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Hausboottage

Eve hat gerade ihre prestigeträchtige Stelle in einem Technikunternehmen, die bisher ihr Lebensinhalt war, verloren. Sally hat sich nach langer Ehe und reichlich stiller Unzufriedenheit entschlossen, ihren wenig verständnisvollen Mann zu verlassen. Die beiden Frauen begegnen sich auf einem Treidelpfad am Kanalufer und werden auf einen auf einem Hausboot jämmerlich heulenden Hund aufmerksam. Der ziemlich handfeste Befreiungsversuch, den Eve und Sally unternehmen, endet nicht nur mit einem vorerst verschwundenen Hund, sondern auch damit, dass sie mit seiner exzentrischen Besitzerin Bekanntschaft schließen, der alten Anastasia, die auf dem Hausboot lebt, nun aber aufgrund einer Krebsdiagnose in einer unschönen Lage ist: Ihr Boot zu der Werft fahren, auf der es dringend überholt werden muss, und den unbedingt notwendigen Krankenhausaufenthalt antreten, kann sie nicht gleichzeitig. Spontan beschließen Eve und Sally, die Überführung des Boots zu übernehmen, und so sind sie bald darauf tatsächlich auf dem Wasser unterwegs. Dabei gewinnen sie nicht nur in praktischer Hinsicht Kenntnisse hinzu (von Schleusenbewältigung bis Klappstuhlrettung), sondern lernen auch Englands Kanalsystem, einander und sich selbst immer besser kennen. Doch wie soll es weitergehen, wenn die kleine Flucht aus dem Alltag irgendwann unweigerlich ihr Ende findet?

Wie schon in ihrem wunderbaren Debüt Das Versprechen, dich zu finden schildert Anne Youngson in Hausboottage den in nicht mehr ganz jugendlichem Alter gewagten Ausbruch zweier Figuren aus eingefahrenen Bahnen und reichert die Gegenwartshandlung mit einer Auseinandersetzung ihrer Charaktere mit Historischem an. Denn neben Eves und Sallys (und im Laufe des Buchs immer stärker, wenn auch zunächst nur im Hintergrund, Anastasias) jeweiliger Geschichte spielt auch immer wieder die Vergangenheit der Kanäle eine Rolle, die einst ein wichtiger Wirtschaftsfaktor und Arbeitsplatz für viele Menschen waren, jetzt aber nach dem überwiegenden Niedergang der kommerziellen Binnenschifffahrt eher das Revier von Freizeitskippern, Aussteigern, Kriminellen und schrägen Gestalten sind.

So manchen von ihnen begegnen Eve und Sally auf ihrer Fahrt, denn sie bleiben nicht die ganze Zeit über allein, sondern haben gelegentlich Gäste an Bord (so etwa den rätselhaften Arthur, der Anastasia näher zu kennen scheint, als beide zunächst zugeben möchten) oder finden neue Bekannte wie das junge Pärchen Trompette und Billy, das auf seinem Boot ein unbeschwertes Künstlerdasein zu führen scheint, hinter dem sich aber durchaus auch Unschönes verbirgt.

Überhaupt begeht Youngson nicht den Fehler, das Aussteigerleben auf dem Wasser als eskapistische Phantasie zu romantisieren, sondern macht immer wieder deutlich, dass ein Wechsel vom Land aufs Hausboot einem nicht nur Sorglosigkeit beschert, sondern mit zahlreichen Problemen behaftet ist, seien es nun so banale, wie das Boot permanent fahrtüchtig und auch sonst in Schuss zu halten, oder gravierendere wie Ärger aller Art mit den Behörden. Manches kann dem fröhlichen Herumvagabundieren sogar im Handumdrehen ganz ein Ende setzen oder es sehr einschränken, sei es nun eine schwere Krankheit wie die, mit der Anastasia sich herumschlägt, oder schlicht das eigene Verantwortungsbewusstsein, das in Arthurs Fall nachvollziehbarerweise verhindert, dass er auf die Art, die er sich vielleicht erträumt haben mag, sein Glück findet.

Trotz dieser ernsten Aspekte sind die Hausboottage ein durchaus hoffnungsvoller, dabei auf ruhige Art sehr unterhaltsamer und phasenweise sogar urkomischer Roman (nicht ohne Grund evoziert wohl der englische Originaltitel, Three Women and a Boat, Jerome K. Jeromes berühmte Three Men in a Boat). Die schöne Übersetzung von Edith Beleites lässt einen dabei immer wieder vergessen, dass man das Buch nicht in seiner Originalsprache liest. Nicht nur als Sommerlektüre ist Anne Youngsons zweiter Roman also wärmstens zu empfehlen und ein großes Lesevergnügen.

Anne Youngson: Hausboottage. Hamburg, HarperCollins, 2022, 352 Seiten.
ISBN: 978-3-7499-0355-9


Genre: Roman

Die Reise nach Paris

Eigentlich ist Armand Gamache, Leiter der Mordkommission von Québec, mit seiner Frau Reine-Marie rein privat in Paris: Seine Tochter Annie, die mit Schwiegersohn Jean-Guy Beauvoir kürzlich nach Frankreich gezogen ist, erwartet demnächst ihr zweites Kind, und auch sein Sohn Daniel und dessen Familie leben in der Stadt. Doch das Idyll des familiären Beisammenseins wird jäh getrübt, als Gamaches schwerreicher Patenonkel Stephen Horowitz, der sich ebenfalls gerade in Paris aufhält, nach einem gemeinsamen Essen im Restaurant angefahren wird und lebensgefährlich verletzt im Krankenhaus landet. Was auf den ersten Blick nach einem Unfall mit Fahrerflucht aussehen könnte, war, wie Gamache vermutet, Absicht, und da Stephen ihm gegenüber vage Andeutungen über kriminelle Machenschaften gemacht hat, denen er auf der Spur war, gilt es, schnell herauszufinden, wer ihm nach dem Leben trachtet. Der Pariser Polizeichef Claude Dussault, ein alter Bekannter von Gamache, könnte dabei der ideale Verbündete sein. Doch spätestens, als in Stephens Wohnung die Leiche eines Fremden gefunden wird, muss Gamache sich der unbequemen Wahrheit stellen, dass Dussault nicht mit offenen Karten spielt – ganz zu schweigen davon, dass auch sein eigener Sohn Daniel anscheinend etwas zu verbergen hat …

Die Reise nach Paris ist der 16. Band von Louise Pennys erfolgreicher Krimireihe um Armand Gamache und vereint die problematischsten Züge der Geschichten um den integren Polizisten, der mit allen Mitteln für das Gute kämpft, leider nur mit einigen der besten. Liebevoll beschriebene Handlungsorte, zahlreiche Anspielungen auf Literatur, Kunst und Kultur, differenziert gezeichnete Figuren und ein spannender, wendungsreicher Plot sind hier wie immer vorhanden, aber – und das ist ein gewichtiger Nachteil – Gamache muss wieder einmal nicht nur einen Mord und einen Mordversuch aufklären, sondern gleich die Welt retten (in diesem Fall sogar fast wortwörtlich), und das actionreiche Finale, das natürlich nicht ohne Lebensgefahr für Gamache und einige seiner Lieben auskommt, ist überzogener denn je.

Die Kulisse aus Vorstandsetagen, Luxushotels, Nobelkaufhäusern und edlen Restaurants, in der sich Gamache auf seiner Reise nach Paris bewegt, macht leider auch wesentlich weniger Spaß als das sonst im Zentrum stehende Three Pines mit seinem Dorfbistro und seinen exzentrischen, aber doch größtenteils bodenständigen und liebenswerten Charakteren, die hier nur ganz gegen Ende noch einen kleinen Auftritt haben. Zwar wird endlich der in den vorherigen Bänden schon immer angedeutete Vater-Sohn-Konflikt zwischen Armand und Daniel näher erläutert, aber die gewählte Auflösung ist dann eben auch eine überdramatische, die recht gut zeigt, woran die Reihe inzwischen krankt: Nachdem Penny schon früher einige Male Tragweite des jeweiligen Falls und persönliches Risiko für ihre Hauptfiguren sehr hoch angesetzt hat, glaubt sie mittlerweile offensichtlich, sich diesbezüglich immer wieder übertreffen zu müssen. So berechtigt die zugrundeliegende Kritik am oft auch in der realen Welt skrupellosen Verhalten von Machtmenschen in Entscheidungspositionen in Unternehmen oder Behörden auch sein mag, es hätte der Handlung vielleicht gut getan, das Thema in etwas kleinerem Maßstab auszuloten, als es hier geschieht.

Ohne Unterhaltungswert ist Die Reise nach Paris dennoch nicht, und für ein deutsches Publikum ist es wahrscheinlich wesentlich komischer als für ein englischsprachiges, dass ein geheimnisvoller Duft, der den entscheidenden Hinweis auf die Identität eines Verdächtigen gibt, sich ausgerechnet als 4711 entpuppt. Insgesamt aber hält man vor allem deshalb bis zum Ende des Bandes durch, weil man die Figuren im bisherigen Verlauf der Reihe liebgewonnen hat und ihre Geschichte darum auch dann weiterverfolgt, wenn der Plot viel zu sehr auf Superheldenformat angelegt ist.

Louise Penny: Die Reise nach Paris. Der 16. Fall für Gamache. Zürich, Kampa, 2023, 558 Seiten.
ISBN: 978-3-311-12050-6


Genre: Roman

Das Café

Materiell wohlversorgt, aber von Eltern und Bruder vernachlässigt, führt die junge Fred Kaltental ein aufgrund ihrer chronischen Krankheit als Bluterin zahlreichen Einschränkungen unterworfenes Leben im Herrenhaus ihrer Familie. Abwechslung bieten ihr nur die heimlichen Ausflüge ins nahe Dorf, die sie sich von Zeit zu Zeit gönnt. Eines dieser kleinen Abenteuer nimmt ungeahnte Ausmaße an, als sie auf der Flucht vor angriffslustigen Hunden in ein von dem undurchsichtigen Pépin geführtes Café gerät, das sie nicht ohne Weiteres wieder verlassen kann, da es in der Anderswelt liegt – oder vielmehr nicht so ganz, hat doch ein versuchtes Attentat auf ein tyrannisches Königspaar dort so einiges aus dem Lot gebracht. Während Fred sich in ihrer neuen Umgebung einlebt, die neben allen Bedrohungen durch Pépin, seinen insektenhaften Schergen Mathéo und den mordlüsternen Zirkusdirektor Barbossa auch ein paar ungeahnte Vorteile bietet, erkennt sie nach und nach, dass nur sie das Café vor dem sicheren Untergang bewahren kann. Dazu allerdings braucht sie Verbündete, die in dem mit einem sonderbaren Eigenleben ausgestatteten Gebäude nicht allzu leicht zu finden sind, und was es mit ihr selbst auf sich hat, erkennt sie erst, als es schon fast zu spät ist …

Eileen Kohnles Jugendroman Das Café bietet in einem flotten, oft etwas umgangssprachlichen Stil eine unterhaltsame Mischung aus Portalfantasy, Grusel, Humor und recht spät im Text auch angedeuteter Liebesgeschichte, aber auf ganz eigene Art geschildert. Die Kapitel um Freds Abenteuer wechseln immer wieder mit in der Anderswelt angesiedelte Passagen ab, die zunächst ganz unverbunden erscheinen und ihren Sinn für die Haupthandlung erst Stück für Stück erkennen lassen (wobei bis zum Schluss nicht alle Rätsel gelöst werden, sondern hier und da Leerstellen bleiben, um eigene Erklärungen hinzuzudichten). Eine geheimnisvolle Erzählerinstanz mit sehr speziellem Hintergrund, die sich oft direkt ans Publikum wendet und dabei durchaus auch einmal die Genrekonventionen ein bisschen ironisiert, ist dabei nicht das einzige spielerische Element: Von Alice im Wunderland bis hin zum Zauberer von Oz werden immer wieder klassische Werke der phantastischen Jugendliteratur, aber auch manche Details aus Popkultur und Aberglauben evoziert.

Wie auch in ihren Taleswood Inn Chroniken ist Eileen Kohnles Begeisterung für ihre Figuren und für ihre fabulierfreudig ausgestaltete Welt, die mit sprechenden Türen, einem sehr wandelbaren Haus, gefährlichem Nebel, seltsam katzenhaften Nachthunden, bedrohlichen Uhrwerkwesen und vergossenem Tee, der zu Schlimmerem als einer bloßen Verbrühung führen kann, aufwartet, deutlich spürbar. Gerade weil man der Geschichte anmerkt, mit wie viel Herzblut sie geschrieben ist, macht es Vergnügen, der Wandlung, die Fred nicht nur innerlich durchmacht, zu folgen und sich von allerlei unerwarteten Wendungen überraschen zu lassen. Wer sich für ein paar spannende Lesestunden wortwörtlich in eine Welt zurückziehen möchte, kann dem Café also unbedenklich einen Besuch abstatten.

Eileen Kohnle: Das Café, o. O. 2020, 468 Seiten (E-Book – PDF).
Ohne ISBN, erhältlich über Etsy.

 


Genre: Roman

Bretonischer Ruhm

Kommissar Georges Dupin und die Ärztin Claire Lannoy haben endlich geheiratet und sind im Gebiet der Loiremündung, das zwar längst nicht mehr verwaltungsmäßig, aber doch historisch und kulturell zur Bretagne zählt, auf Hochzeitsreise. Doch aus dem Plan, entspannt von Weingut zu Weingut zu fahren, wird nichts, da schon zu Beginn der Flitterwochen der Winzer Brian, der zugleich auch der immer noch freundschaftlich verbundene Ex-Mann von Claires bester Freundin Cécile ist, beim Joggen erschossen wird. Die zuständige Polizei aus Nantes glaubt zunächst an eine unglückliche Zufallsbegegnung mit einem gewaltbereiten Wilderer, aber Claire ist sich da alles andere als sicher und drängt ihren Mann, selbst zu ermitteln, obwohl er dazu eigentlich gar nicht befugt ist. Dass unterdessen die Hiobsbotschaft eintrifft, dass ein eifriger Grünspecht es auf die Holzverkleidung des Hauses des frischgebackenen Ehepaars abgesehen hat, trübt die Ferienstimmung zusätzlich. Aber dann geschieht ein zweiter Mord, und Dupin muss, unterstützt von Claire und Cécile, tätig werden, um dem von Weinkultur und komplizierten zwischenmenschlichen Beziehungen geprägten Fall auf den Grund zu gehen.

Bretonischer Ruhm, der zwölfte Band von Jean-Luc Bannalecs Reihe um Kommissar Dupin, bewegt sich in gewohnten Bahnen: Wie immer wird eine regionale Besonderheit – hier eben der Weinbau im äußersten Südosten der Bretagne – zum Hintergrund eines Mordfalls, den Dupin mithilfe von reichlich Kaffee und Vertrauten aus seinem Umfeld, die ihren eigenen Kopf haben, aufklären muss. Am vergnüglichsten liest sich dabei in diesem Fall der Nebenhandlungsstrang um den hartnäckigen Specht, den Dupins Untergebene von der Polizei in seiner Abwesenheit mit allen Mitteln zu bekämpfen versuchen. Der eigentliche Krimi (mit obligatorischer Lebensgefahr für den Kommissar gegen Ende und so viel Weingenuss nebenbei, dass man beeindruckt ist, dass Dupin es schafft, nüchtern genug zu bleiben, um den Fall zu lösen) ist solide, krankt aber ein wenig daran, dass Dupin und die beiden Frauen in Privatdetektivmanier auch noch zu einem Zeitpunkt, als die Lage eigentlich zu kritisch dafür wird, die Zusammenarbeit mit der lokalen Polizei vermeiden und dadurch vermeidbare Risiken eingehen. So kann natürlich alles einen schön dramatischen Verlauf nehmen, keine Frage – aber nötig gehabt hätte die Geschichte diese ein bisschen zu gewollte Spannungsmaximierung eigentlich nicht, um unterhaltsam zu sein.

Wünschenswert wäre es dagegen gewesen, ein paar Ungereimtheiten am Rande auszuräumen. So heißt es z. B. im Text, dass das Weingut Château Joly am Westufer des Lac de Grand-Lieu liegt (S. 195), auf der Karte in der vorderen Umschlagklappe ist es aber am Ostufer eingezeichnet. Auch fällt auf, dass Dupin seiner Mitarbeiterin Nolwenn am Telefon zweimal vom Fund einer besonderen Weinflasche im Besitz des ersten Mordopfers erzählt (S. 215 und 227), Nolwenn aber beim zweiten Mal noch überrascht reagiert, als wäre die Information ihr völlig neu. Zudem bleibt die Frage, warum in einer örtlichen Legende im Jahre 555 noch der heilige Martin als Bischof von Tours amtiert (S. 83), ungeklärt – aber was so ein echter Heiliger ist, lässt sich von einer Kleinigkeit wie dem eigenen Tod vielleicht nicht davon abhalten, weiter sein Amt auszuüben.

Ungeachtet dieser kleinen Schönheitsfehler macht Bretonischer Ruhm natürlich trotzdem Spaß, weil man einfach immer wieder gern in Bannalecs lebens- und liebenswerte Bretagne zurückkehrt und die neuesten Abenteuer der sympathischen Truppe um Dupin verfolgt. Das Gesamtkonzept stimmt nach wie vor, so dass man kleine Schwächen des einzelnen Bandes verzeiht und auch zu einer Fortsetzung noch neugierig greifen dürfte.

Jean-Luc Bannalec: Bretonischer Ruhm. Kommissar Dupins zwölfter Fall. Köln, Kiepenheuer & Witsch, 2023, 340 Seiten.
ISBN: 978-3-462-05404-0


Genre: Roman

A River Enchanted

Lange Jahre ist der Barde Jack nicht mehr auf seiner Heimatinsel Cadence gewesen, die seit Generationen in von den beiden unversöhnlich verfeindeten Clans der Breccans im Westen und der Tamerlaines im Osten beherrschte Hälften geteilt ist. Dann aber ruft Jacks alte Kindheitsrivalin Adaira, die Erbin des Lairds, ihn durch eine List zurück, weil sie seine Hilfe benötigt: Aus dem Osten der Insel verschwinden immer wieder kleine Mädchen. Adaira vermutet, dass die zu Schabernack neigenden örtlichen Elementargeister dahinterstecken könnten, und nur ein Barde kann sie durch seine Musik beschwören. Ein einfaches Unterfangen ist das nicht, aber bald nicht mehr das einzige Problem, vor dem Jack steht: Damit, dass seine kränkelnde Mutter in seiner Abwesenheit ein zweites Kind seines ihm unbekannten Vaters zur Welt gebracht hat, über den sie sich weiterhin beharrlich ausschweigt, weiß er zunächst ebenso wenig umzugehen wie mit seinen erwachenden Gefühlen für Adaira. Als dann auch noch sein alter Freund, Adairas Cousin Torin, und dessen Frau Sidra seltsame Erlebnisse teilweise übernatürlicher Natur zu haben beginnen und Adaira den riskanten Plan fasst, gegen den Willen des Clans ein Friedensabkommen mit den verfeindeten Breccans zu schließen, droht die Lage vollends zu entgleisen …

A River Enchanted von Rebecca Ross ist der erste Band eines in einer keltisch-schottisch inspirierten Fantasywelt angesiedelten Zweiteilers, dessen große Stärke die poetischen Schilderungen der Landschaft und der übernatürlichen Elemente sind, die genaue Kenntnis typischer Feen- und Elfenmärchen verraten. Zwischen Torffeuern, Heilkräutern und Whisky fügen sich die magischen Bestandteile der Geschichte wie mit Zaubern durchwobene Plaids, ein als Lügendetektor dienender Dolch, die allgegenwärtigen Elementargeister und eben auch der titelgebende Fluss, der die beiden ansonsten strikt getrennten Inselhälften verbindet, nahtlos und authentisch anmutend ein.

Das erzeugt ein Lesegefühl, das stark an klassische Fantasy irgendwo zwischen Tolkien, Dunsany und einer frühen McKillip erinnert, und auch abgesehen von Erzählduktus und Weltenbau drängt sich der Eindruck auf, dass die offenbar sehr religiöse Autorin (die ihr Nachwort – man fühlt sich an Johann Sebastian Bach erinnert – mit der Wendung Soli Deo Gloria abschließt und explizit ihrem „Heavenly Father“ dankt) Traditionelleres bevorzugt als die oft unverkennbar progressiv eingestellten führenden heutigen Stimmen im Genre. So sorgt sie z. B. durch eine konstruierte Wendung dafür, dass Jack und Adaira erst ordnungsgemäß verheiratet sind, bevor es zu einer Liebesnacht zwischen den beiden kommt.

Mag man zu solchen Details stehen, wie man will – die Art, wie Ross ihre Geschichte erzählt, ist trotzdem gelungen, verrät sie doch viel Gespür für die Schilderung differenzierter, glaubwürdiger Charaktere, die neben allen äußeren Schwierigkeiten auch psychische Ausnahmezustände zu bewältigen haben, und durchaus nicht unkomplizierter zwischenmenschlicher Beziehungen. Die wechselnden Perspektiven – neben Jack, Adaira, Torin und Sidra kommt hier auch Jacks kleine Schwester Frae zum Zuge – sind eingängig und überzeugend ausgestaltet, so dass das Buch sich flüssig und unterhaltsam liest. In sich abgeschlossen ist es allerdings nur zum Teil: Man erfährt zwar, was aus den verschwundenen Mädchen geworden ist, und einige Rätsel, wie das um Jacks mysteriösen Vater, werden gelöst, aber andere bleiben offen, und die Liebesgeschichte zwischen Jack und Adaira wird durch einen ganz klassischen Cliffhanger unterbrochen, der zur Lektüre des Folgebands A Fire Endless animieren soll.

Eine nette Einzelheit der äußerlichen Buchgestaltung ist die Landkarte von Nick Springer: Passend dazu, dass die Handlung im Osten von Cadence spielt und der feindliche Westen den handelnden Personen größtenteils fremd und unbekannt ist, ist tatsächlich nur der Ostteil der Insel gezeigt und der Westen als undurchdringlicher Wald angedeutet.

Alles in allem ist A River Enchanted so das richtige Buch für einen Ausflug in nostalgische Lesegefilde und macht durchaus Lust auf den zweiten Teil.

Rebecca Ross: A River Enchanted. London, Harper Voyager, 2022, 472 Seiten.
ISBN: 978-0-00-851468-6


Genre: Roman

Die Tage in der Buchhandlung Morisaki

Die junge Takako führt in Tokio ein eher unspektakuläres Leben ohne große Höhen und Tiefen. Unzufrieden ist sie damit zwar nicht, aber etwas wirklich Besonderes ist für sie nur die feste Beziehung mit ihrem Arbeitskollegen Hideaki, den sie für den Mann fürs Leben hält. Als Hideaki ihr eröffnet, dass er eine andere Angestellte derselben Firma zu heiraten gedenkt und Takako für ihn nie mehr als eine Geliebte nebenher war, kündigt sie und hat keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Eher widerwillig nimmt sie mangels Alternativen das Angebot ihres Onkels Satoru an, vorerst in die Wohnung über seinem Antiquariat zu ziehen, denn Bücher sind nicht gerade ihre Leidenschaft, und Satoru – als Buchhändler mäßig erfolgreich, ohne echte Berufsausbildung und mit einer wildbewegten Vergangenheit als Weltenbummler – ist in gewissem Maße das schwarze Schaf der Familie. Doch umgeben von Stapeln von Literatur findet Takako bald heraus, dass das Lesen doch seinen Reiz hat und dass sie von ihrem exzentrischen Onkel einiges lernen kann. Während sie das Viertel um seine Buchhandlung erkundet, schließt sie Freundschaften, kommt zur Ruhe und sieht endlich eine Perspektive für sich, erkennt aber erst spät, dass sie vielleicht nicht die Einzige ist, die Hilfe und einen Neuanfang gebrauchen kann – und dass es an ihr ist, etwas zu unternehmen …

Satoshi Yagisawas Debüt Die Tage in der Buchhandlung Morisaki ist ein eher stiller Roman, der ohne große äußere Aufregungen auskommt. Bis auf eine recht dramatische neuerliche Konfrontation mit Hideaki im weiteren Verlauf der Geschichte sind Takakos Abenteuer alltäglicher und ruhiger Natur, und vieles spielt sich zwischen den Zeilen ab. Das ist übrigens ganz wörtlich zu nehmen, denn obwohl manch kulturelles Detail das Buch mit seinen treffend skizzierten Charakteren zu einem typisch japanischen macht, ist es auch und vor allem eine zeitlose und über alle geographischen Grenzen hinaus ansprechende Geschichte über die Macht des Lesens und der Begeisterung für Literatur.

Insbesondere gilt das für den der Selbstfindung Takakos gewidmeten ersten der zwei Teile, in die das Buch sich untergliedert; im zweiten geht es in mehr als einer Hinsicht etwas stärker in die Außenwelt jenseits der Bücher hinaus. Zum Allheilmittel gerät das Versinken in Romanen hier also nicht, doch es ist der Anstoß dafür, sich selbst und das, was einen umgibt, mit anderen Augen zu sehen. Die Sprache der Übersetzung von Ute Endres spielt dabei gekonnt mit verschiedenen Tonfällen (von umgangssprachlich bis lyrisch) und liest sich angenehm und mühelos, so dass man den kurzen Roman rasch verschlungen hat. Doch er ist einer, den man durchaus ein zweites oder drittes Mal zur Hand nehmen kann und der in seiner trügerischen Schlichtheit noch eine Weile in einem nachhallt. Nicht nur für Japanfans dürften Die Tage in der Buchhandlung Morisaki also eine lohnende Entdeckung sein.

Satoshi Yagisawa: Die Tage in der Buchhandlung Morisaki. Berlin, Insel Verlag, 2023, 192 Seiten.
ISBN: 978-3-458-64369-2


Genre: Roman

Das Nordseekind

Als junger Anwalt in Husum kommt Theodor Storm immer noch nicht auf einen grünen Zweig, und die auf der Suche nach einem Rechtsbeistand in die Stadt gereiste Rendsburger Köchin Enna Lorenzen, der sein Schreiber Peter Söt durch Zufall begegnet, erweist sich als wenig vielversprechende Mandantin: Zu weit hergeholt wirkt ihre Behauptung, sie sei in Wirklichkeit die seit Jahrzehnten verschollene Tochter der reichen Familie van Ovens und daher Erbin eines großen Vermögens. Doch kaum ist die Frau zornig darüber, nicht ernst genommen worden zu sein, wieder abgezogen, kommt es zu einem mysteriösen Todesfall im Haushalt von Storms Vater und zu weiteren Verbrechen, die alle eine Verbindung zu Enna Lorenzens Anliegen aufzuweisen scheinen. Allerdings ist die Obrigkeit bald nicht mehr einverstanden damit, dass Storm in der Sache ermittelt, und sogar sein Vater scheint etwas Entscheidendes zu verbergen zu haben …

Tilmann Spreckelsen schickt den heute eher als Schriftsteller denn als Juristen berühmten Theodor Storm in seinem neuen Krimi Das Nordseekind nicht zum ersten Mal auf Mörderjagd, und wie immer sind auch viele Anspielungen auf das literarische Werk seines Helden dabei. Diesmal hat vor allem die Novelle Auf dem Staatshof viel Inspiration bis in die Details von Formulierungen, Handlung und Personal geliefert (wobei allerdings nur Wieb, Marten, Anna Lena und deren Großmutter – allerdings mit beträchtlichen Änderungen in Charakter und Rolle – zumindest eine äußerliche Ähnlichkeit zu ihren Vorbildern bei Storm aufweisen, während die Namen Marx und Simon an gänzlich anders gestaltete Figuren vergeben sind). Das Motiv des vielleicht unrecht erworbenen Vermögens der ursprünglichen Besitzer des Staatshofs ist weiterhin von Bedeutung, aber mit der grausigen Sage um Die Wogenmänner verknüpft, die als Handlungsstrang auf einer zweiten Zeitebene als reales Geschehen des 14. Jahrhunderts erzählt wird, dessen Folgen bis in die Romangegenwart weiterwirken.

Spreckelsen schreibt wie immer sprachlich schön, mit großem Verständnis für seine literarischen Quellen und oft auch mit leisem Humor, und ist gerade in seinen Schilderungen der Landschaft (in der dann auch schon einmal ein fast wörtlich dem Staatshof entlehnter brüllender Ochse als augenzwinkernder Anklang auftauchen darf) und der Lebensverhältnisse des 19. Jahrhunderts stark. Die Hauptfigurenrunde um den Ich-Erzähler Peter Söt, der sich hier als junger Familienvater bewähren muss, bleibt unterhaltsam und nicht unsympathisch. Mit häuslicher und sexueller Gewalt an Frauen sowie der Beobachtung, dass oft gesellschaftliche Unterstützung für die Opfer fehlt und auch weibliche Solidarität untereinander an den verschiedensten Faktoren scheitern kann, greift der Roman bittere, aber leider bis heute aktuelle Themen auf.

Die Handlung selbst allerdings überzeugt nicht hundertprozentig, und das nicht nur, weil manches Detail (wie der jahrhundertealte Geheimbund, der bei allem die Finger im Spiel hat) dann doch weit hergeholt wirkt. Wirklich lästig ist vor allem das Übermaß an Blutvergießen, dem zur Steigerung der allgemeinen Schaurigkeit sogar Storms an den menschlichen Umtrieben unschuldiger Bürokater zum Opfer fällt. Kommt es schon in der Jetztzeit des Romans zu einem gewaltsamen Todesfall nach dem anderen (und zu guter Letzt auch noch zur Aufdeckung eines vertuschten Mordes in der jüngeren Vergangenheit und zu einem Selbstmord), treibt der mittelalterliche Handlungstrang mit sorgsam eingeübten Meuchelmorden für einen guten Zweck, einer Massenhinrichtung und ebenfalls einem Selbstmord die Brutalität auf die Spitze. Fast ist man versucht, eine andere Storm-Novelle, Ein Fest auf Hadersleevhus, zu zitieren: und sie starben alle, alle. Nun gut – vielleicht nicht ganz alle, denn die Figuren, die als historische Gestalten oder zwecks Verwendung in möglichen weiteren Bänden überleben müssen, tun das durchaus. Die schiere Masse an Ermordeten aber ist einem am Ende dieses Buchs zu viel, und da Spreckelsen – wie oben erwähnt – schreiben kann, bräuchte er zur Aufrechterhaltung des Interesses eigentlich nicht den Schockeffekt, eine Leiche auf die andere folgen zu lassen. Falls das Ziel allerdings ist, das Lesepublikum zur Selbstreflexion anzuregen, ob Morde wirklich der Unterhaltung dienen sollten, wird es wohl erreicht – vermutlich wird man bei seiner Lektüreauswahl nach dem Nordseekind nicht gleich zum nächsten Krimi greifen.

Tilman Spreckelsen: Das Nordseekind. Theodor Storm ermittelt. Berlin, Aufbau, 2023, 256 Seiten.
ISBN: 978-3-7466-4010-5


Genre: Roman

Der Schieber

Das hier besprochene Buch ist Teil einer Reihe. Die Rezension des ersten Bandes ist hier zu finden.

Hamburg im Frühsommer 1947: Ausgerechnet auf einem Blindgänger mitten auf einem Werftgelände liegt die Leiche eines Jugendlichen. Oberinspektor Frank Stave findet zwar bald heraus, dass es sich um den im Krieg verwaisten Adolf handelt, aber alles Weitere bleibt zunächst rätselhaft: Die Tante des Jungen und ihr Verlobter, bei denen er lebte, scheinen nicht sehr um ihn zu trauern, und auch unter den Schwarzmarkthändlern und Kohlendieben, die sein alltägliches Umfeld bildeten, war Adolf wohl nicht beliebt. Allein die minderjährige Prostituierte Hildegard scheint ihn zu vermissen. Als sie und auch Staves ursprünglicher Hauptverdächtiger kurz darauf ebenfalls ums Leben kommen, rückt eine Lösung des Falls in immer weitere Ferne – und das könnte üble Folgen nicht nur für den Polizisten, sondern auch für seinen Freund, den britischen Geheimdienstler MacDonald, nach sich ziehen. Auch Staves Privatleben wird von der eigentlich heißersehnten Rückkehr seines Sohnes aus der Kriegsgefangenschaft kräftig durcheinandergewirbelt, und so drohen die Probleme, die er binnen kürzester Zeit bewältigen muss, ihm gehörig über den Kopf zu wachsen …

Anders als im Trümmermörder, dem ersten Band seiner im Hamburg der Nachkriegszeit angesiedelten Krimireihe, stellt Cay Rademacher im zweiten Teil Der Schieber kein ungeklärtes historisches Verbrechen in den Mittelpunkt des Romans, sondern einen fiktiven Fall, der sich allerdings – für Rademacher generell nicht untypisch – wieder dadurch auszeichnet, dass die Ermordeten ohnehin schon zu den Verletzlichen und Benachteiligten der Gesellschaft gehören. Diesmal ist es das Phänomen der sogenannten Wolfskinder und anderer Kriegswaisen, das eine zentrale Rolle spielt und es umso schrecklicher wirken lässt, dass viele der Schuldigen und Mitläufer 1947 schon wieder fest im Sattel sitzen und erstaunlich gut durch die schweren Zeiten kommen – ganz im Gegensatz zu ihren Opfern und den mittelbar von ihnen Geschädigten.

Wie gewohnt lassen Rademachers Ortskenntnisse und seine gründlichen historischen Recherchen die Kulisse des kriegszerstörten Hamburg sehr plastisch erscheinen und machen Lebensbedingungen, Konflikte und – oft nur rudimentäre – Vergangenheitsbewältigung einer tristen Epoche greifbar. Die Figuren sind glaubhaft gezeichnet, und es macht viel Spaß, dass sich hier Staves Freundschaft mit MacDonald Stück für Stück vertieft und die beiden im dramatischen Finale sogar gemeinsam in ein nicht ganz legales Abenteuer ausziehen dürfen. Zudem gewinnt der jüdische Staatsanwalt Ehrlich, der die Nazizeit im englischen Exil überlebt hat, hier mehr Tiefe, da neben seinem beruflichen Engagement nun auch persönliche Belange (wie die Suche nach seiner verschollenen Kunstsammlung) stärker thematisiert werden.

Der Kriminalfall selbst ist spannend aufgebaut und gewinnt dadurch ein gewisses Maß an Realismus, dass Stave letzten Endes zwar vieles, aber nicht alles aufklären kann: Bei einem der drei gewaltsamen Todesfälle wird zwar eine mögliche Erklärung, wie es dazu gekommen sein könnte, angeboten, aber die genauen Hintergründe sind für den Ermittler nicht mehr festzustellen. Aber die Morde sind ohnehin nur ein Aspekt des Buchs: Wichtiger ist eigentlich die Schilderung einer Situation, in der nicht nur Not und Mangel den Menschen das Leben schwer machen, sondern alle – ob nun Täter, Opfer oder schweigende Zuschauer – nach einem großen Umbruch in einer unwiderruflich gewandelten Welt zurechtkommen müssen. Auf alle Fälle hält Der Schieber die Lust auf den dritten Band wach und weckt leises Bedauern, dass die Reihe über diesen hinaus nie fortgeführt worden ist.

Cay Rademacher: Der Schieber. Kriminalroman. Köln, DuMont, 2013, 368 Seiten.
ISBN: 978-3-8321-6254-2

 


Genre: Roman

Dies ist mein letztes Lied

Ein im wahrsten Sinne des Wortes allumfassendes System mächtiger Wirtschaftskonzerne, so gut wie keine Auf- und Ausstiegschancen für deren Angestellte, aber in bescheidenem Rahmen Brot und Spiele für die Ausgebeuteten: Es ist eine zwar in manchen Belangen (etwa bezüglich der selbstverständlichen Anerkennung verschiedener Geschlechtsidentitäten) progressive, insgesamt aber doch dystopische Zukunft, durch die in Lena Richters Dies ist mein letztes Lied jemand namens Qui – was sich nicht ohne Grund mit „Wer?“ übersetzen lässt – musizierend und geschunden streift, ohne viel über sich preiszugeben, obwohl die Öffentlichkeit und die große Bühne immer wieder Handlungsort sind.

Schon der Einstieg bietet höchstpersönliche Magie als Massenevent: Ein letzter Auftritt der Ich-Erzählerfigur vor Publikum soll ein zu durchschreitendes Portal öffnen, das aus dieser Welt hinausführt. Das wird zum Anlass, zurückzublicken und sich an die vorhergehenden Lieder und Portale zu erinnern, die Qui an diesen Punkt gebracht haben. Dementsprechend auch nicht in Kapitel, sondern in Auftakt, unterschiedliche Lieder und ein Schlussstück gegliedert, spricht das Buch trotz seines ebenso bunten wie bedrückenden futuristischen Settings Probleme der Gegenwart an, von der oft als sinnlos empfundenen Angestelltenexistenz über verfahrene Konflikte bis hin zum menschenverachtend gleichgültigen Umgang mit Krisen und deren Opfern.

Das zu Beginn von Quis Geschichte evozierte Gefühl, in einem unbefriedigenden, von fremden Interessen bestimmten Leben gefangen zu sein, und die eskapistische Phantasie, auf unerklärliche Art plötzlich die Chance zur Flucht daraus geboten zu bekommen, können sicher viele Menschen nachvollziehen. Aber so leicht, das Durchschreiten eines magischen Portals zur Lösung aller Probleme werden zu lassen, macht Lena Richter es weder ihrem Publikum noch ihrer Hauptfigur, denn auch abgesehen von allen schmerzlichen Abschieden kann man rasch vom Regen in die Traufe geraten.

So bekommt Qui es im Laufe der Reise durch immer neue Türen mit Krieg, widrigen Umweltbedingungen, im Kälteschlaf Reisenden auf einem Raumschiff, landschaftlich beeindruckender, aber bedrohter Natur, Alltagstristesse, einer planetenweiten Katastrophe, einer virtuellen Welt mit ganz realen Gefühlen und Gemeinschaften, lebensbedrohlicher Einsamkeit, einer ureigene Bedürfnisse erstickenden Normalität und letztendlich hohlem Erfolg zu tun. Trotz aller Versuche, die Vergangenheit zu bewahren und in nicht unbedingt dauerhaften Freundschaften und Beziehungen die Gegenwart so lebenswert wie möglich zu gestalten, ist eine bessere Zukunft das Einzige, wovon unter diesen Umständen viele – aber längst nicht mehr alle – träumen können. Aber ist sie überhaupt zu erreichen?

Der Kunstgriff des Wechsels von Welt zu Welt durch die musikalisch herbeigezauberten Portale erlaubt es Lena Richter, ihre Vielseitigkeit unter Beweis zu stellen. Gewiss kann man überlegen, ob mit diesem Streifzug durch gängige Formen von Science-Fiction-Kulissen nicht auch ein wenig unser aller kleine Fluchten in immer wieder neue imaginierte Welten hinterfragt werden, aber wenn ja, dann geschieht es nicht auf zynische Art, sondern durchaus mit Verständnis für die Suche nach dem nicht aufzutreibenden Ausweg. Stärker noch schwingt aber die Reflexion über die Rolle von Kunstschaffenden mit, die – trotz aller (hier stets zeitbegrenzten) Eingebundenheit in unterschiedliche Lebenswelten – immer auch eine Außenseiter- und Beobachterposition einnehmen, die ihnen zwar ein gewisses Maß an Macht im Beschreiben und Kommentieren, vielleicht gar Aufrütteln einräumt, sie aber auch in die hilflose Lage stürzt, der Kommodifizierung und Vermarktung von Tiefempfundenem zusehen zu müssen. Auch das in Fantasy und Science Fiction nicht seltene Motiv der Auserwähltheit wird im Zuge dessen gründlich auf den Prüfstand gestellt.

Zugegeben: Eine aufmunternde und tröstliche Lektüre ist das nicht, eher eine, die einen bekümmert und nachdenklich stimmt, aber gerade auch aufgrund des geschickten Einsatzes der Ich-Erzähler-Instanz, über die man so wenig und doch so viel erfährt, eine lohnende Entdeckung abseits ausgetretener Pfade im Genre bietet.

Lena Richter: Dies ist mein letztes Lied. Wien, Verlag ohneohren, 2023 (E-Book).
ISBN: 978-3-903296-59-6


Genre: Erzählung, Roman

Von Fabelwesen und Königen

Bauernsohn Aramil hat keinen leichten Start ins Leben: Von den eigenen Eltern nicht übermäßig geliebt und gefördert, wird er früh in den Militärdienst in einem blutigen Bruderkrieg gepresst. Immerhin entdeckt er so als Trommler seine musikalische Begabung, und als er dem Gemetzel entkommen ist, erhält er mehrfach von unerwarteter Seite Hilfe dabei, seinem Leben eine neue Richtung zu geben. Doch das Dasein eines Barden, auf das er nach einer Weile hinzuarbeiten beschließt, ist strengen Regeln unterworfen und wahrlich kein Zuckerschlecken. Kann Aramil bei aller Liebe zu Gesang und Lautenspiel so wirklich den Weg zum Glück finden?

Sarah Malhus’ Debütroman Von Fabelwesen und Königen fällt in den Bereich der progressiven Phantastik: So spielen gleichgeschlechtliche Liebe, Beziehungen mit mehr als zwei Partnern und gelegentlich auch der Wunsch nach Rebellion gegen eine ungerechte Obrigkeit oder wenigstens politischen Reformen eine Rolle. Zugleich ist die Handlung aber in einer recht klassischen Kulisse angesiedelt, die atmosphärisch irgendwo zwischen Rollenspiel-Setting, europäischer Märchen- und Sagenwelt, in der selbst ein König nur ein besserer Gutsherr ist, und Mittelaltermarkt liegt. Wer eine konservative Moral leid ist, aber doch ein nostalgisches Lesegefühl mit vielen vertrauten Elementen nicht missen möchte, findet hier also eine auf seine Vorlieben zugeschnittene Mischung.

Ich-Erzähler Aramil, der – so die Rahmenhandlung – seine Lebensgeschichte episodenhaft einer Runde von Fremden am Lagerfeuer schildert, macht seinem Publikum dabei den Einstieg leicht, da er in seiner jugendlichen Naivität zunächst selbst noch einiges an Wissen über Musik, Mythologie und Fabelwesen sammeln muss. Bald aber gehen auf seinen Streifzügen durch das zerrissene Königreich Baldern diese Lehrjahre in handfeste Abenteuer über. Er begegnet nicht nur einem geheimnisvollen Müller und einem Esel mit Charakter, sondern auch einer Sirene, einem Brückentroll, Banditen, ruppigen Seeleuten, mehreren Königen und einem leibhaftigen Drachen und findet einen Mann und eine Frau, die er beide gleichermaßen lieben lernt.

Die bereits im Titel erwähnten Fabelwesen sind dank ihrer lebendigen Schilderung eine der größten Stärken des Buchs, ganz gleich, ob nun ein finsterer Nachtalb oder eine gut getarnte Trollfrau auftritt, und die Geschichte von Müller, Nöck und Mühlenkobold würde etwas länger ausgearbeitet wohl allein schon dazu taugen, einen ganzen Roman oder doch zumindest eine Novelle zu tragen.

Merklichen Spaß hat Sarah Malhus daran, die Lieder, die Aramil singt, ausführlich in Gedichtform zu präsentieren. Ohnehin spielt sie gern ein bisschen mit dem Text, wenn sich etwa in bestimmten Formulierungen schon Vorausdeutungen verstecken (wie in den Äußerungen des Ritters Berolt, bevor er später seine ganze Lebensgeschichte erzählt), Kartoffeln unter allen möglichen verschiedenen Bezeichnungen auftauchen oder am Ende Rahmen- und Binnenhandlung zusammengeführt werden.

Lektorat und Korrektorat hätten stellenweise gründlicher arbeiten können, da hier und da etwas holprige Grammatik stehen geblieben ist1, aber da das nicht zu häufig vorkommt, kann man mit gutem Willen darüber hinweglesen. Durchgehend gelungen dagegen ist die Ausstattung des Buchs mit liebevoll gestalteter Landkarte, schönem Buchsatz, kleinen Illustrationen jeweils am Kapitelende und niedlichem Esel-Daumenkino. Äußerlich nett aufgemacht ist Von Fabelwesen und Königen also auf jeden Fall, und wer leichte, lockere Fantasy sucht, findet in dem Roman auch eine entspannende und unterhaltsame Lektüre.

Sarah Malhus: Von Fabelwesen und Königen. Aus dem Leben eines Barden. Fellbach 2023, 396 Seiten.
Ohne ISBN (Crowdfunding-Taschenbuch-Ausgabe; auch als E-Book erhältlich)

  1. Beispielsweise würdig mit Dativ statt mit Genitiv; Mir verlangt es nach statt Mich verlangt es nach; uneinheitliche Deklination, den Alb aber keinen Nachtalben; Klientel wird nicht als Femininum gebraucht.

 


Genre: Roman