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Die Taleswood Inn Chroniken

Zwischen Frauenwohnheim und stumpfsinnigen Schreibaufträgen bietet der Alltag der jungen Clara Brennan im Großstadtgrau wenig Abwechslung, bis sie unversehens das Haus ihrer Großmutter im ländlichen Ivymoore erbt. Allerdings entpuppt sich ihre neue Bleibe als tief im Wald gelegenes Gebäude mit eigenem Willen und einigen Besonderheiten, dient es doch als Herberge für andersweltliche Wesen aller Art. Den menschlichen Bewohnern des forstwirtschaftlich geprägten Ivymoore ist das gar nicht recht, da die Rolle des Waldes als Rückzugsort des Übernatürlichen sie daran hindert, den Holzeinschlag noch weiter voranzutreiben. So hat Clara von Anfang an einen schweren Stand, und dass sie zudem noch den lästig attraktiven Ben Sheridan als Mitbewohner aufnehmen muss, obwohl in ihrem emanzipierten Lebensentwurf eigentlich kein Platz für einen Mann ist, macht die Sache nicht einfacher. Immerhin findet sie mit der Zeit Verbündete wie den freundlichen Krämer Finnegan und die zupackende Geisterfrau Betty. Als sich dann aber herausstellt, dass es bei der Feindseligkeit der Ortsansässigen nicht mit rechten Dingen zugeht und Clara auch nicht all ihren Gästen über den Weg trauen kann, ist voller Einsatz von ihr gefordert, um das Taleswood Inn und den Wald zu retten.

Die Taleswood Inn Chroniken von Eileen Kohnle sind ein lockeres und schwungvolles Fantasyabenteuer, das in einer an das frühe zwanzigste Jahrhundert angelehnten Welt angesiedelt ist. Von den überwiegend englischen Personen- und Ortsnamen sollte man sich nicht täuschen lassen, denn die übernatürlichen Gestalten in und um das Taleswood Inn entstammen vielfach der deutschsprachigen Sagenwelt. So treten etwa Roggenmuhmen und Bergmönche auf, und eine kleine Anspielung am Rande lässt ahnen, dass auch die Brüder Grimm einiges an Inspiration geliefert haben. In einem modernen, bisweilen auch umgangssprachlichen Stil gehalten, der sich flott wegliest, bietet der kurze Roman neben Spannung, schräger Fantasy und Gruselelementen auch viel Humor, der sich dank der Quellenfiktion, dass man es hier mit Clara Brennans später umgearbeitetem Tagebuch zu tun hat, nicht zuletzt in allerlei amüsanten Fußnoten und direkten Wendungen ans Lesepublikum niederschlägt.

Eileen Kohnle schreibt mit viel Sympathie für ihre in ständige Kabbeleien verstrickten Hauptfiguren, die neugierig genug machen, um ein längeres Buch zu verdienen (sowohl Bens Vergangenheit als auch die eher düsteren Aspekte von Claras Kindheit werden nur angedeutet, und man wünscht sich hier und auch in anderen Fällen, nähere Einzelheiten zu erfahren). Vielleicht darf man aber hoffen, darüber in Zukunft noch mehr lesen zu können, da Die Taleswood Inn Chroniken offenbar kein Einzelband bleiben sollen. Denn obwohl eine mehr oder minder in sich abgeschlossene Episode erzählt wird, sind am bittersüßen Ende noch manche Fragen nach den Hintergründen der geschilderten Vorgänge offen, und der Epilog ist ein eindeutiger Aufhänger für eine Fortsetzung.

Auf die kann man durchaus gespannt sein, denn es macht schon in diesem Band Spaß, wie leichtfüßig und unbeschwert die Autorin einen Streifzug durch die unterschiedlichsten Winkel von Sagen und Märchen sowie Volks- und Aberglauben unternimmt, um dieses Material augenzwinkernd mit allerlei witzigen Einfällen zu kombinieren: Wie trinkt z. B. ein Bergmönch Tee, womit bezahlt man auf einem andersweltlichen Zaubermarkt, und wie spricht ein kopfloser Reiter, wenn ihm doch die Anatomie dafür fehlt? Die nicht auf den Mund gefallenen Ich-Erzählerin Clara (die sogar in der Danksagung der Autorin noch mitmischen darf) bei der Lösung dieser Rätsel zu begleiten, dürfte Jugendlichen und Erwachsenen gleichermaßen Vergnügen machen, wenn ein unterhaltsames Buch gesucht ist, das sich gut in einem Rutsch durchlesen lässt und eine kleine Flucht mitten hinein in Spuk und Zauber gestattet.

Eileen Kohnle: Die Taleswood Inn Chroniken. Bad Dürrheim 2022, 192 Seiten.
ISBN: 978-3-00-072928-7


Genre: Roman

Geheimnisvolle Garrigue

Der Beginn der Corona-Pandemie in Frankreich stellt das Leben in der Provence gerade gehörig auf den Kopf, als Capitaine Roger Blanc es mit einer Vermisstenmeldung zu tun bekommt: Laetitia Fabre, die Freundin seines Untergebenen Yves-Laurent Sylvain ist verschwunden, allerdings nicht spurlos, wie sich bald herausstellt. In der Nähe eines seit langer Zeit nicht mehr genutzten, teilweise eingestürzten Kanaltunnels werden ihr Fahrrad und ihr linker Schuh gefunden. Das weckt Erinnerungen an ein ungeklärtes Verbrechen, das vor über zwanzig Jahren die Region in Atem hielt: Damals verschwanden in rascher Folge vier junge Frauen, von denen jeweils nichts als ein linker Schuh wieder auftauchte. Hat etwa der nie gefasste Serienkiller nach langer Pause erneut zugeschlagen? Dass einer der damaligen Verdächtigen sich am Kanal zu schaffen macht, passt fast schon zu gut zu dieser Theorie, und mit dem geheimnisvollen Obdachlosen Hervé Guérini tritt bald ein weiterer Mensch mit Verbindungen zu den damaligen Verbrechen auf den Plan. Doch auch Laetitias Familie verhält sich eigenartig, und sogar Sylvain scheint nicht die ganze Wahrheit zu sagen. So dauert es nicht lange, bis eine äußerst unschöne Vermutung im Raum steht …

Geheimnisvolle Garrigue bietet das, was man von Cay Rademachers Provence-Krimis gewohnt ist: Spannende Ermittlungen vor einer kenntnisreich und mit viel Liebe zu Land und Leuten geschilderten Kulisse. Eines ist aber diesmal anders als sonst, denn die Corona-Pandemie ist mit ihrem anfänglichen Maskenmangel und den vielen Fehlinformationen, die in dieser frühen Phase noch im Umlauf sind, nicht nur Beiwerk der Geschichte, sondern übt durch den in Frankreich weitaus strenger als in Deutschland mit echten Ausgangssperren durchgesetzten Lockdown beträchtlichen Einfluss aufs Geschehen aus. Einerseits sind viele Menschen plötzlich in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt, andererseits haben aber diejenigen, die sich am Rande der Gesellschaft (oder ganz außerhalb von Recht und Gesetz) bewegen, plötzlich neue Spielräume. Insbesondere in der Garrigue, der wilden provenzalischen Heidelandschaft, kann man nun plötzlich sehr lange unentdeckt bleiben, und das wird natürlich ausgenutzt, birgt aber auch Gefahren, wie das dramatische Finale beweist.

Das Lektorat hätte bei einzelnen Details gründlicher sein können (heißt Guérinis verstorbene Frau nun Marie oder Christine?), und ein großes Fragezeichen bleibt auch hinsichtlich der alten Mordserie. Wenn der Täter damals innerhalb weniger Wochen immer wieder an derselben Stelle einen Schuh seines jeweiligen Opfers hinterließ, warum ist die Polizei offenbar damals nicht darauf gekommen, den Kanal in der Nähe des Tunneleingangs lückenlos observieren zu lassen (wie Blanc es in der Romangegenwart dann tatsächlich anordnet)? Hier wünscht man sich dann doch einen etwas zwingenderen Grund für das Scheitern der damaligen Ermittlungen als den, dass die Handlung es eben erfordert.

Sieht man darüber aber hinweg, wird einem ein packender Roman geboten, der einige unerwartete Wendungen bereithält und sich dadurch, dass einer der Polizisten selbst unter Verdacht gerät und dass die Verbrechen in der Vergangenheit mindestens ebenso wichtig sind wie der in der Gegenwart zu lösende Fall, vom Handlungsmuster eines Durchschnittskrimis abhebt. Auch unabhängig davon werden alle Südfrankreichfans sicher ihre Freude daran haben, die detailliert geschilderten Orte literarisch aufzusuchen, worauf man sich bei einem von ihnen auch tunlichst beschränken sollte – denn von einem realen Besuch des unheimlichen Kanaltunnels rät Cay Rademacher in seiner Nachbemerkung (verständlicherweise) ab.

Cay Rademacher: Geheimnisvolle Garrigue. Ein Provence-Krimi mit Capitaine Roger Blanc. Köln, Dumont, 2022, 430 Seiten. 978-3-8321-8186-4

 


Genre: Roman

Kurs Südmeer

Die Piratenkapitänin Elissea hat im Streifgebiet einer Rivalin gewildert und nun mit dieser reichlich Ärger, aber die Beute war so mager, dass die Mannschaft aufmüpfig wird – und wie das enden kann, weiß Elissea, selbst einst durch eine Meuterei an die Spitze der Schiffsbesatzung gelangt, nur zu genau. Abhilfe schaffen könnte ein erfolgreicher Überfall. Tatsächlich scheint das Glück ihr hold zu sein, denn das nächste Schiff, das sie kapert, hat Passagiere an Bord, für die Elissea ein Lösegeld zu erpressen hofft: die Adlige Sabella, die unterwegs zu dem Mann ist, mit dem sie eine arrangierte Ehe eingehen will, ihre zumeist in romantischer Lektüre versunkene Zofe Geronita und den nach einer wilden Jugend fromm gewordenen Missionar Pericomo. Doch schon droht neues Ungemach, denn nicht alle Piraten sind einverstanden damit, dass Elissea ausgerechnet einen Geistlichen als Geisel genommen hat, und zudem ruft die Entführung der drei Pechvögel Sabellas Verlobten (und in Personalunion Pericomos Cousin), den Marinekapitän Dragio, auf den Plan …

Marie Mönkemeyers Roman Kurs Südmeer ist in der Welt des Rollenspiels Das Schwarze Auge angesiedelt, aber auch ohne entsprechende Vorkenntnisse problemlos zu verstehen (bei unbekannten Begriffen hilft ein Glossar weiter). Die leichtfüßige und bisweilen selbstironische Abenteuerkomödie bietet Piratenunterhaltung mit filmisch raschen Szenenwechseln und lässt sich auch fast so schwungvoll wie ein Streifen à la Fluch der Karibik verschlingen. Von Rum über Kämpfe und das Ringen mit den Naturgewalten bis hin zu einer einsamen Insel ist hier so gut wie alles dabei, was in eine Seefahrergeschichte gehört (bloß der eigentlich noch zu erwartende Krake hat es nur in den Lieblingsfluch der Kapitänin und nicht in eine tragende Rolle geschafft).

Dennoch sind diese Elemente nicht das zentrale Thema des Romans, sondern eher vergnügliches Beiwerk. Primär geht es im Großen wie im Kleinen um die Erkenntnis, dass das, was einem im Leben (vermeintlich) Halt gibt – ob nun gesellschaftliche Konventionen, Unterhaltungsliteratur, religiöse Maximen oder schlicht das Streben nach einem besseren Dasein –, allein noch lange nicht ausreicht, um einem in jeder Situation als Kompass zu dienen. Die durchaus nicht unsympathsichen Hauptfiguren müssen alle lernen, sich selbst und ihre Überzeugungen zu hinterfragen und sich auf Neues einzulassen. Am liebevollsten sind dabei sicher Pericomo und Elissea ausgearbeitet, aber auch Sabella, Geronita und sogar Dragio dürfen jeweils eine kleine Entwicklung durchmachen und haben am Ende etwas hinzugelernt.

Der Stil ist modern, locker und gerade in der wörtlichen Rede ziemlich umgangssprachlich, die Geschichte selbst kurz und abwechslungsreich, so dass sie sich auch für alle eignet, die langen Romane eher skeptisch gegenüberstehen. Trotz aller ernsten Untertöne (so werden traumatische Erfahrungen, Armut, Gewalt, Sklaverei und Tod nicht ausgeblendet) lebt das Buch vor allem von seinem Humor. Marie Mönkemeyer hat ein gutes Gespür für Situationskomik und schwelgt manchmal geradezu in lustigen Szenen (so z. B., wenn ein Mitglied der Piratenmannschaft zum Gaudium der anderen aus einem Geronita abgenommenen Piratenroman vorliest, der mit der Realität wenig zu tun hat). Doch Witz steckt auch in manchen Formulierungen, nicht nur im Roman selbst sondern sogar in der Personenliste (taucht dort ein „lieber anonym bleibender Freibeuter“ auf, ahnt man schon, dass es amüsant wird).

Um für ein paar Stunden innerlich abzuschalten und dem Alltagstrott zu entfliehen, ist Kurs Südmeer also gut geeignet, und man könnte das durchaus in schlechterer Gesellschaft als der Elisseas und ihrer Piraten und Gefangenen tun.

Marie Mönkemeyer: Kurs Südmeer. Ein Roman in der Welt von Das Schwarze Auge. Waldems, Ulisses Spiele, 2017, E-Book (auch als Printausgabe erhältlich).
ISBN: 978-3-95752-938-1


Genre: Roman

Bretonische Nächte

Kommissar Dupin hat sich als Zugezogener in der Bretagne schon mit einigen lokalen Merkwürdigkeiten auseinandersetzen müssen, aber was er jetzt erlebt, geht ihm doch zu weit: Joëlle, die kerngesunde, wenn auch betagte Tante seines Mitarbeiters Inspektor Kadeg, hat angeblich Vorzeichen für ihren nahenden Tod gesehen, und nun sind alle überzeugt, dass ihr Schicksal besiegelt ist. Dupin hält den Aberglauben für lächerlich. Als aber Joëlle kurz darauf tatsächlich stirbt und auch noch Kadeg auf ihrem idyllischen Anwesen niedergeschlagen wird, muss er sich damit auseinandersetzen, dass hier vielleicht doch etwas nicht mit rechten Dingen zugeht, wenn auch auf sehr irdische Art. Wer könnte hinter dem lebensgefährlichen Angriff auf den Inspektor stecken – die lieben Verwandten, die ihm seinen Anteil am Erbe neiden, der Gärtner, der seine Geheimnisse hat, oder doch nur irgendein Fremder, der darum wusste, dass sich ein Einbruch hier hätte lohnen können? Dann aber häufen sich Indizien dafür, dass Joëlle nicht an Altersschwäche gestorben ist, und alles erscheint noch einmal in ganz neuem Licht …

Der Krimi Bretonische Nächte ist der elfte, in dem Jean-Luc Bannalec (alias Jörg Bong) seinen Helden Kommissar Dupin in der Bretagne ermitteln lässt, aber nicht der beste der Reihe. Wie gewohnt wird hier routiniert alles geboten, was den Reiz von Bannalecs Bretagnekrimis ausmacht: viel Lokalkolorit, schwelgerische Landschaftsbeschreibungen, kulinarische Genüsse und reichlich Aufmerksamkeit für Kunst, Kultur und Historisches. Allerdings ist der eigentliche Kriminalfall nicht besonders spannend. Man ahnt rasch, wer für den Angriff auf Kadeg und auch für den Tod seiner Tante, der sich natürlich als Mord herausstellt, verantwortlich sein könnte, aber das Motiv für diese Taten (und eine, die noch folgt) ist eher schwach. Wer die Bücher vor allem liest, um sich auf unterhaltsame Art mit Besonderheiten der Bretagne zu beschäftigen, wird jedoch sicher durchaus seine Freude haben und in diesem Fall vor allem etwas über Apfelanbau und Cidre, die Comicfigur Bécassine und den ausgestorbenen Riesenalk erfahren.

Aber die Geschichte, in die diese hübschen Details eingebettet sind, vermittelt einem doch etwas das Gefühl, nach dem mittlerweile vertrauten Schema heruntergeschrieben zu sein, um das alljährliche Buch veröffentlichen zu können. Zu dem Eindruck trägt wohl auch bei, dass manche der wiederkehrenden Figuren nur noch bloße Rollen zu erfüllen scheinen, statt voll ausgearbeitete Charaktere zu sein (so ist Dupins Mitarbeiter Riwal hier schlicht das wandelnde Lexikon zu allen Bretagnefragen, ohne darüber hinaus viel Persönlichkeit erkennen lassen zu dürfen, und seine Kollegin Nevou wenig mehr als ein Name). Immerhin ergibt sich zum Ausgleich eine Weiterentwicklung im Privatleben des kaffeeliebenden Kommissars, und ein schlechtes Buch sind die Bretonischen Nächte trotz allem nicht, aber doch eines, bei dem man sich die Frage stellt, ob der Zauber der Bretonischen Verhältnisse sich wirklich auf unbegrenzt viele Bände ausdehnen lässt.

Jean-Luc Bannalec: Bretonische Nächte. Kommissar Dupins elfter Fall. Köln, Kiepenheuer & Witsch, 2022, 330 Seiten.
ISBN: 978-3-462-05403-3


Genre: Roman

Böse Saat

Eigentlich könnte es in der Polizeidienststelle in der Payton Lane in Sedgefield recht beschaulich zugehen: Den täglichen Betrieb bestimmen unaufklärbare Diebstähle von Weihnachtsbäumen und Blumenerde aus dem örtlichen Supermarkt, die polizeieigenen Meerschweinchen sind immer wieder für einen Lacher gut, und die größte Gefahr für den Seelenfrieden von DCI Liam Woodhouse scheint von den esoterisch angehauchten Teambuilding-Veranstaltungen auszugehen, an denen er gezwungenermaßen teilnimmt.

Doch dann geschieht in einer luxuriösen Wohnanlage ein Mord. Zunächst ist völlig rätselhaft, warum jemand den harmlos wirkenden Ingenieur Ethan Baine erschossen hat, doch in dem Haus, in dem er getötet wurde, geht allerlei Seltsames vor.  Was hat es mit der geheimnisvollen Antonia auf sich, die dort einen Geist gesehen haben will? Welche Rolle spielt der undurchsichtige Portier? Was belastet die kleine Halinda, deren Verhalten immer auffälliger wird? Und warum benimmt der hochrangige Polizist Rakers sich plötzlich anders als gewohnt?

Gemeinsam mit Joanna Bloom, die eigentlich viel lieber ihrem friedlichen Streifendienst nachgehen würde, und dem willensstarken Organisationstalent Mailin Stump beginnt Woodhouse zu ermitteln, tappt aber im Dunkeln, bis er von seinem pensionierten Vorgänger Rhymer erfährt, dass es womöglich eine Verbindung zu einem nie gelösten Fall gibt: Vor Jahren wurde der kleine Archie Wells ermordet, und Rhymer hat am Fundort der Leiche eine Beobachtung gemacht, die keiner ernstnehmen wollte. Aber kann das, was er gesehen haben will, wirklich stimmen, oder redet er sich in seiner Besessenheit von dem lange zurückliegenden Vebrechen nur etwas ein? Wenn Woodhouse sich darauf einlassen will, Rhymers Verdacht zu überprüfen, muss er viel riskieren …

Wer schon einmal einen Krimi von Christian Wagnon gelesen hat, weiß, was ihn erwartet: eine Kombination aus einem liebevoll ausgemalten Setting, lebendigen Charakteren mit Ecken und Kanten und kompromissloser Härte, was die eigentlichen Kriminalfälle betrifft. Die Verbrechen in Wagnons Büchern gehen einem unweigerlich an die Nieren, und Böse Saat bildet diesbezüglich keine Ausnahme. Die humorvoll geschilderten kleinen und großen Alltagssorgen des Ermittlerteams – von den Meerschweinchenabenteuern im Hintergrund über die Folgen einer etwas überhöhten Dosis Likör bei einer heiklen Abendeinladung bis hin zum ständigen Ungeschick des Hilfspolizisten Parker – bilden zwar einen heiteren Ausgleich dazu, aber wer angesichts dessen auf eine entspannte Cozy-Crime-Geschichte hofft, in der bis auf einen Mord an sich nichts weiter Verstörendes geschieht, hat mit Böse Saat wirklich das falsche Buch erwischt.

Das anhand von Woodhouse’ Vorgänger Rhymer ausgearbeitete Motiv des Ermittlers, der sich in die erfolglose Suche nach einem Kindermörder verbeißt und daran allmählich zerbricht, erinnert ein wenig an Das Versprechen von Friedrich Dürrenmatt (noch besser bekannt wohl in der allerdings inhaltlich abweichenden Filmfassung Es geschah am hellichten Tag). Der Vergleich trifft vielleicht noch in einer weiteren Hinsicht zu: Spätestens ab dem Zeitpunkt, zu dem Rhymer ins Geschehen eingreift, folgt Böse Saat keinem klassischen Whodunit-Muster zum Mitraten mehr. Die Krimihandlung bleibt zwar das Grundgerüst, aber erzählt wird eigentlich vor allem eine mehrsträngige Geschichte über komplexe menschliche Beziehungsgeflechte mit allen Licht- und Schattenseiten. Bei der Lektüre lohnt es sich, auf Details zu achten, denn oft verstecken sich Anspielungen, die tiefere Rückschlüsse erlauben, in scheinbar Beiläufigem, z. B. in den oft von treffenden Vergleichen getragenen Figurenbeschreibungen.

Obwohl der Roman sich flott und packend wegliest, ist er also niemals oberflächlich. Die Spannung bleibt bis zum Schluss hoch, und auch, als eigentlich schon alles geklärt scheint, wartet noch eine letzte schockierende Erkenntnis. So ist Christian Wagnon – wie schon in Gerechtigkeit und Balmsund: Fegefeuer – hier wieder eine überzeugende Mischung gelungen, die gut als erster Band einer Krimiserie geeignet ist und einen neugierig auf weitere Ermittlungen der starken Figurenriege macht.

Christian Wagnon: Böse Saat. Ein Payton-Lane-Krimi. Dresden 2022. E-Book (über Amazon zu beziehen).
ASIN: B0B41XJ1HY


Genre: Roman

Paul und Marie

Paul und Marie sind frisch geschieden, aber so sehr, dass sie ihm seinen heißgeliebten Hut, den er versehentlich beim Gerichtstermin vergessen hat, nicht nachsenden würde, hasst die Münchner Anwältin ihren Ex-Mann nun doch nicht. Aus der freundlichen Geste entspinnt sich ein Briefwechsel, in dem es nicht nur um ausbleibende Unterhaltszahlungen, die ausbildungsunwillige Tochter, die anstrengende ehemalige Schwiegermutter oder die schulischen Probleme des Sohns geht, sondern viel mehr noch um Paul und Marie selbst und ihr Verhältnis zueinander in Vergangenheit und Gegenwart. Bald ahnt man, dass die beiden sich doch noch einiges zu sagen haben – und dass vielleicht nicht alles so ist, wie es auf den ersten Blick erscheinen könnte. Denn ist Marie wirklich nur die brave, wohlanständige, hart arbeitende Frau, die um das Wohl der gemeinsamen Kinder besorgt ist und von Pauls Eskapaden eigentlich schon immer abgestoßen war? Und darf man allen wilden Geschichten, die Paul über seine Abenteuer im Ausland erzählt, vorbehaltlos glauben?

Elly Sellers, selbst Anwältin in München, hat schon in ihren Romanen um Die kleine Kanzlei Juristinnen aus ihrer Heimatstadt im Mittelpunkt stehen lassen. Ihren neuen Briefroman hat sie im Tandem mit Karl Backforth verfasst – ein vielleicht vom Hin und Her der geschilderten Korrespondenz angeregtes Pseudonym? Die ersten paar Seiten über könnte man dennoch glauben, dass sie in vertraute Fahrwasser zurückkehrt, geht es doch wieder um eine Anwältin und Themen wie Liebe, familiäre Beziehungen und das Einschlagen neuer Wege auf der Suche nach dem Glück.

Doch was als leichte und heitere Unterhaltung beginnt, erweist sich im Laufe des Briefwechsels als um einiges bissiger, schräger und chaotischer, als man es von den früheren Geschichten der Autorin gewohnt ist. Mit Rauschzuständen und Gefängnisaufenthalten ist also durchaus zu rechnen, ganz zu schweigen davon, dass man es mit einem ziemlich unzuverlässigen Erzählerduo (bzw. -trio, denn eines der Kinder des Paares mischt später auch noch mit) zu tun hat. Nicht immer erfährt man sofort die ganze Wahrheit, bestimmte Leerstellen muss man beim Lesen durch eigene Vermutungen ausfüllen, und manch eine überraschende Wendung erwischt einen kalt.

Maries zunächst abgeklärte und bisweilen knallharte Briefe bilden dabei einen gelungenen Kontrast zum oft überbordend blumigen Stil von Paul, der mal darüber sinniert, ob er „in einem früheren Leben Rentiere gejagt und Moorleichen fabriziert“ haben könnte, mal in erotischen Phantasien und halluzinogenen Pilzen schwelgt. So liest sich das relativ kurze Buch flott und vergnüglich weg, ob nun an einem Urlaubstag im Liegestuhl oder als kleine Unterbrechung des Alltags.

Elly Sellers, Karl Backforth: Paul und Marie oder Du schreibst so schön! Norderstedt, Books on Demand, 2022, 142 Seiten.
ISBN: 978-3-75-620681-0


Genre: Roman

Auf keiner Landkarte

Armand Gamache, der ehemalige Leiter der Mordkommission von Québec, wechselt an die Polizeiakademie und holt neben seinem Schwiegersohn Jean-Guy Beauvoir auch seinen alten Freund Michel Brébeuf, der durch eigenes Fehlverhalten tief gefallen ist, mit ins Boot. Offiziell geht es darum, die Lehre dort zu verbessern, aber in Wahrheit ist Gamache kriminellen Machenschaften des ehemaligen stellvertretenden Akademieleiters Serge Leduc auf der Spur. Unterdessen wird in Gamaches Wohnort Three Pines, der so klein ist, dass er auf keiner Karte verzeichnet ist, eine alte Landkarte entdeckt, die das Dorf nicht nur zeigt, sondern geradezu in den Mittelpunkt stellt. Mehr darüber in Erfahrung zu bringen, scheint eine gute Übung für ein Quartett von Polizeischülern zu sein. Doch als kurz darauf Leduc erschossen aufgefunden wird, liegt in seiner Schublade eine Kopie der geheimnisvollen Landkarte und erschwert die Aufklärung des Verbrechens, das ohnehin rätselhaft ist, weil es zu viele Verdächtige gibt. Denn praktisch jeder könnte ein Motiv gehabt haben, von den Polizeischülern, die Leduc gnadenlos schikanierte, bis hin zu Gamache selbst …

Auf keiner Landkarte, Louise Pennys zwölftes Buch um Armand Gamache, liest sich insgesamt, wie von der Autorin gewohnt, mitreißend und unterhaltsam, weist aber Handlungsstränge von recht unterschiedlicher Qualität auf. Während die Nachforschungen um die Landkarte, die in die Zeit des Ersten Weltkriegs zurückführen, und die Geschichte der unangepassten Polizeischülerin Amelia Choquet, in deren Vergangenheit es eine unerwartete Verbindung zu Gamache gibt, jeweils spannend erzählt sind und auf eine überzeugende Auflösung hinführen, fällt der eigentliche Kriminalfall samt dem obligatorischen überdramatischen Finale, in dem es gleich drei Selbstmorde zu verhindern gilt (mit unterschiedlichem Erfolg), eher ab. Hier hat man das Gefühl, dass Penny nach den vorherigen Bänden, in denen mit einem Korruptionsskandal bei der Polizei und der Aufdeckung von Kriegsverbrechen und geheimen Waffenbauplänen für einen Krimi jeweils fast schon zu viel auf dem Spiel stand, unbedingt noch einmal „große“ Verbrechen in den Mittelpunkt rücken wollte, derer man beim Lesen allmählich müde wird.

Denn der wahre Reiz der Reihe und auch dieses Bandes liegt im Kleinen, in der Schilderung der Interaktionen der teilweise herrlich exzentrischen Dorfbewohner von Three Pines, unter denen die alte Dichterin Ruth Zardo und ihre zahme Ente Rosa wie immer eine besondere Hervorhebung verdient haben, und in der Ergründung lokaler Auffälligkeiten wie eben der Landkarte, hinter der sich eine ebenso traurige wie berührende Geschichte verbirgt. Auch insgesamt ist der Tonfall des Buchs etwas ernster und düsterer als im Rest der Reihe, auch wenn hier und da Humor aufblitzen darf (z. B., wenn ein neuer Welpe bei der Familie Gamache Aufnahme findet und sich als sehr spezielles kleines Wesen entpuppt).

Trotz der relativen Schwäche des Mordfalls und seiner Hintergründe schreibt Louise Penny aber selbst hier um Längen besser als viele andere Krimiautoren, so dass der Erfolg der Romane um Armand Gamache nicht verwundert. Zum Einstieg in die Welt von Three Pines sollte man aber vielleicht einen anderen Band als gerade diesen hier wählen. Gut geeignet ist der Folgeband Hinter den drei Kiefern, der das wiederkehrende Personal liebevoller und ausführlicher vorstellt, als es hier geschieht.

Louise Penny: Auf keiner Landkarte. Der zwölfte Fall für Gamache. Zürich, Kampa, 2022, 560 Seiten.
ISBN: 978-3-311-12033-9


Genre: Roman

Die 13 Gezeichneten

Die Stadt Sygna hat schon bessere Zeiten erlebt. Lange Jahre haben hier traditionsbewusste Handwerkerzünfte geherrscht, deren Mitglieder ihre Kenntnisse magischer Zeichen eifersüchtig hüten, doch seit die Aquintianer als Besatzungsmacht das Ruder übernommen haben, weht ein anderer Wind. Wie viele andere ist der professionelle Gerichtskämpfer Dawyd damit unzufrieden, findet aber noch mit Müh und Not sein Auskommen, bis er sich durch seine eigene Impulsivität in eine Situation bringt, in der ihm keine andere Wahl mehr bleibt, als sich einer kleinen Rebellentruppe anzuschließen. So ist er nicht ganz freiwillig mit dabei, als seine neuen Bekannten den Versuch unternehmen, einen Dichter aus den Fängen der aquintianischen Geheimpolizei zu retten. Doch deren Leiter, der berüchtigte Lysandre Rufin, ist verdächtig gut über die Rebellen informiert, und so verläuft bald nicht mehr alles nach Plan, ganz zu schweigen davon, dass beide Konfliktparteien in den Kavernen unter der Stadt eine Entdeckung machen, die ungeahnte Konsequenzen haben könnte …

Judith und Christian Vogt haben schon zahlreiche Werke gemeinsam verfasst, aber der Roman Die 13 Gezeichneten ist mit Sicherheit eines ihrer besten. Das liegt nicht allein an der Handlung mit Pageturnerqualitäten, die neben packenden und gelegentlich recht blutigen Actionszenen auch immer wieder neue Wendungen und Überraschungen zu bieten hat (bis hin zum vermeintlichen Finale, das sich trotz aller atemlosen Spannung nur als Vorlauf zum eigentlichen und noch einmal abenteuerlicheren Schluss entpuppt).Vielmehr greifen die „Vögte“ auch auf ungewöhnliche, aber äußerst effektive Erzähltechniken zurück, wie etwa, wenn die Rebellen in ein Theater, das ein Geheimnis birgt, eindringen wollen und die Planung der Aktion geschickt verschränkt mit der Ausführung geschildert wird.

Eine weitere große Stärke des Buchs sind die detailreich ausgearbeiteten Charaktere, die alle ihre Geheimnisse voreinander und vor dem Lesepublikum haben, ob nun der bei Folterungen verstümmelte ehemalige Tischler Ignaz, der den kleinen Rebellentrupp anführt, seine rechte Hand, die taktisch brillante, aber von einem harten Frauenleben geprägte Schmiedin Elisabeda, das nach außen hin freche und gerissene, aber heimlich nach einer Wahlfamilie suchende Straßenmädchen Jendra, der trotz einer Spitzelvergangenheit etwas naive Müllerbursche Neigel oder immer wieder auch der schurkische Rufin, der sich sehr gut bewusst ist, dass er moralisch Verwerfliches tut, sich aber unverdrossen weiter an seiner eigenen Schläue und seinen immer dreisteren Manipulationen ergötzt.

Besonders viel Spaß macht es, wie bei einigen Figuren Klischees anzitiert und dann genüsslich auf den Kopf gestellt werden, sei es nun bei dem jungen Dichter Ismayl, dessen unglückliche Liebe zu der diskret mit dem Widerstand kooperierenden höheren Tochter Kilianna, die sich weder von schönen Worten noch von schönen Augen übermäßig beeindrucken lässt, wohl fast schon als Berufsrisiko zählen muss, oder noch stärker im Fall von Dawyd, der eine sehr amüsante Dekonstruktion des klassischen kämpferischen Auserwählten auf Weltrettungsmission ist. Stilecht kommt er im Laufe des Romans zu besonderen magischen Fähigkeiten und einem ganz speziellen Schwert, aber das ändert wenig an seinem Leichtsinn und seiner phänomenalen Eitelkeit, die ihn im Gegenzug für seinen Einsatz für die Stadt in aller Bescheidenheit mindestens einen Orden erwarten lässt.

Ohnehin wird auch sehr hübsch mit den typischen Handlungsmustern eines epischen Fantasyromans gespielt. Natürlich gilt es für die zusammengewürfelte kleine Truppe, eine  zwischenzeitlich aus der Welt verschwundene Magie wiederzugewinnen, aber ein Allheilmittel ist diese nicht (im Gegenteil), und wenn es wirklich um eine Rückkehr in eine gute alte Zeit ginge, wäre das hier kein Buch von Judith und Christian Vogt. Die einstige Zunftherrschaft wird nicht glorifiziert, sondern mit all ihren Restriktionen und Schattenseiten (wie etwa dem überwiegenden Ausschluss von Frauen oder der Gefahr, zu geizig geteiltes Wissen ganz zu verlieren), gegen die sich schon vor dem Erscheinen der Aquintianer Widerstand formierte, gezeigt, und ein Grundthema des Romans ist die Notwendigkeit der Erneuerung und des Blicks nach vorn.

Dazu passt sehr gut, dass die Geschichte nicht in einem typischen Fantasymittelalter spielt, sondern in einer frühneuzeitlich anmutenden Epoche, die bereits aufklärerische Ideale kennt und sich in einer frühen Phase der Industrialisierung befindet, hier in der Form, das mit fragwürdigen Mitteln versucht wird, die Zeichenmagie in Manufakturen nutzbar zu machen. Ereignishistorisch spielt sich gerade ein Äquivalent zu den napoleonischen Kriegen ab (so ist auch der aquintianische Kaiser Yulian einst mit revolutionären Plänen angetreten, bevor er sich aufs Erobern verlegt hat und sich nun einer gegnerischen Allianz gegenübersieht). In den Grundzügen ist die Situation in Sygna also vielleicht in etwa mit der in einer Freien Reichsstadt unter französischer Besetzung vergleichbar, und auch aus anderen Details sprechen historische Kenntnisse und gründliche Recherche, zum Beispiel aus den wiederholten Anspielungen auf spätmittelalterliche Fechtbücher und (wie auch schon in Im Schatten der Esse) aus dem liebevoll eingeflochtenen Detailwissen zum Schmiedehandwerk. Ein gewisser Realismus zeigt sich aber auch in anderen Einzelheiten: Sämtliche Rebellen haben neben ihrem Bemühen um die Sache auch noch private Interessen, durch die sie angreifbar werden, und ein Aufstand ist hier nicht so leicht durchzuführen und zu lenken wie in manch anderem Buch; ein wütender Mob hat eben manchmal andere Prioritäten als die Leute, die ihn losgelassen haben.

Gerade in Bezug auf diese differenzierte Sicht tut es der Geschichte gut, dass es sich nicht um einen Einzelroman, sondern um den Auftaktband einer Trilogie handelt. So bleibt viel Platz, unterschiedliche Aspekte ausführlich auszuloten, ohne dass jedoch jemals Gemächlichkeit oder gar Langeweile aufkommen würde. Mitreißend bis zum Schluss machen Die 13 Gezeichneten viel Lust auf die Folgebände.

Judith und Christan Vogt: Die 13 Gezeichneten. Köln, Bastei Lübbe, 2018, 592 Seiten.
ISBN: 978-3-404-20892-0


Genre: Roman

Außenseiter der Gesellschaft

Der Medizinstudent Christopher Hazzard, der in eher einfachen Verhältnissen auf dem Land aufgewachsen ist, hat es in London nicht leicht: Trotz hervorragender fachlicher Leistungen findet er bei den meisten Professoren und Kommilitonen keine Anerkennung, weil er in ihren Augen der falschen Gesellschaftsschicht entstammt. So setzen sich die Hänseleien und Schikanen, denen er schon als gehbehindertes, nachdenkliches Kind ständig ausgesetzt war, im Erwachsenenalter ungebrochen fort. Doch während er unter schwierigsten Bedingungen in einem Armenviertel auf sein Ziel hinarbeitet, ein anerkannter Arzt und Forscher zu werden, macht er es auch sich selbst und seinem Umfeld nicht leicht. Durch seine Verbissenheit ruiniert er fast seine Gesundheit, und dass seine Nachbarin, die Büroangestellte Ruth Avery, mehr als nur freundschaftliche Gefühle für ihn hegt, übersieht er viel zu lange …

Warwick Deepings Außenseiter der Gesellschaft (im Original: Roper’s Row) ist zuerst 1929 erschienen und nicht in jeder Hinsicht gut gealtert. Die doch sehr vorsintflutlichen Geschlechterrollenbildern verhafteten Aussagen über das Wesen von Mann und Frau, die immer wieder durchscheinende Demokratieskepsis und einige an Eugenik gemahnende, ausgerechnet von einem selbst behinderten Protagonisten geäußerte Gedankengänge befremden bis verstören aus heutiger Sicht. Auch der Übersetzung von Curt Thesing merkt man an, dass sie schon einige Jahrzehnte alt ist, wenn etwa die für den Roman im Englischen titelgebende Roper’s Row als „Ropers Gasse“ halb ins Deutsche übertragen erscheint. Das Buch lässt sich daher nur als Produkt seiner Entstehungsepoche und nicht als zeitlos lesen.

All das ist allerdings kein Grund, ganz auf die Lektüre zu verzichten, denn wenn man den historischen Kontext im Hinterkopf behält und sich dennoch auf das Buch einlässt, wird man gerade in der etwas stärkeren ersten Hälfte auch mit eindringlichen Natur- und Stadtschilderungen, sorgsam und nicht überhastet entwickelten Figuren und einer bis heute nicht überholten Darstellung der Mechanismen, die jemanden zum Außenseiter und Mobbingopfer machen können, belohnt. Deeping stellt dabei ein feines Gespür für die Funktionsweise sozialer Milieus unter Beweis. Das Bemühen der vermeintlich besseren Gesellschaft, sich gegen unerwünschte Aufsteiger abzuschotten und Beziehungen mehr Gewicht zuzubilligen als Fleiß und Wissen, ist nicht das einzige Problem, dem sich Christopher gegenübersieht. Auch die Dorfgemeinschaft reagiert mit Ablehnung und Missgunst, wenn einer der Ihren durch die vermeintlich falschen Interessen und Bildungsdrang aus der vorgezeichneten Lebensweise ausbricht, und in der städtischen Unterschicht gibt es keine Solidarität, die den teilweise um seine Existenz fürchtenden jungen Mediziner mit einbezieht, sondern eher den Versuch, ihn auszunutzen. Zugehörigkeit und Unterstützung findet er zunächst nur bei seiner Mutter, später bei Ruth, begeht aber selbst den Fehler, die Aufopferung der beiden als selbstverständlich hinzunehmen – mit tragischen Folgen.

Neben den detailliert geschilderten Figuren nehmen auch manche Orte fast die Rolle von Charakteren ein, insbesondere der geschichtsträchtige Hügel Sisbury Hill nahe bei Christophers Heimatdorf Melfont und das Haus in der kleinen Straße Roper’s Row, das ihm lange Jahre als Unterkunft dient. Wie die Umgebung geradezu mit den handelnden Personen interagiert, ist zweifelsohne eine der großen Stärken des Buchs und kann einen über einige der eingangs aufgezählten Schwächen hinwegtrösten.

Vor allem aber macht Außenseiter der Gesellschaft einem deutlich, was die heute doch oft eher normierte Unterhaltungsliteratur in den letzten Jahrzehnten verloren hat. Die häufigen Perspektivwechsel, das eher gemächliche Erzähltempo und der alles andere als stromlinienförmige Plot würden derzeit wohl kein Lektorat mehr ungeschoren passieren. Hier aber können sie zeigen, dass es mehr als einen Weg gibt, eine Geschichte gelungen zu erzählen, selbst wenn man nicht mit all ihren politischen und philosophischen Aussagen konform gehen mag.

Warwick Deeping: Außenseiter der Gesellschaft. Frankfurt am Main / West-Berlin, Ullstein, 1969, 336 Seiten.


Genre: Roman

Leben und Werk der Hetty Beauchamp

In der provinziellen Biederkeit der Fenlands der 1980er Jahre findet die junge Hetty, die kurz vor ihrem Schulabschluss steht und von einem Studium träumt, bei ihrer Familie wenig Verständnis für ihre Literaturbegeisterung. Insbesondere ihr gewalttätiger Vater tut alles, um sie kleinzuhalten. Als sich nach einer besonders schlimmen Auseinandersetzung mit ihm herausstellt, dass sie ein Adoptivkind ist, beschließt sie, sich einen neuen Namen zuzulegen und auf die Suche nach ihren leiblichen Eltern zu gehen. Allerdings hat sie auf ihre Herkunft nur den Hinweis, dass sie ursprünglich aus Birmingham stammt. Dort angekommen findet sie durch einen glücklichen Zufall bei der zupackenden Pensionswirtin Rose nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern auch Unterstützung bei ihrem Vorhaben, und so beginnen turbulente Wochen, während Hetty auf die Ergebnisse ihrer Abschlussprüfungen wartet …

Seit einigen Jahren verhilft der Verlag DuMont dem 1994 verstorbenen englischen Autor J. L. Carr dankenswerterweise zu einer Renaissance in Deutschland (begonnen mit Ein Monat auf dem Land). Auch das von Monika Köpfer stilsicher und gelungen übersetzte Leben und Werk der Hetty Beauchamp ist wieder eine wunderschöne Entdeckung, in der die für Carr so charakteristische Kombination aus Humor und Melancholie voll zum Tragen kommt.

Gespickt mit in einem kleinen Anhang aufgeschlüsselten literarischen Zitaten und Anspielungen von Catull bis Robert Browning bietet Hettys Geschichte eine Mischung aus Entwicklungsroman und augenzwinkernder Gesellschaftsbeobachtung. Neben Carrs gewohnt spitzer Feder ist die große Stärke des Romans die Fülle ebenso fein gezeichneter wie exzentrischer Charaktere, denen die Ich-Erzählerin Hetty begegnet, vom Geistlichen aus Sierra Leone im Missionseinsatz in England über den kommunistischen Russen, der fotografisch die Dekadenz des Westens dokumentieren möchte, bis hin zu einer resoluten alten Dame, die ein bei Straßenkrawallen zertrümmertes Buchhandlungsschaufenster erst zur Waffenbeschaffung und dann zum Ausleihen von Lektüre nutzt. Allerlei Überraschungen und absurde Vorfälle sind bei diesem Personal selbstverständlich vorprogrammiert, auch wenn genügend Instanzen immer wieder versuchen, Spontaneität und erfolgversprechende kreative Ansätze zu untergraben und Konventionen zu zementieren, die vielen Leuten längst zu eng sind. Aber nicht nur Hettys Leben ist unaufhaltsam im Umbruch, sondern auch das in ganz England, und wie sich individuell und kollektiv die Weltsicht allmählich verschiebt, ist mit viel Witz und Wärme geschildert.

In Hettys Fall ist die grundlegende Erkenntnis, dass die Realität nicht unbedingt den Spielregeln der Literatur folgt, natürlich von feiner Ironie begleitet, denn ihr eigener Weg nimmt durchaus einige romanhafte Wendungen bis hin zu einer Schlusspointe, die Literatur und Außenwelt in mehrerlei Hinsicht noch einmal ganz neu zusammenbringt. Ernster und nicht unbedingt nur auf einen Roman anwendbar ist allerdings die von Hetty gemachte Erfahrung, dass familiäre Nähe sich nicht notwendigerweise aus Blutsverwandtschaft oder aus einer förmlichen Adoption ergibt, sondern andere und unerwartete Möglichkeiten bestehen, Menschen zu finden, die mit einem durch dick und dünn gehen und einen dann unterstützen, wenn diejenigen, von denen man es eigentlich hätte erwarten können, versagen.

Nicht nur dank solcher Überlegungen, sondern auch dank der ebenso angenehmen wie amüsanten Erzählstimme, die J. L. Carr Hetty verleiht, ist Leben und Werk der Hetty Beauchamp ein einziges Lesevergnügen, das allen, die Literatur lieben, hiermit wärmstens ans Herz gelegt sei.

J. L. Carr: Leben und Werk der Hetty Beauchamp. Köln, DuMont, 2022 (englisches Original: 1988), 272 Seiten.
ISBN: 978-3-8321-8185-7

 


Genre: Roman