Foto: © Maike Claußnitzer
Während Süddeutschland im Schnee versinkt, herrscht hier im Norden gleichermaßen mildes wie trübes Novemberwetter im Januar, gelegentlich auch mit Sturm und Regen. Beste Lesebedingungen also, so dass es einmal wieder Zeit wird, sich umzusehen, welche lesenswerten Geschichten online frei zugänglich sind. Auf in die englischsprachige Welt der Fantasy!
Maria Haskins – Hand Me Downs
Frisch in diesem Januar im Onlinemagazin GigaNotoSaurus erschienen ist diese sympathische Geschichte um einen großen Lebenstraum, alltäglichen Rassismus, Familienreibereien und Freundschaft. Tilda, ein Trollmädchen im heutigen Kanada, hofft auf eine große Tanzkarriere. Doch was auf dem Weg dorthin von ihr verlangt wird, konfrontiert sie mit tiefsitzenden Vorurteilen, die selbst Menschen hegen, die es gar nicht böse mit ihr meinen, und lässt sie fast daran verzweifeln, ihre Wünsche, die Forderungen ihrer Tanzlehrerin und die Empfindlichkeiten ihrer eigenen Familie unter einen Hut zu bringen. Als dann auch noch ihre geliebte Großmutter und ihre beste Freundin Irene beginnen, sich seltsam zu verhalten, scheint guter Rat teuer …
Anders als sonst viel zu oft in der Fantasy ist Hand Me Downs keine Erzählung, die mit Blutvergießen und Action oder einer großen Weltenrettung zu punkten versucht. Stattdessen werden hier ganz realistische Themen wie Einwandererschicksale, der Umgang mit Behinderung und das Verfolgen persönlicher Ziele um eine phantastische Komponente bereichert. Obwohl Haskins den Trollen durchaus die Unheimlichkeit lässt, die sie auch in ihren mittelalterlichen Ursprungssagen besitzen, gewinnen sie hier ein sehr menschliches und herzerwärmendes Gesicht. Nur für Fans von Griegs Peer-Gynt-Suite könnte die Lektüre sich eher traurig gestalten …
Judith Tarr – Dragon Winter
Aus derselben Zeitschrift stammt auch diese Geschichte, die sich gar nicht stärker von der ersten Leseempfehlung unterscheiden könnte: Hier sind zahlreiche klassischen Fantasymotive von der scheinbar unüberwindlichen Bedrohung über furchterregende Ungeheuer bis hin zur unwahrscheinlichen Retterin der Gemeinschaft vereint, aber originell interpretiert. In einer mythischen, altgriechisch inspirierten Welt lebt Charis in einer Siedlung, die sich alljährlich gegen die Angriffe kriegerischer Nomaden verteidigen muss. Es gibt durchaus ein bewährtes, wenn auch riskantets Abwehrmittel, doch wie lange es noch vorhalten wird, ist fraglich. Ausgerechnet Charis‘ Mann Deion versucht sich daher unerlaubt an einem Experiment und wird in die Verbannung geschickt. Unterdessen rückt die Gefahr unaufhaltsam näher …
Neben den Figuren, deren Beziehungen feinfühlig ausgelotet werden, überzeugt hier vor allem die liebevolle Ausgestaltung der Welt. Mit dem Aussäen von Drachenzähnen greift Tarr ein spannendes Element der Argonautensage auf, und ihre Darstellung der Konflikte zwischen Sesshaften und Nomaden beweist, dass sie sich nicht nur mit der Mythologie, sondern auch mit der tatsächlich Vor- und Frühgeschichte des eurasischen Raums gut auskennt. Besonders gelungen ist daneben die Schilderung der Echsen, die, wie schon der Titel verrät, eine prominente Rolle spielen. Solch saurierhafte Drachen findet man selten.
Sharon J. Gochenour – About a Goat
Nicht in eine phantantastisch abgewandelte Vergangenheit, sondern in eine düstere, aber mit viel schwarzem Humor betrachtete Zukunft entführt dagegen diese kurze Geschichte, in der es ebenso brutal wie konsequent zugeht. Khazar, der Leiter eines Flüchtlingslagers, findet auf recht unersprießliche Art heraus, dass es seine Tücken hat, sich mit einer Ziege anzulegen – ob nun ganz handfest auf physischer Ebene oder telepathisch …
Trotz der Kürze des Texts wird hier ein übersprudelnder Weltenbau geboten und gelungen aus der Sicht einer nichtmenschlichen Hauptfigur bis hin zur ebenso boshaften wie komischen Schlusspointe erzählt.
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