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A River Enchanted

Lange Jahre ist der Barde Jack nicht mehr auf seiner Heimatinsel Cadence gewesen, die seit Generationen in von den beiden unversöhnlich verfeindeten Clans der Breccans im Westen und der Tamerlaines im Osten beherrschte Hälften geteilt ist. Dann aber ruft Jacks alte Kindheitsrivalin Adaira, die Erbin des Lairds, ihn durch eine List zurück, weil sie seine Hilfe benötigt: Aus dem Osten der Insel verschwinden immer wieder kleine Mädchen. Adaira vermutet, dass die zu Schabernack neigenden örtlichen Elementargeister dahinterstecken könnten, und nur ein Barde kann sie durch seine Musik beschwören. Ein einfaches Unterfangen ist das nicht, aber bald nicht mehr das einzige Problem, vor dem Jack steht: Damit, dass seine kränkelnde Mutter in seiner Abwesenheit ein zweites Kind seines ihm unbekannten Vaters zur Welt gebracht hat, über den sie sich weiterhin beharrlich ausschweigt, weiß er zunächst ebenso wenig umzugehen wie mit seinen erwachenden Gefühlen für Adaira. Als dann auch noch sein alter Freund, Adairas Cousin Torin, und dessen Frau Sidra seltsame Erlebnisse teilweise übernatürlicher Natur zu haben beginnen und Adaira den riskanten Plan fasst, gegen den Willen des Clans ein Friedensabkommen mit den verfeindeten Breccans zu schließen, droht die Lage vollends zu entgleisen …

A River Enchanted von Rebecca Ross ist der erste Band eines in einer keltisch-schottisch inspirierten Fantasywelt angesiedelten Zweiteilers, dessen große Stärke die poetischen Schilderungen der Landschaft und der übernatürlichen Elemente sind, die genaue Kenntnis typischer Feen- und Elfenmärchen verraten. Zwischen Torffeuern, Heilkräutern und Whisky fügen sich die magischen Bestandteile der Geschichte wie mit Zaubern durchwobene Plaids, ein als Lügendetektor dienender Dolch, die allgegenwärtigen Elementargeister und eben auch der titelgebende Fluss, der die beiden ansonsten strikt getrennten Inselhälften verbindet, nahtlos und authentisch anmutend ein.

Das erzeugt ein Lesegefühl, das stark an klassische Fantasy irgendwo zwischen Tolkien, Dunsany und einer frühen McKillip erinnert, und auch abgesehen von Erzählduktus und Weltenbau drängt sich der Eindruck auf, dass die offenbar sehr religiöse Autorin (die ihr Nachwort – man fühlt sich an Johann Sebastian Bach erinnert – mit der Wendung Soli Deo Gloria abschließt und explizit ihrem „Heavenly Father“ dankt) Traditionelleres bevorzugt als die oft unverkennbar progressiv eingestellten führenden heutigen Stimmen im Genre. So sorgt sie z. B. durch eine konstruierte Wendung dafür, dass Jack und Adaira erst ordnungsgemäß verheiratet sind, bevor es zu einer Liebesnacht zwischen den beiden kommt.

Mag man zu solchen Details stehen, wie man will – die Art, wie Ross ihre Geschichte erzählt, ist trotzdem gelungen, verrät sie doch viel Gespür für die Schilderung differenzierter, glaubwürdiger Charaktere, die neben allen äußeren Schwierigkeiten auch psychische Ausnahmezustände zu bewältigen haben, und durchaus nicht unkomplizierter zwischenmenschlicher Beziehungen. Die wechselnden Perspektiven – neben Jack, Adaira, Torin und Sidra kommt hier auch Jacks kleine Schwester Frae zum Zuge – sind eingängig und überzeugend ausgestaltet, so dass das Buch sich flüssig und unterhaltsam liest. In sich abgeschlossen ist es allerdings nur zum Teil: Man erfährt zwar, was aus den verschwundenen Mädchen geworden ist, und einige Rätsel, wie das um Jacks mysteriösen Vater, werden gelöst, aber andere bleiben offen, und die Liebesgeschichte zwischen Jack und Adaira wird durch einen ganz klassischen Cliffhanger unterbrochen, der zur Lektüre des Folgebands A Fire Endless animieren soll.

Eine nette Einzelheit der äußerlichen Buchgestaltung ist die Landkarte von Nick Springer: Passend dazu, dass die Handlung im Osten von Cadence spielt und der feindliche Westen den handelnden Personen größtenteils fremd und unbekannt ist, ist tatsächlich nur der Ostteil der Insel gezeigt und der Westen als undurchdringlicher Wald angedeutet.

Alles in allem ist A River Enchanted so das richtige Buch für einen Ausflug in nostalgische Lesegefilde und macht durchaus Lust auf den zweiten Teil.

Rebecca Ross: A River Enchanted. London, Harper Voyager, 2022, 472 Seiten.
ISBN: 978-0-00-851468-6


Genre: Roman

Die Tage in der Buchhandlung Morisaki

Die junge Takako führt in Tokio ein eher unspektakuläres Leben ohne große Höhen und Tiefen. Unzufrieden ist sie damit zwar nicht, aber etwas wirklich Besonderes ist für sie nur die feste Beziehung mit ihrem Arbeitskollegen Hideaki, den sie für den Mann fürs Leben hält. Als Hideaki ihr eröffnet, dass er eine andere Angestellte derselben Firma zu heiraten gedenkt und Takako für ihn nie mehr als eine Geliebte nebenher war, kündigt sie und hat keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Eher widerwillig nimmt sie mangels Alternativen das Angebot ihres Onkels Satoru an, vorerst in die Wohnung über seinem Antiquariat zu ziehen, denn Bücher sind nicht gerade ihre Leidenschaft, und Satoru – als Buchhändler mäßig erfolgreich, ohne echte Berufsausbildung und mit einer wildbewegten Vergangenheit als Weltenbummler – ist in gewissem Maße das schwarze Schaf der Familie. Doch umgeben von Stapeln von Literatur findet Takako bald heraus, dass das Lesen doch seinen Reiz hat und dass sie von ihrem exzentrischen Onkel einiges lernen kann. Während sie das Viertel um seine Buchhandlung erkundet, schließt sie Freundschaften, kommt zur Ruhe und sieht endlich eine Perspektive für sich, erkennt aber erst spät, dass sie vielleicht nicht die Einzige ist, die Hilfe und einen Neuanfang gebrauchen kann – und dass es an ihr ist, etwas zu unternehmen …

Satoshi Yagisawas Debüt Die Tage in der Buchhandlung Morisaki ist ein eher stiller Roman, der ohne große äußere Aufregungen auskommt. Bis auf eine recht dramatische neuerliche Konfrontation mit Hideaki im weiteren Verlauf der Geschichte sind Takakos Abenteuer alltäglicher und ruhiger Natur, und vieles spielt sich zwischen den Zeilen ab. Das ist übrigens ganz wörtlich zu nehmen, denn obwohl manch kulturelles Detail das Buch mit seinen treffend skizzierten Charakteren zu einem typisch japanischen macht, ist es auch und vor allem eine zeitlose und über alle geographischen Grenzen hinaus ansprechende Geschichte über die Macht des Lesens und der Begeisterung für Literatur.

Insbesondere gilt das für den der Selbstfindung Takakos gewidmeten ersten der zwei Teile, in die das Buch sich untergliedert; im zweiten geht es in mehr als einer Hinsicht etwas stärker in die Außenwelt jenseits der Bücher hinaus. Zum Allheilmittel gerät das Versinken in Romanen hier also nicht, doch es ist der Anstoß dafür, sich selbst und das, was einen umgibt, mit anderen Augen zu sehen. Die Sprache der Übersetzung von Ute Endres spielt dabei gekonnt mit verschiedenen Tonfällen (von umgangssprachlich bis lyrisch) und liest sich angenehm und mühelos, so dass man den kurzen Roman rasch verschlungen hat. Doch er ist einer, den man durchaus ein zweites oder drittes Mal zur Hand nehmen kann und der in seiner trügerischen Schlichtheit noch eine Weile in einem nachhallt. Nicht nur für Japanfans dürften Die Tage in der Buchhandlung Morisaki also eine lohnende Entdeckung sein.

Satoshi Yagisawa: Die Tage in der Buchhandlung Morisaki. Berlin, Insel Verlag, 2023, 192 Seiten.
ISBN: 978-3-458-64369-2


Genre: Roman

Das Nordseekind

Als junger Anwalt in Husum kommt Theodor Storm immer noch nicht auf einen grünen Zweig, und die auf der Suche nach einem Rechtsbeistand in die Stadt gereiste Rendsburger Köchin Enna Lorenzen, der sein Schreiber Peter Söt durch Zufall begegnet, erweist sich als wenig vielversprechende Mandantin: Zu weit hergeholt wirkt ihre Behauptung, sie sei in Wirklichkeit die seit Jahrzehnten verschollene Tochter der reichen Familie van Ovens und daher Erbin eines großen Vermögens. Doch kaum ist die Frau zornig darüber, nicht ernst genommen worden zu sein, wieder abgezogen, kommt es zu einem mysteriösen Todesfall im Haushalt von Storms Vater und zu weiteren Verbrechen, die alle eine Verbindung zu Enna Lorenzens Anliegen aufzuweisen scheinen. Allerdings ist die Obrigkeit bald nicht mehr einverstanden damit, dass Storm in der Sache ermittelt, und sogar sein Vater scheint etwas Entscheidendes zu verbergen zu haben …

Tilmann Spreckelsen schickt den heute eher als Schriftsteller denn als Juristen berühmten Theodor Storm in seinem neuen Krimi Das Nordseekind nicht zum ersten Mal auf Mörderjagd, und wie immer sind auch viele Anspielungen auf das literarische Werk seines Helden dabei. Diesmal hat vor allem die Novelle Auf dem Staatshof viel Inspiration bis in die Details von Formulierungen, Handlung und Personal geliefert (wobei allerdings nur Wieb, Marten, Anna Lena und deren Großmutter – allerdings mit beträchtlichen Änderungen in Charakter und Rolle – zumindest eine äußerliche Ähnlichkeit zu ihren Vorbildern bei Storm aufweisen, während die Namen Marx und Simon an gänzlich anders gestaltete Figuren vergeben sind). Das Motiv des vielleicht unrecht erworbenen Vermögens der ursprünglichen Besitzer des Staatshofs ist weiterhin von Bedeutung, aber mit der grausigen Sage um Die Wogenmänner verknüpft, die als Handlungsstrang auf einer zweiten Zeitebene als reales Geschehen des 14. Jahrhunderts erzählt wird, dessen Folgen bis in die Romangegenwart weiterwirken.

Spreckelsen schreibt wie immer sprachlich schön, mit großem Verständnis für seine literarischen Quellen und oft auch mit leisem Humor, und ist gerade in seinen Schilderungen der Landschaft (in der dann auch schon einmal ein fast wörtlich dem Staatshof entlehnter brüllender Ochse als augenzwinkernder Anklang auftauchen darf) und der Lebensverhältnisse des 19. Jahrhunderts stark. Die Hauptfigurenrunde um den Ich-Erzähler Peter Söt, der sich hier als junger Familienvater bewähren muss, bleibt unterhaltsam und nicht unsympathisch. Mit häuslicher und sexueller Gewalt an Frauen sowie der Beobachtung, dass oft gesellschaftliche Unterstützung für die Opfer fehlt und auch weibliche Solidarität untereinander an den verschiedensten Faktoren scheitern kann, greift der Roman bittere, aber leider bis heute aktuelle Themen auf.

Die Handlung selbst allerdings überzeugt nicht hundertprozentig, und das nicht nur, weil manches Detail (wie der jahrhundertealte Geheimbund, der bei allem die Finger im Spiel hat) dann doch weit hergeholt wirkt. Wirklich lästig ist vor allem das Übermaß an Blutvergießen, dem zur Steigerung der allgemeinen Schaurigkeit sogar Storms an den menschlichen Umtrieben unschuldiger Bürokater zum Opfer fällt. Kommt es schon in der Jetztzeit des Romans zu einem gewaltsamen Todesfall nach dem anderen (und zu guter Letzt auch noch zur Aufdeckung eines vertuschten Mordes in der jüngeren Vergangenheit und zu einem Selbstmord), treibt der mittelalterliche Handlungstrang mit sorgsam eingeübten Meuchelmorden für einen guten Zweck, einer Massenhinrichtung und ebenfalls einem Selbstmord die Brutalität auf die Spitze. Fast ist man versucht, eine andere Storm-Novelle, Ein Fest auf Hadersleevhus, zu zitieren: und sie starben alle, alle. Nun gut – vielleicht nicht ganz alle, denn die Figuren, die als historische Gestalten oder zwecks Verwendung in möglichen weiteren Bänden überleben müssen, tun das durchaus. Die schiere Masse an Ermordeten aber ist einem am Ende dieses Buchs zu viel, und da Spreckelsen – wie oben erwähnt – schreiben kann, bräuchte er zur Aufrechterhaltung des Interesses eigentlich nicht den Schockeffekt, eine Leiche auf die andere folgen zu lassen. Falls das Ziel allerdings ist, das Lesepublikum zur Selbstreflexion anzuregen, ob Morde wirklich der Unterhaltung dienen sollten, wird es wohl erreicht – vermutlich wird man bei seiner Lektüreauswahl nach dem Nordseekind nicht gleich zum nächsten Krimi greifen.

Tilman Spreckelsen: Das Nordseekind. Theodor Storm ermittelt. Berlin, Aufbau, 2023, 256 Seiten.
ISBN: 978-3-7466-4010-5


Genre: Roman

Der Schieber

Das hier besprochene Buch ist Teil einer Reihe. Die Rezension des ersten Bandes ist hier zu finden.

Hamburg im Frühsommer 1947: Ausgerechnet auf einem Blindgänger mitten auf einem Werftgelände liegt die Leiche eines Jugendlichen. Oberinspektor Frank Stave findet zwar bald heraus, dass es sich um den im Krieg verwaisten Adolf handelt, aber alles Weitere bleibt zunächst rätselhaft: Die Tante des Jungen und ihr Verlobter, bei denen er lebte, scheinen nicht sehr um ihn zu trauern, und auch unter den Schwarzmarkthändlern und Kohlendieben, die sein alltägliches Umfeld bildeten, war Adolf wohl nicht beliebt. Allein die minderjährige Prostituierte Hildegard scheint ihn zu vermissen. Als sie und auch Staves ursprünglicher Hauptverdächtiger kurz darauf ebenfalls ums Leben kommen, rückt eine Lösung des Falls in immer weitere Ferne – und das könnte üble Folgen nicht nur für den Polizisten, sondern auch für seinen Freund, den britischen Geheimdienstler MacDonald, nach sich ziehen. Auch Staves Privatleben wird von der eigentlich heißersehnten Rückkehr seines Sohnes aus der Kriegsgefangenschaft kräftig durcheinandergewirbelt, und so drohen die Probleme, die er binnen kürzester Zeit bewältigen muss, ihm gehörig über den Kopf zu wachsen …

Anders als im Trümmermörder, dem ersten Band seiner im Hamburg der Nachkriegszeit angesiedelten Krimireihe, stellt Cay Rademacher im zweiten Teil Der Schieber kein ungeklärtes historisches Verbrechen in den Mittelpunkt des Romans, sondern einen fiktiven Fall, der sich allerdings – für Rademacher generell nicht untypisch – wieder dadurch auszeichnet, dass die Ermordeten ohnehin schon zu den Verletzlichen und Benachteiligten der Gesellschaft gehören. Diesmal ist es das Phänomen der sogenannten Wolfskinder und anderer Kriegswaisen, das eine zentrale Rolle spielt und es umso schrecklicher wirken lässt, dass viele der Schuldigen und Mitläufer 1947 schon wieder fest im Sattel sitzen und erstaunlich gut durch die schweren Zeiten kommen – ganz im Gegensatz zu ihren Opfern und den mittelbar von ihnen Geschädigten.

Wie gewohnt lassen Rademachers Ortskenntnisse und seine gründlichen historischen Recherchen die Kulisse des kriegszerstörten Hamburg sehr plastisch erscheinen und machen Lebensbedingungen, Konflikte und – oft nur rudimentäre – Vergangenheitsbewältigung einer tristen Epoche greifbar. Die Figuren sind glaubhaft gezeichnet, und es macht viel Spaß, dass sich hier Staves Freundschaft mit MacDonald Stück für Stück vertieft und die beiden im dramatischen Finale sogar gemeinsam in ein nicht ganz legales Abenteuer ausziehen dürfen. Zudem gewinnt der jüdische Staatsanwalt Ehrlich, der die Nazizeit im englischen Exil überlebt hat, hier mehr Tiefe, da neben seinem beruflichen Engagement nun auch persönliche Belange (wie die Suche nach seiner verschollenen Kunstsammlung) stärker thematisiert werden.

Der Kriminalfall selbst ist spannend aufgebaut und gewinnt dadurch ein gewisses Maß an Realismus, dass Stave letzten Endes zwar vieles, aber nicht alles aufklären kann: Bei einem der drei gewaltsamen Todesfälle wird zwar eine mögliche Erklärung, wie es dazu gekommen sein könnte, angeboten, aber die genauen Hintergründe sind für den Ermittler nicht mehr festzustellen. Aber die Morde sind ohnehin nur ein Aspekt des Buchs: Wichtiger ist eigentlich die Schilderung einer Situation, in der nicht nur Not und Mangel den Menschen das Leben schwer machen, sondern alle – ob nun Täter, Opfer oder schweigende Zuschauer – nach einem großen Umbruch in einer unwiderruflich gewandelten Welt zurechtkommen müssen. Auf alle Fälle hält Der Schieber die Lust auf den dritten Band wach und weckt leises Bedauern, dass die Reihe über diesen hinaus nie fortgeführt worden ist.

Cay Rademacher: Der Schieber. Kriminalroman. Köln, DuMont, 2013, 368 Seiten.
ISBN: 978-3-8321-6254-2

 


Genre: Roman

Dies ist mein letztes Lied

Ein im wahrsten Sinne des Wortes allumfassendes System mächtiger Wirtschaftskonzerne, so gut wie keine Auf- und Ausstiegschancen für deren Angestellte, aber in bescheidenem Rahmen Brot und Spiele für die Ausgebeuteten: Es ist eine zwar in manchen Belangen (etwa bezüglich der selbstverständlichen Anerkennung verschiedener Geschlechtsidentitäten) progressive, insgesamt aber doch dystopische Zukunft, durch die in Lena Richters Dies ist mein letztes Lied jemand namens Qui – was sich nicht ohne Grund mit „Wer?“ übersetzen lässt – musizierend und geschunden streift, ohne viel über sich preiszugeben, obwohl die Öffentlichkeit und die große Bühne immer wieder Handlungsort sind.

Schon der Einstieg bietet höchstpersönliche Magie als Massenevent: Ein letzter Auftritt der Ich-Erzählerfigur vor Publikum soll ein zu durchschreitendes Portal öffnen, das aus dieser Welt hinausführt. Das wird zum Anlass, zurückzublicken und sich an die vorhergehenden Lieder und Portale zu erinnern, die Qui an diesen Punkt gebracht haben. Dementsprechend auch nicht in Kapitel, sondern in Auftakt, unterschiedliche Lieder und ein Schlussstück gegliedert, spricht das Buch trotz seines ebenso bunten wie bedrückenden futuristischen Settings Probleme der Gegenwart an, von der oft als sinnlos empfundenen Angestelltenexistenz über verfahrene Konflikte bis hin zum menschenverachtend gleichgültigen Umgang mit Krisen und deren Opfern.

Das zu Beginn von Quis Geschichte evozierte Gefühl, in einem unbefriedigenden, von fremden Interessen bestimmten Leben gefangen zu sein, und die eskapistische Phantasie, auf unerklärliche Art plötzlich die Chance zur Flucht daraus geboten zu bekommen, können sicher viele Menschen nachvollziehen. Aber so leicht, das Durchschreiten eines magischen Portals zur Lösung aller Probleme werden zu lassen, macht Lena Richter es weder ihrem Publikum noch ihrer Hauptfigur, denn auch abgesehen von allen schmerzlichen Abschieden kann man rasch vom Regen in die Traufe geraten.

So bekommt Qui es im Laufe der Reise durch immer neue Türen mit Krieg, widrigen Umweltbedingungen, im Kälteschlaf Reisenden auf einem Raumschiff, landschaftlich beeindruckender, aber bedrohter Natur, Alltagstristesse, einer planetenweiten Katastrophe, einer virtuellen Welt mit ganz realen Gefühlen und Gemeinschaften, lebensbedrohlicher Einsamkeit, einer ureigene Bedürfnisse erstickenden Normalität und letztendlich hohlem Erfolg zu tun. Trotz aller Versuche, die Vergangenheit zu bewahren und in nicht unbedingt dauerhaften Freundschaften und Beziehungen die Gegenwart so lebenswert wie möglich zu gestalten, ist eine bessere Zukunft das Einzige, wovon unter diesen Umständen viele – aber längst nicht mehr alle – träumen können. Aber ist sie überhaupt zu erreichen?

Der Kunstgriff des Wechsels von Welt zu Welt durch die musikalisch herbeigezauberten Portale erlaubt es Lena Richter, ihre Vielseitigkeit unter Beweis zu stellen. Gewiss kann man überlegen, ob mit diesem Streifzug durch gängige Formen von Science-Fiction-Kulissen nicht auch ein wenig unser aller kleine Fluchten in immer wieder neue imaginierte Welten hinterfragt werden, aber wenn ja, dann geschieht es nicht auf zynische Art, sondern durchaus mit Verständnis für die Suche nach dem nicht aufzutreibenden Ausweg. Stärker noch schwingt aber die Reflexion über die Rolle von Kunstschaffenden mit, die – trotz aller (hier stets zeitbegrenzten) Eingebundenheit in unterschiedliche Lebenswelten – immer auch eine Außenseiter- und Beobachterposition einnehmen, die ihnen zwar ein gewisses Maß an Macht im Beschreiben und Kommentieren, vielleicht gar Aufrütteln einräumt, sie aber auch in die hilflose Lage stürzt, der Kommodifizierung und Vermarktung von Tiefempfundenem zusehen zu müssen. Auch das in Fantasy und Science Fiction nicht seltene Motiv der Auserwähltheit wird im Zuge dessen gründlich auf den Prüfstand gestellt.

Zugegeben: Eine aufmunternde und tröstliche Lektüre ist das nicht, eher eine, die einen bekümmert und nachdenklich stimmt, aber gerade auch aufgrund des geschickten Einsatzes der Ich-Erzähler-Instanz, über die man so wenig und doch so viel erfährt, eine lohnende Entdeckung abseits ausgetretener Pfade im Genre bietet.

Lena Richter: Dies ist mein letztes Lied. Wien, Verlag ohneohren, 2023 (E-Book).
ISBN: 978-3-903296-59-6


Genre: Erzählung, Roman

Von Fabelwesen und Königen

Bauernsohn Aramil hat keinen leichten Start ins Leben: Von den eigenen Eltern nicht übermäßig geliebt und gefördert, wird er früh in den Militärdienst in einem blutigen Bruderkrieg gepresst. Immerhin entdeckt er so als Trommler seine musikalische Begabung, und als er dem Gemetzel entkommen ist, erhält er mehrfach von unerwarteter Seite Hilfe dabei, seinem Leben eine neue Richtung zu geben. Doch das Dasein eines Barden, auf das er nach einer Weile hinzuarbeiten beschließt, ist strengen Regeln unterworfen und wahrlich kein Zuckerschlecken. Kann Aramil bei aller Liebe zu Gesang und Lautenspiel so wirklich den Weg zum Glück finden?

Sarah Malhus’ Debütroman Von Fabelwesen und Königen fällt in den Bereich der progressiven Phantastik: So spielen gleichgeschlechtliche Liebe, Beziehungen mit mehr als zwei Partnern und gelegentlich auch der Wunsch nach Rebellion gegen eine ungerechte Obrigkeit oder wenigstens politischen Reformen eine Rolle. Zugleich ist die Handlung aber in einer recht klassischen Kulisse angesiedelt, die atmosphärisch irgendwo zwischen Rollenspiel-Setting, europäischer Märchen- und Sagenwelt, in der selbst ein König nur ein besserer Gutsherr ist, und Mittelaltermarkt liegt. Wer eine konservative Moral leid ist, aber doch ein nostalgisches Lesegefühl mit vielen vertrauten Elementen nicht missen möchte, findet hier also eine auf seine Vorlieben zugeschnittene Mischung.

Ich-Erzähler Aramil, der – so die Rahmenhandlung – seine Lebensgeschichte episodenhaft einer Runde von Fremden am Lagerfeuer schildert, macht seinem Publikum dabei den Einstieg leicht, da er in seiner jugendlichen Naivität zunächst selbst noch einiges an Wissen über Musik, Mythologie und Fabelwesen sammeln muss. Bald aber gehen auf seinen Streifzügen durch das zerrissene Königreich Baldern diese Lehrjahre in handfeste Abenteuer über. Er begegnet nicht nur einem geheimnisvollen Müller und einem Esel mit Charakter, sondern auch einer Sirene, einem Brückentroll, Banditen, ruppigen Seeleuten, mehreren Königen und einem leibhaftigen Drachen und findet einen Mann und eine Frau, die er beide gleichermaßen lieben lernt.

Die bereits im Titel erwähnten Fabelwesen sind dank ihrer lebendigen Schilderung eine der größten Stärken des Buchs, ganz gleich, ob nun ein finsterer Nachtalb oder eine gut getarnte Trollfrau auftritt, und die Geschichte von Müller, Nöck und Mühlenkobold würde etwas länger ausgearbeitet wohl allein schon dazu taugen, einen ganzen Roman oder doch zumindest eine Novelle zu tragen.

Merklichen Spaß hat Sarah Malhus daran, die Lieder, die Aramil singt, ausführlich in Gedichtform zu präsentieren. Ohnehin spielt sie gern ein bisschen mit dem Text, wenn sich etwa in bestimmten Formulierungen schon Vorausdeutungen verstecken (wie in den Äußerungen des Ritters Berolt, bevor er später seine ganze Lebensgeschichte erzählt), Kartoffeln unter allen möglichen verschiedenen Bezeichnungen auftauchen oder am Ende Rahmen- und Binnenhandlung zusammengeführt werden.

Lektorat und Korrektorat hätten stellenweise gründlicher arbeiten können, da hier und da etwas holprige Grammatik stehen geblieben ist1, aber da das nicht zu häufig vorkommt, kann man mit gutem Willen darüber hinweglesen. Durchgehend gelungen dagegen ist die Ausstattung des Buchs mit liebevoll gestalteter Landkarte, schönem Buchsatz, kleinen Illustrationen jeweils am Kapitelende und niedlichem Esel-Daumenkino. Äußerlich nett aufgemacht ist Von Fabelwesen und Königen also auf jeden Fall, und wer leichte, lockere Fantasy sucht, findet in dem Roman auch eine entspannende und unterhaltsame Lektüre.

Sarah Malhus: Von Fabelwesen und Königen. Aus dem Leben eines Barden. Fellbach 2023, 396 Seiten.
Ohne ISBN (Crowdfunding-Taschenbuch-Ausgabe; auch als E-Book erhältlich)

  1. Beispielsweise würdig mit Dativ statt mit Genitiv; Mir verlangt es nach statt Mich verlangt es nach; uneinheitliche Deklination, den Alb aber keinen Nachtalben; Klientel wird nicht als Femininum gebraucht.

 


Genre: Roman

Die Vergebung der Sünden

Das hier besprochene Buch ist Teil einer Reihe. Die Rezension des ersten Bandes ist hier zu finden.

Pfarrer Sidney Chambers ist eigentlich mehr als ausgelastet damit, seinen Beruf und das Familienleben mit Ehefrau Hildegard und Töchterchen Anna unter einen Hut zu bringen, aber der nächste Kriminalfall, in dem sein Scharfsinn als Ermittler gefragt ist, findet ihn ganz ohne sein Zutun: In Grantchester erscheint völlig aufgelöst ein Musiker und bittet um Kirchenasyl. Angeblich ist er am Morgen in einem Hotelzimmer neben seiner offenkundig erstochenen Ehefrau erwacht, kann sich aber nicht erinnern, ob er sie getötet hat oder nicht. Als Sidney und sein alter Freund, Inspector Geordie Keating, den vermeintlichen Tatort in Augenschein nehmen, erwartet sie eine Überraschung, denn von einer Leiche oder anderen Hinweisen auf eine Bluttat fehlt jede Spur. Nach einigen Verwicklungen wird aber tatsächlich eine Frau aus dem Umfeld des Musikers tot aufgefunden – allerdings nicht die, mit der er verheiratet ist …

Die Vergebung der Sünden ist natürlich ein Thema, das einen Geistlichen immer beschäftigen sollte, aber nicht jeder trägt so engagiert wie Sidney Chambers dazu bei, dass eine weltliche Sühne erfolgt. Wie gewohnt erzählt James Runcie auch in diesem Band um den Kirchenmann als Detektiv eine Reihe mehr oder minder in sich abgeschlossener Fälle, die durch eine gut zwei Jahre umspannende Hintergrundhandlung um Sidneys Privatleben und die beruflichen Veränderungen (samt Umzug), die eine Beförderung für ihn mit sich bringt, zusammengehalten werden. Typische Krimis sind nicht alle der sechs Geschichten: So geht es nur manchmal primär um die Aufklärung eines Mordes oder sonstigen Verbrechens, während in anderen Fällen relativ schnell klar ist, was sich abgespielt hat, und die sich daraus ergebende Situation bewältigt werden muss. Die Themen sind dabei in diesem Band ziemlich düster, so dass einem einige der Episoden sehr an die Nieren gehen. Beispielsweise werden Sidney und Hildegard zu einem Jagdwochende eingeladen, bei dem sich die Gastgeberin als Opfer häuslicher Gewalt erweist, aufgrund ihrer streng katholischen Überzeugungen aber gar nicht aus ihrer fürchterlichen Ehe ausbrechen will. An anderer Stelle geht es um sexuellen Missbrauch an einer Privatschule und die verheerenden Folgen des von allen, die etwas unternehmen könnten, lange totgeschwiegenen Systems. Auch aufgrund trauriger Parallelen in der Realität lesen sich diese Passagen noch weitaus verstörender als der recht spektakuläre Mord, bei dem ein Mann von seinem eben in Anlieferung befindlichen Konzertflügel erschlagen wird.

Sidneys Freundschaft mit Geordie tritt in diesem Band etwas in den Hintergrund. Für Frotzleien, die fließend in echte Kritik übergehen, ist nun eher Hildegard zuständig, die durch ihren Beruf als Pianistin und Klavierlehrerin auch einen der Anknüpfungspunkte für die immer wieder eingeflochtenen Exkurse in Kunst und Kultur bildet. Mit thematisch etwas anderem Schwerpunkt gilt das auch für Sidneys alte Freundin, die Kunsthistorikerin Amanda Kendall. Diese erhält nicht nur Drohbriefe und arrangiert eine Bildungsreise nach Florenz, auf der Sidney unter Diebstahlsverdacht gerät, sondern feiert auch ihre Hochzeit, was Sidney mit der Frage konfrontiert, ob er nicht doch noch mehr für sie empfindet, als es sich für einen verheirateten Mann eigentlich gehört. Die Figuren schon aus früheren Geschichten zu kennen, ist übrigens ganz hilfreich, da James Runcie mit den Charakterisierungen eher sparsam bleibt und nicht unbedingt ausführlich rekapituliert, wie bestimmte Konstellationen zustandegekommen sind.

Gewünscht hätte man dem Band ein gründlicheres inhaltliches Lektorat, weil hier und da kleine Kontinuitätsfehler auftreten (z. B. scheinen Sidney mehrfach Informationen, über die er schon verfügt, zu entfallen, ohne dass dies als absichtliche Schilderung von Vergesslichkeit oder Unaufmerksamkeit kenntlich gemacht wäre, und Amanda wird auch Monate nach ihrer Hochzeit von Bekannten noch als „Miss Kendall“ angesprochen). Stilistisch liest sich die Übersetzung von Renate Orth-Guttmann aber angenehm, und auch insgesamt bildet die Mischung aus Spannung, Sozialkritik, Humor und philosophischen Momenten keine schlechte Lektüre, obwohl es schöner gewesen wäre, wenn Runcie manchen seiner Figuren mehr Raum gelassen hätte, sich zu entfalten.

James Runcie: Die Vergebung der Sünden. Sidney Chambers ermittelt. 2. Aufl. Hamburg, Atlantik (Hoffmann und Campe), 2020, 368 Seiten.
ISBN: 978-3-455-00548-6

 

 


Genre: Anthologie, Erzählung, Roman

Wilde Wasser

Aufgrund seines riskanten Vorgehens im Kampf gegen die Drogenkriminalität ist Armand Gamache degradiert worden und arbeitet nun wieder bei der Mordkommission. Für Vermisstenfälle ist er eigentlich gar nicht zuständig, aber mit einem ganz speziellen befasst er sich dennoch, da es um eine gute Bekannte der Polizistin Lysette Cloutier geht: Die junge Vivienne ist verschwunden, und es steht zu befürchten, dass ihr gewalttätiger Mann sie umgebracht hat. Die Suche wird davon erschwert, dass eine Flutkatastrophe den gesamten kanadischen Osten bedroht. Ausgerechnet im kleinen Fluss Bella Bella, der in Gamaches Wohnort Three Pines demnächst über die Ufer treten könnte, wird dann auch tatsächlich Viviennes Leiche gefunden. Eigentlich wirkt offensichtlich, was passiert ist, aber es kommt zu Ermittlungspannen, und bald muss Gamache sich auch noch mit harscher Kritik in den sozialen Medien herumschlagen. Als wäre das nicht schon schlimm genug, steht nach einer Weile eine ganz andere Frage im Raum: Kann er sich dieses Mal wirklich auf alle Mitglieder seines Teams verlassen, oder hat nicht vielleicht jemand etwas Entscheidendes zu verbergen?

Wilde Wasser, der fünfzehnte Band von Louise Pennys Reihe um Armand Gamache, ist gewohnt spannend geschrieben, aber im Grundton noch ein gutes Stück düsterer als bisher. Mit häuslicher Gewalt insbesondere gegen Frauen und dem Schaden, den Influencer und Social-Media-Kampagnen anrichten können (wobei dem überbordenden Onlinehass nicht allein Gamache, sondern in einem anderen Kontext als er auch seine Bekannte, die Künstlerin Clara Morrow, ausgesetzt ist), stehen zwei sehr traurige Themen im Mittelpunkt, und ergänzt um die in der Serie ohnehin mal mehr, mal minder präsente Drogenproblematik, neuerliche Polizeiintrigen gegen den gebeutelten Protagonisten, die Bedrohung durch die Flut und die Tatsache, dass Gamaches Schwiegersohn und alter Weggefährte Jean-Guy Beauvoir nicht nur den Polizeidienst, sondern auch noch gleich das Land zu verlassen gedenkt, gibt es hier nicht viele Lichtblicke.

Ein Hauch von Humor ist zwar auch in Wilde Wasser vorhanden, aber viele der Gags sind aus den bisherigen Bänden der Reihe aufgewärmt (etwa der, dass die Ente Rosa schneller als ihre Besitzerin, die alte Dichterin Ruth Zardo, zu bemerken pflegt, ob sie Alkohol zu trinken bekommen oder nicht), und das witzige Geplänkel der Dorfbewohner, das sonst oft die Atmosphäre trägt, nimmt insgesamt nur wenig Raum ein. Auch fragt man sich, warum Gamache im Zuge der Flutkatastrophe wieder einmal halb Kanada retten muss, obwohl er auf seinem neuen alten Posten bei der Mordkommission dafür eigentlich nicht zuständig sein sollte. Hier drängt sich doch der Verdacht auf, dass Louise Penny, weil in früheren Bänden teilweise so viel auf dem Spiel stand, unbedingt wieder einmal eine gewaltige Bedrohung von nationaler Tragweite heraufbeschwören muss, obwohl sie auf einem anderen Gebiet viel besser ist.

Denn der eigentliche Fall und die Entwicklungen innerhalb des Ermittlerteams zeigen, dass Pennys Stärke neben dem viel zu kurz kommenden Humor darin liegt, komplexe Figuren zu entwickeln und die Schwierigkeiten, ja Abgründe zwischenmenschlicher Beziehungen auszuloten. Der sozialkritische Aspekt, der ohnehin oft bei ihr mitschwingt, ist hier besonders prononciert, und nicht zum ersten Mal in der Serie geht es darum, dass auch die Polizei fehlbar ist, in ihren Ermittlungshypothesen ebenso wie in ihrem Verhalten abseits des Diensts.

Insgesamt ist Wilde Wasser (übrigens ein Titel, der, wenn man die noch nicht angepasste Danksagung zugrundelegt, auf Deutsch wohl zunächst Frühlingsfluten lauten sollte) also recht deprimierend, aber kein schlechter Roman. Wer an den Krimis aus Three Pines die gemütlichen Stunden im Bistro, die menschliche Wärme, den Witz und den Blick zurück in die Geschichte schätzt, bekommt hier allerdings weit weniger von dem, was er mag, als in den früheren Bänden.

Louise Penny: Wilde Wasser. Der 15. Fall für Gamache. Zürich, Kampa, 2022, 544 Seiten.
ISBN: 978-3-311-12034-6


Genre: Roman

Heimkehr zu ihr

Die Chicagoer Ärztin Karen hat den Tod ihrer Frau noch kaum verwunden, tut aber ihr Bestes, ihrem kleinen Sohn Nick auch als Alleinerziehende eine gute Mutter zu sein. Körperliche Einschränkungen aufgrund eines Hüftleidens und ein stressiger Arbeitsalltag machen ihr das Leben nicht leichter. Da verspricht die Einladung zur Eröffnung der Kunstgalerie ihrer alten Schulfreundin Janet in San Francisco etwas Abwechslung. Zunächst lässt sich der Aufenthalt in der liberalen und weltoffenen Stadt gut an, und der Urlaub bei Janet und ihrem Mann Brad ist idyllisch. Doch in San Francisco wohnt auch Karens alte Liebe Kaylee. Als die beiden sich unverhofft wiedersehen, zeigt sich , dass längst noch nicht alle Gefühle zwischen ihnen erkaltet sind. Aber dann wirbelt ein tragischer Unfall das neu entstandene Beziehungsgeflecht um Karen gründlich durcheinander und zwingt sie, sich die Frage zu stellen, was sie wirklich empfindet – und für wen …

Jutta Swietlinskis Heimkehr zu ihr ist eine ungewöhnlicher Liebesroman, und das nicht nur, weil Ich-Erzählerin Karen – eine gestandene Frau über 40, die auch die Schattenseiten des Lebens zur Genüge kennt – wenig mit der typischen jugendlichen Heldin gemein hat. Zwar liest sich die Geschichte leicht weg und enthält von großen Gefühlen nicht ohne Pathos bis hin zu expliziten erotischen Szenen alles, was man aus dem Genre gewohnt ist, aber die Handlung folgt keiner starren Formel, sondern schildert eher, wie Karen inmitten teilweise dramatischer Ereignisse mit sich selbst und ihrem jeweiligen Verhältnis zu zwei sehr unterschiedlichen Menschen ins Reine kommt. Auch als schon klar ist, für wen Karen, deren Nachname „Winner“ angesichts der vielen großen und kleinen Katastrophen, mit denen sie fertigwerden muss, ironisch wirkt, sich entscheidet, nimmt Jutta Swietlinski sich die Zeit, die Geschehnisse ganz allmählich ausklingen zu lassen.

Dabei ist Liebe in Heimkehr zu ihr nicht unbedingt etwas Einfaches und Klares: Ob Sympathie und körperliches Begehren allein ausreichen oder nicht vielmehr eine bestimmte Form von Vertrauen und Verständnis eine viel größere Rolle spielt, wird ausgelotet, und auch die Auswirkungen von Schuldgefühlen auf eine Beziehung sind nicht ohne Bedeutung. Auch sonst entspricht Karen nicht unbedingt dem Klischee: Zwar liebt sie Frauen, aber schrille Pride-Paraden und alles, was damit einhergeht, sind für sie – anders als für die forsche Kaylee – nicht das Wahre.

In mehreren Passagen wird auf zwei Zeitebenen erzählt: Ohne Karens von der Freundschaft mit Janet geprägte Jugend ist ihre Gegenwart nicht verständlich, und so wird verflochten mit der Jetztzeit des Romans Stück für Stück enthüllt, wie die beiden sich kennenlernten, ein gemeinsames Lieblingsmusical entdeckten, einen Trauerfall bewältigten und miteinander erwachsen wurden – aber auch, was sie auseinanderbrachte und bisher nicht aufgearbeitet ist. Auch die frühere, von Sinnlichkeit geprägte Beziehung zwischen Karen und Kaylee wird in Rückblicken beleuchtet.

Angesichts all der ernsten Themen, die im Roman behandelt werden und einem durchaus an die Nieren gehen können, ist es gut, dass hier und da ein Funke von Humor in Karens Erzählperspektive aufblitzt und mit dem niedlichen Nick und einigen kulinarischen Genüssen – an Pizza herrscht kein Mangel! – ein Ausgleich geboten wird. Am Ende jedenfalls überwiegt das Tröstliche, und eine Lektüre abseits des Gewohnten und schon vielfach Gelesenen ist Heimkehr zu ihr ohnehin.

Jutta Swietlinski: Heimkehr zu ihr. Fulda 2020, E-Book; auch als Taschenbuch (522 Seiten) erhältlich.
ISBN der Printausgabe: 979-8-6256-0214-3


Genre: Roman

Der Trümmermörder

Im Januar 1947 haben Hunger und Kälte das zerbombte Hamburg fest im Griff, und auch Gewalt ist in der von Jahren des Kriegs und der Terrorherrschaft verrohten Gesellschaft nichts Ungewöhnliches. Oberinspektor Frank Stave hat schon einiges gesehen, doch als eine vollkommen nackte junge Frau erdrosselt auf einem Trümmergrundstück gefunden wird, ist selbst er entsetzt. Der Fall ist ungewöhnlich genug, die Besatzungsmacht zu interessieren, und so wird ihm neben dem Polizisten Maschke vom Sittendezernat auch der britische Offizier MacDonald zugeteilt, um die Ermittlungen zu unterstützen. Aber wie soll man ein Verbrechen aufklären, bei dem nicht nur die Identität des Täters, sondern auch die des Opfers ein völliges Rätsel ist? Als nach und nach drei weitere Tote gefunden werden, die auf die gleiche Art ums Leben gekommen zu sein scheinen, steigt der Druck auf Stave, eine Lösung zu präsentieren. So lässt er sich auf ein riskantes Spiel ein, um den Mörder aus der Deckung zu locken, und erkennt erst viel zu spät, dass er sich damit selbst in Lebensgefahr bringt …

Cay Rademacher ist derzeit vor allem mit seinen Provence-Krimis erfolgreich, aber der erste Teil seiner schon früher erschienenen dreibändigen Reihe um den Ermittler Frank Stave im Hamburg der Nachkriegszeit braucht sich hinter den neueren Büchern nicht zu verstecken und zeichnet sich ebenso wie sie durch gute Ortskenntnis und genaue Recherche aus. Gerade das trägt dazu bei, dass man bei der Lektüre des Trümmermörders ein schlechtes Gewissen nicht ganz abschütteln kann: Die grausige Geschichte orientiert sich eng an einem historischen Fall, und anders als im Roman kam in der Realität nie ans Tageslicht, um wen es sich bei den Opfern handelte und wer sie getötet hatte. Dass so gewissermaßen mittelbar das entsetzliche Schicksal echter Menschen zur Unterhaltung dient, ohne dass man je erfahren wird, was es wirklich mit ihnen auf sich hatte, kann durchaus ein Schaudern auslösen, das man bei einem rein fiktiven Mord nicht empfinden würde.

Verdrängt man dieses Unbehagen jedoch weit genug, um sich auf das Buch einzulassen, findet man packende Krimilektüre, die sich vor allem durch ihre atmosphärische Darstellung einer schwierigen Übergangsphase auszeichnet. Nazizeit und Krieg sind zwar vorüber, wirken aber noch fort. Alle handelnden Personen leiden unter dem Erlebten, ob nun der aus dem englischen Exil zurückgekehrte jüdische Staatsanwalt Albert Ehrlich, der einen oft aussichtslos scheinenden Kampf um die Aufarbeitung der Barbarei der vergangenen Jahre führt, die rätselhafte Zeugin Anna von Veckinhausen, die sich nach ihrer Flucht aus Ostpreußen als Plünderin in der Trümmerlandschaft durchschlägt, oder Stave selbst, der nicht nur lange vergeblich das Schicksal seines im Krieg verschollenen Sohns aufzuklären versucht, sondern sich auch mit seiner eigenen Rolle im NS-Regime auseinandersetzen muss: Zwar war er kein überzeugter Nazi, aber zur Zeit der Novemberpogrome hat er doch lieber vor seinen Vorgesetzten gekuscht, als seinem Gewissen zu folgen. Im weiteren Verlauf der Ermittlungen spielt zudem das – allerdings wie die Trümmermorde mit etwas dichterischer Freiheit behandelte – Massaker von Oradour-sur-Glane eine entscheidende Rolle.

Der Kriminalfall selbst ist spannend aufgebaut und bietet eine durchaus stimmige Erklärung für die im wirklichen Leben bis heute rätselhafte Mordserie. Dabei hat er etwas Kammerspielhaftes, denn die Zahl der eingeführte Personen (und damit auch, den Genrespielregeln folgend, der möglichen Verdächtigen) bleibt überschaubar, so dass aus Lesersicht schneller als für Stave zu ahnen ist, in welchen Kreisen sich der Schuldige verbergen könnte. Das nimmt dem dramatischen Finale aber nichts von seiner Bedrohlichkeit, und lesenswert ist diese Mischung aus Krimi und historischem Roman auf jeden Fall.

Cay Rademacher: Der Trümmermörder. Kriminalroman. 10. Aufl. Köln, DuMont, 2014, 346 Seiten.
ISBN: 978-3-8321-6154-5

 


Genre: Roman