dialogen oder in einzelnen Szenen, die einen aus dem Schmunzeln gar nicht mehr hinauskommen lassen (herrlich ist z.B. eine Passage, in der sich der nicht gerade kunstaffine Beauvoir spontan als Kritiker einer bekannten Zeitung ausgibt – mit ungeahntem Erfolg). Doch noch stärker als von den lustigen Elementen ist Pennys Erzählweise von tiefer Menschlichkeit geprägt. Die Autorin weckt viel Verständnis auch für Fehler und Schwächen und setzt sich immer wieder mit der Frage auseinander, ob und wie viel man vergeben kann. Die Grenzen des Verzeihlichen sind dabei für die einzelnen Romanfiguren unterschiedlich weit gesteckt, und auch aus Lesersicht kann man einige Denkanstöße mitnehmen.

Wer Freude an den früheren Bänden der Reihe hatte, wird diesen aber wohl ohnehin verschlingen, und spätestens ab hier (wenn nicht schon ab dem vorigen Band) empfiehlt es sich auch, die Serie tatsächlich in chronologischer Reihenfolge zu lesen. Zwar ist der Roman prinzipiell in sich abgeschlossen, aber manche Details machen einfach noch mehr Spaß, wenn man das Leben in Three Pines schon länger verfolgt.

Louise Penny: Bei Sonnenaufgang. Der siebte Fall für Gamache. Zürich, Kampa, 2021, 480 Seiten.
ISBN: 978-3-311-12028-5


Genre: Roman

Lil Bob

Als Kind einer drogensüchtigen Mutter und eines Vaters mit Alkoholproblem wird die kleine Lily Bobinski zunächst überwiegend von ihrer Großmutter aufgezogen. Nach deren plötzlichen Tod ist der Vater mehr denn je überfordert, und so kommt Lily als Vierjährige aus England nach Hamburg zu ihrem Onkel Paul, dessen Lebensgefährte Ian ihr bald eine ganz neue Welt eröffnet: die der Musik. Nicht nur musikalisch hochbegabt, meistert sie den Cellounterricht ebenso mühelos wie die Schule. Der Umgang mit Menschen fällt ihr dagegen nicht nur aufgrund ihrer Gesichtsblindheit ein gutes Stück schwerer. Doch als ihre Karriere als Cellistin sie schon in jungen Jahren nach England zurückführt, begegnet sie dort zwei Personen, die für ihr weiteres Leben prägend werden sollen: der mit ihrem traurigen Schicksal ringenden Komponistin Fanny, die ihr zur Mentorin wird, und der brillanten jungen Pianistin Theda …

Der Roman Lil Bob lebt vor allem von seiner Ich-Erzählerin Lily, deren Stimme sich Stück für Stück ihrem steigenden Alter vom Kind bis zur jungen Frau anpasst. Gerade die Anfangskapitel sind stark von noch kindlichen Formulierungen und naiv-klugen Überlegungen über Gott und die Welt geprägt, obwohl sich manchmal Informationen in den Text stehlen, die erst der erwachsenen Lily in der Rückschau bekannt sein können. Dadurch bleibt die imaginierte Erzählsituation, in der Lily ihre Erlebnisse schildert, etwas diffus, aber da das für aus der Ich-Perspektive geschriebene Bücher nicht untypisch ist, stört das nicht weiter.

Während dieser Kinderblick zunächst noch die harten Themen, die angeschnitten werden, auflockert und mildert, wird das Buch Schritt für Schritt zu einer immer ernsteren Auseinandersetzung mit Leben und Tod. Im Hintergrund stets präsent ist die Geschichte einer vom Holocaust brutal auseinandergerissenen Familie, ein Trauma, das sich nicht nur auf die unmittelbar davon betroffenen Generationen auswirkt. Doch auch Alltagssexismus, latente bis offene Homophobie, die unschönen Seiten des Musik- und Kulturbetriebs und das unentrinnbare Gefühl, lebenslang eine Außenseiterrolle einzunehmen und unverstanden zu bleiben, werden nuanciert dargestellt. Bisweilen wird sogar gemordet, teilweise nur in Gedanken, in einem Fall aber auch sehr handfest.

Genug Stoff also für einen sehr deprimierenden Roman, würde man meinen – und sich in diesem Fall doch irren, denn es gelingt Ruth Frobeen, einen leichten und oft sogar heiteren Erzähltonfall beizubehalten und dabei unerwartete und einprägsame sprachliche Bilder zu zaubern, ganz gleich, ob nun metaphorische Samthandschuhe Löcher bekommen oder eine sonst runde Seele unter Belastung eckige Formen annimmt. Dabei mischt sich in das Entsetzliche auch viel Schönes, so etwa ein Blick für Pflanzen (die Lily aus gutem Grund schon früh alle beim Namen kennt), die Trostwirkung von Katzen und Kuscheltieren und allen voran immer wieder die Musik, die hier nicht nur in ihrer ideellen, sondern auch in ihrer sinnlich-körperlichen Dimension fassbar wird, von ihren Vibrationen über die Haptik von Cellobogen und Feinstimmer bis hin zur Hornhaut an Musikerfingern. Wer selbst gern musiziert oder auch nur musikinteressiert ist, findet viele Szenen zum Eintauchen und Mitempfinden. Hamburg und Cornwall als gegensätzliche, aber jeweils mit viel Begeisterung eingefangene Kulissen tun ein Übriges, die Geschichte lebendig wirken zu lassen.

So ist Lil Bob vieles auf einmal, Entwicklungsroman, Reflexion über die deutsche Vergangenheit und Loblied auf die Musik und ihre Fähigkeit, Kraft zu spenden und Überlebenshilfe zu sein. Es lohnt sich also, sich für ein paar Lesestunden auf Lily und ihre ganz besondere Sicht auf die Welt einzulassen.

Ruth Frobeen: Lil Bob. Hamburg, Selbstverlag, 2021, e-Book.
ISBN: 978-3-9819400-5-3


Genre: Roman

Die Stadt der Symbionten

Nach der Verwüstung der Erde durch Außerirdische kann der letzte Rest der Menschheit nur noch in der unter einer Kuppel am Südpol gelegenen Stadt Jaskandris überleben. Dank der perfekten Steuerung der Stadt durch künstliche Intelligenz ist das auch mit einigem Komfort möglich: Der menschliche Alterungsprozess wird ab einem gewissen Punkt gestoppt, Wärme und synthetisch erzeugte Nahrung sind reichlich vorhanden. Allerdings funktioniert das System nur, solange die Bevölkerungszahl konstant bleibt. Wann immer ein neues Kind geboren wird, muss sich zum Ausgleich ein anderes Familienmitglied in einen Schlaf in den unter der Stadt gelegenen Eiskammern begeben, der durchaus Jahrzehnte andauern kann.

Aus solch einem Schlaf ist Gamil kürzlich wieder geweckt worden. Als sogenannter Symbiont, der dank besonders feiner Sinne und in seinen Körper eingesetzter technischer Bauteile gedanklich mit den Computersystemen der Stadt kommunizieren kann, könnte er eigentlich eine glänzende Zukunft an einer der konkurrierenden wissenschaftlichen Fakultäten haben. Doch seinen Verwandten ist er nicht mehr willkommen, und da sein einstiges Umfeld nicht mehr existiert, fühlt er sich oft genug fremd in der eigenen Heimat. Kein Wunder also, dass er zum besonders genauen Beobachter wird und in all den Datensätzen, die ihn umschwirren, irgendwann ein sonderbares Flüstern aufschnappt, dem er neugierig folgt, ohne zu ahnen, dass er sich damit in höchste Gefahr begibt. Denn in Jaskandris ist nicht alles, wie es scheint, und als Gamil sich bereiterklärt, einer Person zu helfen, die eine unglaubliche Entdeckung gemacht hat, ist ihm bald nicht nur die Polizei auf den Fersen, sondern auch seine Rivalin Yaldira, die wild entschlossen ist, Gamil selbst zur Strecke zu bringen …

Ein Geständnis gleich zu Beginn meiner Einschätzung dieses spannenden Romans: Eine große Science-Fiction-Leserin bin ich eigentlich nicht und fühle mich in der Regel in historisch inspirierten Welten wesentlich sattelfester als in futuristischen. Für einen Lieblingsautor wie James A. Sullivan mache ich aber durchaus einmal eine Ausnahme, und das zu tun, hat sich in diesem Fall gelohnt.

Es ist eine beklemmende, ja geradezu klaustrophobische Kulisse, die Sullivan entwirft: Die ganze bekannte Welt beschränkt sich für sein Figurenensemble auf eine einzige Stadt in einer ansonsten lebensfeindlichen Gegend. Wer aber nun glaubt, dass die Situation schon am Anfang unerfreulich genug aussieht, darf sich auf eine Enthüllung nach der anderen gefasst machen, die alles nach und nach in immer verstörenderem Licht erscheinen lässt. Sogar ganz zum Schluss, als nach einem aufregenden Showdown schon alles geklärt scheint, folgt in Sachen Weltenbau eine letzte überraschende Wendung, die die bisher gewonnenen Erkenntnisse noch einmal gehörig auf den Kopf stellt. Auch wenn die Handlung zu einem stimmigen Abschluss gebracht wird, hat man nicht zuletzt auch deshalb das Gefühl, dass die eigentliche Geschichte am Ende des Romans gerade erst beginnen könnte.

Bis dahin folgt man Gamil und seinen Verbündeten durch einen wahren Thriller, in dem an Verfolgungsjagden, Blutvergießen, List und Gegenlist kein Mangel herrscht, aber auch mit Genrekonventionen gespielt wird, um altbekannte Formeln auszuhebeln (z.B. wenn zwei Figuren, die in jedem anderen Roman vermutlich schnell ein Liebespaar werden würden, stattdessen darüber diskutieren, aus welchen Gründen ebendiese Entwicklung ausbleibt). Hinzu kommt noch ein packendes Polarabenteuer, denn der Verlauf der Geschehnisse führt dazu, dass Yaldira sich ab einem bestimmten Zeitpunkt außerhalb der Stadt wiederfindet, und dort im ewigen Eis ist mehr zu entdecken, als man zunächst zu hoffen gewagt hätte. Dieser Handlungsstrang, der Elemente einer Questengeschichte aufweist, hätte gern noch etwas ausgebaut werden können.

Zentral für den Roman ist immer wieder die Frage nach Selbst- und Fremdbestimmung und nach der Bereitschaft, aus egoistischen Gründen ungute Verhältnisse mitzutragen (oder aber eben zum eigenen Nachteil dagegen aufzubegehren). Vordergründig mag es dabei auch um die Tücken einer immer stärkeren technischen Vernetzung gehen, die einerseits die eigenen Handlungsoptionen erhöht, einen andererseits aber auch angreifbar macht. Doch die zugrundeliegenden Mechanismen sind auch abseits des Computerzeitalters durchaus denkbar. Sullivan erweist sich als kundiger Beobachter menschlicher Schwächen und Stärken, der trotz seines realistischen Blicks auf die Hierarchien, brüchigen Loyalitäten, Eifersüchteleien und offenen Konflikte, die das Zusammenleben nicht nur in seinem Roman prägen, in seiner Grundtendenz dennoch hoffnungsvoll bleibt. Wer Lust auf einen Ausflug in postapokalyptische Zeiten hat, an deren Beispiel manches geschildert wird, was sich auch auf unsere Gegenwart übertragen lässt, sollte der Stadt der Symbionten also einen Besuch abstatten.

James A. Sullivan: Die Stadt der Symbionten. München, Piper, 2019, 720 Seiten.
ISBN: 978-3-492-70419-9


Genre: Roman

Die kleine Kanzlei entdeckt Neues

Für die Münchner Anwältinnen Kerstin und Helen bahnen sich Veränderungen an: Helens Nichte, die seit einer Weile bei ihr lebt, bekommt ein Baby, und Helen entdeckt auf einmal ganz neue Seiten an sich. Kerstin muss unterdessen feststellen, dass ihr Mann schon seit Jahren ein Geheimnis vor ihr hat, das ihre Ehe zerstören könnte. Die Sekretärin der beiden sieht sich damit konfrontiert, dass ihr längst erwachsener Sohn eigenmächtig seinen Wiedereinzug in die elterliche Wohnung plant. Als wäre das alles noch nicht genug, beschränkt sich das Interesse mancher Mandanten an den Damen der kleinen Kanzlei nicht bloß auf den reinen Rechtsbeistand. Es beginnen also turbulente Zeiten …

Das Hauptproblem dieses im Grunde sympathischen Romans lässt sich nicht verschweigen, so gern man es angesichts der spürbaren Begeisterung der Autorin für ihre Figuren und deren Abenteuer unter den Teppich kehren würde: Das Lektorat hat in der mir vorliegenden Erstausgabe des Buchs eine Reihe von Flüchtigkeits- und Kontinuitätsfehlern übersehen. Laut Elly Sellers ist mittlerweile (Stand: 13.01.2021) allerdings schon eine Neuauflage in Arbeit, in der diese Kinderkrankheiten behoben sein sollen.

Sieht man von diesem Wermutstropfen ab, bietet Die kleine Kanzlei entdeckt Neues die schon aus dem ersten Band gewohnte leichte Unterhaltung, die sich flott und locker wegliest. Eine Hauptrolle spielt neben den Heldinnen auch wieder München an sich, die Heimatstadt nicht nur der Romanfiguren, sondern auch der Autorin. Insbesondere der Englische Garten ist diesmal mehrfach Handlungsort, an dem Spaziergänge zu unverhofften Begegnungen oder zur Vertiefung von Bekanntschaften führen. Auch auf das Schwelgen in kulinarischen Genüssen aller Art muss in diesem Band nicht verzichtet werden: Oft wird Verlockendes eingekauft, gekocht oder im Restaurant verzehrt. Alles in allem erhält man den Eindruck, dass es sich als Anwältin in Bayern nicht allzu schlecht lebt.

Die aus Elly Sellers‘ Debütroman bekannten zwischenmenschlichen Beziehungen werden dagegen kräftig durchgerüttelt. Dabei entwickelt sich die Charakterisierung der einzelnen Figuren ein gutes Stück weiter. Während die unangepasste Helen, die bisher ihre Ungebundenheit in vollen Zügen genossen hat, doch noch ein Bedürfnis nach mehr Beständigkeit und familiärer Nähe zu empfinden beginnt, sieht Kerstin ihre heile Welt ins Wanken geraten und bringt nach einigem Zaudern endlich den Mut auf, auch einmal an sich zu denken und eigene Wege zu gehen. Mehr Raum auf der Bühne bekommt außerdem Helens Nichte Sarah, die sich zwar rasch in ihre neue Mutterrolle einfindet, aber eine nicht unproblematische Entscheidung trifft, was ihre Partnerwahl angeht, und so für reichlich Konfliktpotential sorgt.

Das alles ist wieder mit Humor und einigen unerwarteten Wendungen geschildert, so dass Die kleine Kanzlei entdeckt Neues insgesamt eine nette und vergnügliche Lektüre bildet, um für ein paar Stunden dem Alltag zu entfliehen. Anknüpfungspunkte für eine mögliche Fortsetzung der Romanserie sind auch hier wieder vorhanden, und wenn Elly Sellers sich inhaltlich treu bleibt und noch etwas an der handwerklichen Seite des Schreibens feilt, könnte sich ein Blick in einen etwaigen nächsten Band durchaus lohnen.

Elly Sellers: Die kleine Kanzlei entdeckt Neues. Norderstedt, Books on Demand, 2020, 310 Seiten.
ISBN: 978-3752689464

Ergänzung (13.03.2021): Die Neuauflage von Die kleine Kanzlei entdeckt Neues ist laut Elly Sellers inzwischen erschienen.


Genre: Roman

Return of the Thief

Stumm und gehbehindert wächst der Junge Pheris als ungeliebtes Kind einer Adelsfamilie im Königreich Attolia auf. Doch als König Eugenides von Pheris‘ Großvater, dem oft in Opposition zur Krone stehenden Baron Erondites, verlangt, seinen Erben am Hof erziehen zu lassen, schickt Erondites nicht seinen designierten Nachfolger Juridius, sondern Pheris dorthin. Alle rechnen damit, dass der vermeintliche Tölpel Pheris sich unbeliebt machen wird und vielleicht sogar aus dem Weg geräumt werden kann. Doch der ehemalige Dieb Eugenides hat nach wie vor ein Auge für besondere Menschen und fördert Pheris nach Kräften. Allerdings kann er nicht verhindern, dass sein Schützling immer tiefer in bedrohliche Hofintrigen gerät, und hat ohnehin andere Sorgen: Das mächtige Mederreich zieht nach zahlreichen diplomatischen Misserfolgen in einen Eroberungskrieg gegen Attolia und seine Nachbarstaaten, und eine Prophezeiung sagt Eugenides Böses voraus …

Mit Return of the Thief schließt Megan Whalen Turner ihre sechsbändige Reihe The Queen’s Thief ab. Erstmals bricht sie dabei mit dem Konzept, dass man die Bände prinzipiell auch unabhängig voneinander lesen kann: Um diesen Roman wirklich zu verstehen, sollte man mindestens Band 3 (The King of Attolia) und Band 5 (Thick as Thieves) gelesen haben, am besten aber wohl die komplette Geschichte. Das Buch, das teilweise zeitlich parallel zu Thick as Thieves spielt, lässt nicht nur manche vorausgegangene Geschehnisse in neuem Licht erscheinen, sondern erwähnt auch nicht jedes bereits angelegte Weltenbaudetail, das für die Handlung wichtig wird, so etwa den Umstand, dass der Gott der Diebe seinem Auserwählten Eugenides zugesichert hat, ihn nie bei einem Sturz ernsthaft zu Schaden kommen zu lassen.

Einige alte Stärken der Serie behält der Abschlussband bei: So tritt mit Pheris ein neuer unzuverlässiger Ich-Erzähler auf den Plan, der schon in seinem Vorwort zugibt, wie ein antiker Geschichtsschreiber vorzugehen und auch schon einmal Dialoge zu erfinden, wenn sie ihm passend erscheinen. Wie viele von Turners Helden ist er ein Außenseiter, der es im Leben nicht einfach hat und am Ende doch seinen Weg macht. Liebgewonnene Charaktere (und verhasste Schurken) aus den vorherigen Bänden treten noch einmal auf. Auch die reizvolle Welt, die das Griechenland des Altertums mit Eigenheiten der Frühen Neuzeit verbindet, ist so fabulierfreudig und gekonnt ausgemalt wie gewohnt. Diesmal liefern die Perserkriege die historische Inspiration für das Grundgerüst der Handlung, auch wenn an den Thermopylen – pardon, am Leonyla-Pass – nicht alles so abläuft wie vielleicht zu erwarten.

Der Grundtonfall des Romans ist jedoch trotz einzelner humorvoller Szenen deutlich ernster und bedrückender als in den bisherigen Teilen, und das nicht nur, weil mit Pheris ein ohnehin schon leidendes Kind immer wieder Misshandlungen und Todesangst ausgesetzt ist. Vielmehr nimmt die düstere Komponente, die bei Turner schon immer im Hintergrund mitgeschwungen hat, hier breiteren Raum als je zuvor ein. Gerade nach dem trotz aller geschilderten Härten sehr amüsanten unmittelbaren Vorgängerband, der im Prinzip ein Loblied auf Abenteuerlust und Freundschaft darstellt, nimmt man den Stimmungsumschwung hier besonders wahr und hat das Gefühl, dass Turner ihre Protagonisten bewusst die ganze Zeit über am Rande der Katastrophe entlangführt und manchmal auch darüber hinausschiebt.

Die Dominanz des Verstörenden beschränkt sich dabei nicht auf Äußerlichkeiten wie die drastisch ausgemalte Sterbeszene einer ambivalenten Gestalt. Vielmehr steht die Frage im Raum, ob Eugenides selbst die Gunst der Götter (die hier, etwa in Form eines Heilwunders, manchmal zu dick aufgetragen wirkt) dadurch zu verspielen droht, dass er nach allen ernüchternden Erfahrungen als Herrscher seiner skrupellosen Seite den Vorrang vor seiner Menschlichkeit einräumt. Doch nicht nur er ist Täter und Opfer zugleich: Auch der Erzähler Pheris ist, so mitleiderregend er auch auf den ersten Blick erscheinen mag, nicht unschuldig, sondern zu Schrecklichem fähig.

So ist es alles in allem ein nachdenklicher und durchaus würdiger Abschluss, den Megan Whalen Turner für The Queen’s Thief findet, andererseits aber auch einer, der einen ganz froh sein lässt, dass die Reihe nun nicht mehr fortgesetzt wird, da ein noch weiterer Abstieg in die Dunkelheit der Geschichte sicher nicht guttäte.

Megan Whalen Turner: Return of the Thief. New York, Greenwillow Books (HarperCollins),464 Seiten.
ISBN: 978-0-06-287447-4

 


Genre: Roman