Archive

Paul und Marie

Paul und Marie sind frisch geschieden, aber so sehr, dass sie ihm seinen heißgeliebten Hut, den er versehentlich beim Gerichtstermin vergessen hat, nicht nachsenden würde, hasst die Münchner Anwältin ihren Ex-Mann nun doch nicht. Aus der freundlichen Geste entspinnt sich ein Briefwechsel, in dem es nicht nur um ausbleibende Unterhaltszahlungen, die ausbildungsunwillige Tochter, die anstrengende ehemalige Schwiegermutter oder die schulischen Probleme des Sohns geht, sondern viel mehr noch um Paul und Marie selbst und ihr Verhältnis zueinander in Vergangenheit und Gegenwart. Bald ahnt man, dass die beiden sich doch noch einiges zu sagen haben – und dass vielleicht nicht alles so ist, wie es auf den ersten Blick erscheinen könnte. Denn ist Marie wirklich nur die brave, wohlanständige, hart arbeitende Frau, die um das Wohl der gemeinsamen Kinder besorgt ist und von Pauls Eskapaden eigentlich schon immer abgestoßen war? Und darf man allen wilden Geschichten, die Paul über seine Abenteuer im Ausland erzählt, vorbehaltlos glauben?

Elly Sellers, selbst Anwältin in München, hat schon in ihren Romanen um Die kleine Kanzlei Juristinnen aus ihrer Heimatstadt im Mittelpunkt stehen lassen. Ihren neuen Briefroman hat sie im Tandem mit Karl Backforth verfasst – ein vielleicht vom Hin und Her der geschilderten Korrespondenz angeregtes Pseudonym? Die ersten paar Seiten über könnte man dennoch glauben, dass sie in vertraute Fahrwasser zurückkehrt, geht es doch wieder um eine Anwältin und Themen wie Liebe, familiäre Beziehungen und das Einschlagen neuer Wege auf der Suche nach dem Glück.

Doch was als leichte und heitere Unterhaltung beginnt, erweist sich im Laufe des Briefwechsels als um einiges bissiger, schräger und chaotischer, als man es von den früheren Geschichten der Autorin gewohnt ist. Mit Rauschzuständen und Gefängnisaufenthalten ist also durchaus zu rechnen, ganz zu schweigen davon, dass man es mit einem ziemlich unzuverlässigen Erzählerduo (bzw. -trio, denn eines der Kinder des Paares mischt später auch noch mit) zu tun hat. Nicht immer erfährt man sofort die ganze Wahrheit, bestimmte Leerstellen muss man beim Lesen durch eigene Vermutungen ausfüllen, und manch eine überraschende Wendung erwischt einen kalt.

Maries zunächst abgeklärte und bisweilen knallharte Briefe bilden dabei einen gelungenen Kontrast zum oft überbordend blumigen Stil von Paul, der mal darüber sinniert, ob er „in einem früheren Leben Rentiere gejagt und Moorleichen fabriziert“ haben könnte, mal in erotischen Phantasien und halluzinogenen Pilzen schwelgt. So liest sich das relativ kurze Buch flott und vergnüglich weg, ob nun an einem Urlaubstag im Liegestuhl oder als kleine Unterbrechung des Alltags.

Elly Sellers, Karl Backforth: Paul und Marie oder Du schreibst so schön! Norderstedt, Books on Demand, 2022, 142 Seiten.
ISBN: 978-3-75-620681-0


Genre: Roman

Auf keiner Landkarte

Armand Gamache, der ehemalige Leiter der Mordkommission von Québec, wechselt an die Polizeiakademie und holt neben seinem Schwiegersohn Jean-Guy Beauvoir auch seinen alten Freund Michel Brébeuf, der durch eigenes Fehlverhalten tief gefallen ist, mit ins Boot. Offiziell geht es darum, die Lehre dort zu verbessern, aber in Wahrheit ist Gamache kriminellen Machenschaften des ehemaligen stellvertretenden Akademieleiters Serge Leduc auf der Spur. Unterdessen wird in Gamaches Wohnort Three Pines, der so klein ist, dass er auf keiner Karte verzeichnet ist, eine alte Landkarte entdeckt, die das Dorf nicht nur zeigt, sondern geradezu in den Mittelpunkt stellt. Mehr darüber in Erfahrung zu bringen, scheint eine gute Übung für ein Quartett von Polizeischülern zu sein. Doch als kurz darauf Leduc erschossen aufgefunden wird, liegt in seiner Schublade eine Kopie der geheimnisvollen Landkarte und erschwert die Aufklärung des Verbrechens, das ohnehin rätselhaft ist, weil es zu viele Verdächtige gibt. Denn praktisch jeder könnte ein Motiv gehabt haben, von den Polizeischülern, die Leduc gnadenlos schikanierte, bis hin zu Gamache selbst …

Auf keiner Landkarte, Louise Pennys zwölftes Buch um Armand Gamache, liest sich insgesamt, wie von der Autorin gewohnt, mitreißend und unterhaltsam, weist aber Handlungsstränge von recht unterschiedlicher Qualität auf. Während die Nachforschungen um die Landkarte, die in die Zeit des Ersten Weltkriegs zurückführen, und die Geschichte der unangepassten Polizeischülerin Amelia Choquet, in deren Vergangenheit es eine unerwartete Verbindung zu Gamache gibt, jeweils spannend erzählt sind und auf eine überzeugende Auflösung hinführen, fällt der eigentliche Kriminalfall samt dem obligatorischen überdramatischen Finale, in dem es gleich drei Selbstmorde zu verhindern gilt (mit unterschiedlichem Erfolg), eher ab. Hier hat man das Gefühl, dass Penny nach den vorherigen Bänden, in denen mit einem Korruptionsskandal bei der Polizei und der Aufdeckung von Kriegsverbrechen und geheimen Waffenbauplänen für einen Krimi jeweils fast schon zu viel auf dem Spiel stand, unbedingt noch einmal „große“ Verbrechen in den Mittelpunkt rücken wollte, derer man beim Lesen allmählich müde wird.

Denn der wahre Reiz der Reihe und auch dieses Bandes liegt im Kleinen, in der Schilderung der Interaktionen der teilweise herrlich exzentrischen Dorfbewohner von Three Pines, unter denen die alte Dichterin Ruth Zardo und ihre zahme Ente Rosa wie immer eine besondere Hervorhebung verdient haben, und in der Ergründung lokaler Auffälligkeiten wie eben der Landkarte, hinter der sich eine ebenso traurige wie berührende Geschichte verbirgt. Auch insgesamt ist der Tonfall des Buchs etwas ernster und düsterer als im Rest der Reihe, auch wenn hier und da Humor aufblitzen darf (z. B., wenn ein neuer Welpe bei der Familie Gamache Aufnahme findet und sich als sehr spezielles kleines Wesen entpuppt).

Trotz der relativen Schwäche des Mordfalls und seiner Hintergründe schreibt Louise Penny aber selbst hier um Längen besser als viele andere Krimiautoren, so dass der Erfolg der Romane um Armand Gamache nicht verwundert. Zum Einstieg in die Welt von Three Pines sollte man aber vielleicht einen anderen Band als gerade diesen hier wählen. Gut geeignet ist der Folgeband Hinter den drei Kiefern, der das wiederkehrende Personal liebevoller und ausführlicher vorstellt, als es hier geschieht.

Louise Penny: Auf keiner Landkarte. Der zwölfte Fall für Gamache. Zürich, Kampa, 2022, 560 Seiten.
ISBN: 978-3-311-12033-9


Genre: Roman

Die 13 Gezeichneten

Die Stadt Sygna hat schon bessere Zeiten erlebt. Lange Jahre haben hier traditionsbewusste Handwerkerzünfte geherrscht, deren Mitglieder ihre Kenntnisse magischer Zeichen eifersüchtig hüten, doch seit die Aquintianer als Besatzungsmacht das Ruder übernommen haben, weht ein anderer Wind. Wie viele andere ist der professionelle Gerichtskämpfer Dawyd damit unzufrieden, findet aber noch mit Müh und Not sein Auskommen, bis er sich durch seine eigene Impulsivität in eine Situation bringt, in der ihm keine andere Wahl mehr bleibt, als sich einer kleinen Rebellentruppe anzuschließen. So ist er nicht ganz freiwillig mit dabei, als seine neuen Bekannten den Versuch unternehmen, einen Dichter aus den Fängen der aquintianischen Geheimpolizei zu retten. Doch deren Leiter, der berüchtigte Lysandre Rufin, ist verdächtig gut über die Rebellen informiert, und so verläuft bald nicht mehr alles nach Plan, ganz zu schweigen davon, dass beide Konfliktparteien in den Kavernen unter der Stadt eine Entdeckung machen, die ungeahnte Konsequenzen haben könnte …

Judith und Christian Vogt haben schon zahlreiche Werke gemeinsam verfasst, aber der Roman Die 13 Gezeichneten ist mit Sicherheit eines ihrer besten. Das liegt nicht allein an der Handlung mit Pageturnerqualitäten, die neben packenden und gelegentlich recht blutigen Actionszenen auch immer wieder neue Wendungen und Überraschungen zu bieten hat (bis hin zum vermeintlichen Finale, das sich trotz aller atemlosen Spannung nur als Vorlauf zum eigentlichen und noch einmal abenteuerlicheren Schluss entpuppt).Vielmehr greifen die „Vögte“ auch auf ungewöhnliche, aber äußerst effektive Erzähltechniken zurück, wie etwa, wenn die Rebellen in ein Theater, das ein Geheimnis birgt, eindringen wollen und die Planung der Aktion geschickt verschränkt mit der Ausführung geschildert wird.

Eine weitere große Stärke des Buchs sind die detailreich ausgearbeiteten Charaktere, die alle ihre Geheimnisse voreinander und vor dem Lesepublikum haben, ob nun der bei Folterungen verstümmelte ehemalige Tischler Ignaz, der den kleinen Rebellentrupp anführt, seine rechte Hand, die taktisch brillante, aber von einem harten Frauenleben geprägte Schmiedin Elisabeda, das nach außen hin freche und gerissene, aber heimlich nach einer Wahlfamilie suchende Straßenmädchen Jendra, der trotz einer Spitzelvergangenheit etwas naive Müllerbursche Neigel oder immer wieder auch der schurkische Rufin, der sich sehr gut bewusst ist, dass er moralisch Verwerfliches tut, sich aber unverdrossen weiter an seiner eigenen Schläue und seinen immer dreisteren Manipulationen ergötzt.

Besonders viel Spaß macht es, wie bei einigen Figuren Klischees anzitiert und dann genüsslich auf den Kopf gestellt werden, sei es nun bei dem jungen Dichter Ismayl, dessen unglückliche Liebe zu der diskret mit dem Widerstand kooperierenden höheren Tochter Kilianna, die sich weder von schönen Worten noch von schönen Augen übermäßig beeindrucken lässt, wohl fast schon als Berufsrisiko zählen muss, oder noch stärker im Fall von Dawyd, der eine sehr amüsante Dekonstruktion des klassischen kämpferischen Auserwählten auf Weltrettungsmission ist. Stilecht kommt er im Laufe des Romans zu besonderen magischen Fähigkeiten und einem ganz speziellen Schwert, aber das ändert wenig an seinem Leichtsinn und seiner phänomenalen Eitelkeit, die ihn im Gegenzug für seinen Einsatz für die Stadt in aller Bescheidenheit mindestens einen Orden erwarten lässt.

Ohnehin wird auch sehr hübsch mit den typischen Handlungsmustern eines epischen Fantasyromans gespielt. Natürlich gilt es für die zusammengewürfelte kleine Truppe, eine  zwischenzeitlich aus der Welt verschwundene Magie wiederzugewinnen, aber ein Allheilmittel ist diese nicht (im Gegenteil), und wenn es wirklich um eine Rückkehr in eine gute alte Zeit ginge, wäre das hier kein Buch von Judith und Christian Vogt. Die einstige Zunftherrschaft wird nicht glorifiziert, sondern mit all ihren Restriktionen und Schattenseiten (wie etwa dem überwiegenden Ausschluss von Frauen oder der Gefahr, zu geizig geteiltes Wissen ganz zu verlieren), gegen die sich schon vor dem Erscheinen der Aquintianer Widerstand formierte, gezeigt, und ein Grundthema des Romans ist die Notwendigkeit der Erneuerung und des Blicks nach vorn.

Dazu passt sehr gut, dass die Geschichte nicht in einem typischen Fantasymittelalter spielt, sondern in einer frühneuzeitlich anmutenden Epoche, die bereits aufklärerische Ideale kennt und sich in einer frühen Phase der Industrialisierung befindet, hier in der Form, das mit fragwürdigen Mitteln versucht wird, die Zeichenmagie in Manufakturen nutzbar zu machen. Ereignishistorisch spielt sich gerade ein Äquivalent zu den napoleonischen Kriegen ab (so ist auch der aquintianische Kaiser Yulian einst mit revolutionären Plänen angetreten, bevor er sich aufs Erobern verlegt hat und sich nun einer gegnerischen Allianz gegenübersieht). In den Grundzügen ist die Situation in Sygna also vielleicht in etwa mit der in einer Reichsstadt unter französischer Besetzung vergleichbar, und auch aus anderen Details sprechen historische Kenntnisse und gründliche Recherche, zum Beispiel aus den wiederholten Anspielungen auf spätmittelalterliche Fechtbücher und (wie auch schon in Im Schatten der Esse) aus dem liebevoll eingeflochtenen Detailwissen zum Schmiedehandwerk. Ein gewisser Realismus zeigt sich aber auch in anderen Einzelheiten: Sämtliche Rebellen haben neben ihrem Bemühen um die Sache auch noch private Interessen, durch die sie angreifbar werden, und ein Aufstand ist hier nicht so leicht durchzuführen und zu lenken wie in manch anderem Buch; ein wütender Mob hat eben manchmal andere Prioritäten als die Leute, die ihn losgelassen haben.

Gerade in Bezug auf diese differenzierte Sicht tut es der Geschichte gut, dass es sich nicht um einen Einzelroman, sondern um den Auftaktband einer Trilogie handelt. So bleibt viel Platz, unterschiedliche Aspekte ausführlich auszuloten, ohne dass jedoch jemals Gemächlichkeit oder gar Langeweile aufkommen würde. Mitreißend bis zum Schluss machen Die 13 Gezeichneten viel Lust auf die Folgebände.

Judith und Christan Vogt: Die 13 Gezeichneten. Köln, Bastei Lübbe, 2018, 592 Seiten.
ISBN: 978-3-404-20892-0


Genre: Roman

Außenseiter der Gesellschaft

Der Medizinstudent Christopher Hazzard, der in eher einfachen Verhältnissen auf dem Land aufgewachsen ist, hat es in London nicht leicht: Trotz hervorragender fachlicher Leistungen findet er bei den meisten Professoren und Kommilitonen keine Anerkennung, weil er in ihren Augen der falschen Gesellschaftsschicht entstammt. So setzen sich die Hänseleien und Schikanen, denen er schon als gehbehindertes, nachdenkliches Kind ständig ausgesetzt war, im Erwachsenenalter ungebrochen fort. Doch während er unter schwierigsten Bedingungen in einem Armenviertel auf sein Ziel hinarbeitet, ein anerkannter Arzt und Forscher zu werden, macht er es auch sich selbst und seinem Umfeld nicht leicht. Durch seine Verbissenheit ruiniert er fast seine Gesundheit, und dass seine Nachbarin, die Büroangestellte Ruth Avery, mehr als nur freundschaftliche Gefühle für ihn hegt, übersieht er viel zu lange …

Warwick Deepings Außenseiter der Gesellschaft (im Original: Roper’s Row) ist zuerst 1929 erschienen und nicht in jeder Hinsicht gut gealtert. Die doch sehr vorsintflutlichen Geschlechterrollenbildern verhafteten Aussagen über das Wesen von Mann und Frau, die immer wieder durchscheinende Demokratieskepsis und einige an Eugenik gemahnende, ausgerechnet von einem selbst behinderten Protagonisten geäußerte Gedankengänge befremden bis verstören aus heutiger Sicht. Auch der Übersetzung von Curt Thesing merkt man an, dass sie schon einige Jahrzehnte alt ist, wenn etwa die für den Roman im Englischen titelgebende Roper’s Row als „Ropers Gasse“ halb ins Deutsche übertragen erscheint. Das Buch lässt sich daher nur als Produkt seiner Entstehungsepoche und nicht als zeitlos lesen.

All das ist allerdings kein Grund, ganz auf die Lektüre zu verzichten, denn wenn man den historischen Kontext im Hinterkopf behält und sich dennoch auf das Buch einlässt, wird man gerade in der etwas stärkeren ersten Hälfte auch mit eindringlichen Natur- und Stadtschilderungen, sorgsam und nicht überhastet entwickelten Figuren und einer bis heute nicht überholten Darstellung der Mechanismen, die jemanden zum Außenseiter und Mobbingopfer machen können, belohnt. Deeping stellt dabei ein feines Gespür für die Funktionsweise sozialer Milieus unter Beweis. Das Bemühen der vermeintlich besseren Gesellschaft, sich gegen unerwünschte Aufsteiger abzuschotten und Beziehungen mehr Gewicht zuzubilligen als Fleiß und Wissen, ist nicht das einzige Problem, dem sich Christopher gegenübersieht. Auch die Dorfgemeinschaft reagiert mit Ablehnung und Missgunst, wenn einer der Ihren durch die vermeintlich falschen Interessen und Bildungsdrang aus der vorgezeichneten Lebensweise ausbricht, und in der städtischen Unterschicht gibt es keine Solidarität, die den teilweise um seine Existenz fürchtenden jungen Mediziner mit einbezieht, sondern eher den Versuch, ihn auszunutzen. Zugehörigkeit und Unterstützung findet er zunächst nur bei seiner Mutter, später bei Ruth, begeht aber selbst den Fehler, die Aufopferung der beiden als selbstverständlich hinzunehmen – mit tragischen Folgen.

Neben den detailliert geschilderten Figuren nehmen auch manche Orte fast die Rolle von Charakteren ein, insbesondere der geschichtsträchtige Hügel Sisbury Hill nahe bei Christophers Heimatdorf Melfont und das Haus in der kleinen Straße Roper’s Row, das ihm lange Jahre als Unterkunft dient. Wie die Umgebung geradezu mit den handelnden Personen interagiert, ist zweifelsohne eine der großen Stärken des Buchs und kann einen über einige der eingangs aufgezählten Schwächen hinwegtrösten.

Vor allem aber macht Außenseiter der Gesellschaft einem deutlich, was die heute doch oft eher normierte Unterhaltungsliteratur in den letzten Jahrzehnten verloren hat. Die häufigen Perspektivwechsel, das eher gemächliche Erzähltempo und der alles andere als stromlinienförmige Plot würden derzeit wohl kein Lektorat mehr ungeschoren passieren. Hier aber können sie zeigen, dass es mehr als einen Weg gibt, eine Geschichte gelungen zu erzählen, selbst wenn man nicht mit all ihren politischen und philosophischen Aussagen konform gehen mag.

Warwick Deeping: Außenseiter der Gesellschaft. Frankfurt am Main / West-Berlin, Ullstein, 1969, 336 Seiten.


Genre: Roman

Leben und Werk der Hetty Beauchamp

In der provinziellen Biederkeit der Fenlands der 1980er Jahre findet die junge Hetty, die kurz vor ihrem Schulabschluss steht und von einem Studium träumt, bei ihrer Familie wenig Verständnis für ihre Literaturbegeisterung. Insbesondere ihr gewalttätiger Vater tut alles, um sie kleinzuhalten. Als sich nach einer besonders schlimmen Auseinandersetzung mit ihm herausstellt, dass sie ein Adoptivkind ist, beschließt sie, sich einen neuen Namen zuzulegen und auf die Suche nach ihren leiblichen Eltern zu gehen. Allerdings hat sie auf ihre Herkunft nur den Hinweis, dass sie ursprünglich aus Birmingham stammt. Dort angekommen findet sie durch einen glücklichen Zufall bei der zupackenden Pensionswirtin Rose nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern auch Unterstützung bei ihrem Vorhaben, und so beginnen turbulente Wochen, während Hetty auf die Ergebnisse ihrer Abschlussprüfungen wartet …

Seit einigen Jahren verhilft der Verlag DuMont dem 1994 verstorbenen englischen Autor J. L. Carr dankenswerterweise zu einer Renaissance in Deutschland (begonnen mit Ein Monat auf dem Land). Auch das von Monika Köpfer stilsicher und gelungen übersetzte Leben und Werk der Hetty Beauchamp ist wieder eine wunderschöne Entdeckung, in der die für Carr so charakteristische Kombination aus Humor und Melancholie voll zum Tragen kommt.

Gespickt mit in einem kleinen Anhang aufgeschlüsselten literarischen Zitaten und Anspielungen von Catull bis Robert Browning bietet Hettys Geschichte eine Mischung aus Entwicklungsroman und augenzwinkernder Gesellschaftsbeobachtung. Neben Carrs gewohnt spitzer Feder ist die große Stärke des Romans die Fülle ebenso fein gezeichneter wie exzentrischer Charaktere, denen die Ich-Erzählerin Hetty begegnet, vom Geistlichen aus Sierra Leone im Missionseinsatz in England über den kommunistischen Russen, der fotografisch die Dekadenz des Westens dokumentieren möchte, bis hin zu einer resoluten alten Dame, die ein bei Straßenkrawallen zertrümmertes Buchhandlungsschaufenster erst zur Waffenbeschaffung und dann zum Ausleihen von Lektüre nutzt. Allerlei Überraschungen und absurde Vorfälle sind bei diesem Personal selbstverständlich vorprogrammiert, auch wenn genügend Instanzen immer wieder versuchen, Spontaneität und erfolgversprechende kreative Ansätze zu untergraben und Konventionen zu zementieren, die vielen Leuten längst zu eng sind. Aber nicht nur Hettys Leben ist unaufhaltsam im Umbruch, sondern auch das in ganz England, und wie sich individuell und kollektiv die Weltsicht allmählich verschiebt, ist mit viel Witz und Wärme geschildert.

In Hettys Fall ist die grundlegende Erkenntnis, dass die Realität nicht unbedingt den Spielregeln der Literatur folgt, natürlich von feiner Ironie begleitet, denn ihr eigener Weg nimmt durchaus einige romanhafte Wendungen bis hin zu einer Schlusspointe, die Literatur und Außenwelt in mehrerlei Hinsicht noch einmal ganz neu zusammenbringt. Ernster und nicht unbedingt nur auf einen Roman anwendbar ist allerdings die von Hetty gemachte Erfahrung, dass familiäre Nähe sich nicht notwendigerweise aus Blutsverwandtschaft oder aus einer förmlichen Adoption ergibt, sondern andere und unerwartete Möglichkeiten bestehen, Menschen zu finden, die mit einem durch dick und dünn gehen und einen dann unterstützen, wenn diejenigen, von denen man es eigentlich hätte erwarten können, versagen.

Nicht nur dank solcher Überlegungen, sondern auch dank der ebenso angenehmen wie amüsanten Erzählstimme, die J. L. Carr Hetty verleiht, ist Leben und Werk der Hetty Beauchamp ein einziges Lesevergnügen, das allen, die Literatur lieben, hiermit wärmstens ans Herz gelegt sei.

J. L. Carr: Leben und Werk der Hetty Beauchamp. Köln, DuMont, 2022 (englisches Original: 1988), 272 Seiten.
ISBN: 978-3-8321-8185-7

 


Genre: Roman

Mrs Potts’ Mordclub und der tote Nachbar

Judith Potts ist eine alte Kreuzworträtselautorin, die dank einer reichen Erbschaft im beschaulichen Marlow ein entspanntes Leben nach ihrem Geschmack führen kann. Als sie gerade einer ihrer Lieblingsbeschäftigungen – dem Nacktbaden in der Themse – nachgeht, hört sie, wie ihr Nachbar erschossen wird. Die Polizei nimmt ihre Beobachtungen erst nicht ernst und ist eher geneigt, die Sache als Suizid oder Unfall abzutun. So muss Judith eigenmächtig aktiv werden und beginnt unerschrocken zu ermitteln, nur um bald mit einem weiteren Mord konfrontiert zu sein, der mit dem ersten in Zusammenhang zu stehen scheint. Ist hier ein Serienkiller am Werk, oder ist alles doch etwas komplizierter? Die Unterstützung der Pfarrersfrau Becks und der Hundesitterin Suzie kommt Judith bei ihren Ermittlungen durchaus gelegen, aber dass sie selbst ein dunkles Geheimnis hütet, lässt sich nicht ewig vor ihren neugierigen neuen Freundinnen verbergen …

Zugegeben: Der Titel Mrs Potts’ Mordclub und der tote Nachbar lässt erst einmal an Richard Osmans Erfolgsroman Der Donnerstagsmordclub denken und knüpft vielleicht zu Marketingzwecken auch gezielt daran an, aber abgesehen davon, dass in beiden Krimis die Ermittlungen nicht von Profis durchgeführt werden, ähnelt Robert Thorogoods von Ingo Herzke angenehm übersetztes Buch dem Bestseller nicht weiter. Ein echter Club wird hier nämlich gar nicht gegründet; die drei Protagonistinnen begegnen sich zunächst eher zufällig, weil die Verbrechen Personen in ihrem jeweiligen Bekanntenkreis betreffen, und tun sich unter Judiths Führung zum Ermitteln zusammen.

Das kann man in gewisser Weise auch als Leser tun, denn das Buch ist ein fairer Krimi zum Miträtseln. Wer viel im Genre liest, wird die Auflösung hinter den Morden wahrscheinlich relativ früh erraten, da das gewählte Muster kein ganz neues ist (so ist z. B. in einem von Marc Paillets Abbé-Erwin-Bänden die Erklärung für mehrere Todesfälle praktisch die gleiche wie hier). Aber auf atemlose Spannung ist Mrs Potts’ Mordclub ohnehin nicht angelegt, sondern eher auf den Spaß daran, hinter der idyllischen Fassade des englischen Kleinstadtlebens das Verbrechen lauern zu sehen und drei sympathische Hauptfiguren mit Ecken und Kanten bei ihren humorvoll geschilderten und teilweise herrlich schrägen, aber durchaus erfolgreichen Nachforschungen zu begleiten, während reichlich Tee und Whisky fließen.

Die exzentrische Judith scheint dabei sowohl in ihrem Habitus (ohne Cape geht sie nicht aus dem Haus) als auch in ihrer Ermittlungstaktik stark von den Miss-Marple-Verfilmungen mit Margaret Rutherford inspiriert zu sein, nur, dass sie keinen Mr Stringer, sondern zwei weitere Frauen an ihrer Seite hat. Judith, die vorbestrafte und nach einer gescheiterten Ehe mit ihren erwachsenen Töchtern hadernde Suzie und die perfektionistische Becks, die ihr Aufgehen in der Hausfrauen- und Mutterrolle nur mimt, um nicht eingestehen zu müssen, wie unglücklich sie eigentlich ist, sind auf den ersten Blick ein unwahrscheinliches Trio. Gerade dadurch bedienen sie aber die sicher tief in vielen Menschen verwurzelte Sehnsucht, auch im mittleren bis höheren Alter, wenn vieles im Leben nicht so wie erhofft gelaufen ist, noch Freundinnen finden zu können, auf die man sich absolut verlassen kann und die mit einem die wildesten Abenteuer bestehen. Auch Polizistin Tanika – die Kontaktperson der drei bei den Behörden – passt mit ihrem Leiden darunter, Familie und Karriere nicht befriedigend unter einen Hut bringen zu können, ganz gut in das Schema der unerfüllten Träume, das auch in den Biographien der drei Heldinnen anklingt.

Der große Showdown, bei dem einem Verdächtigen eine Falle gestellt wird, die dann aber doch nicht ganz so zuschnappt wie erhofft, ist für den ansonsten eher gemütlichen Krimi etwas zu überdramatisch geraten, und dass Judith hier in höchster Not noch Zeit hat, ihre Lösung des Falls in aller Ausführlichkeit darzulegen, strapaziert die Glaubwürdigkeit ein bisschen. Aber auf den allerletzten Tiefgang und Realismus kommt es bei diesem Roman, den man sich auch gut verfilmt vorstellen könnte, eigentlich gar nicht an. Das, was er verspricht – amüsante Unterhaltung am milderen Ende des Krimigenres -, bietet er jedenfalls voll und ganz.

Robert Thorogood: Mrs Potts‘ Mordclub und der tote Nachbar. Köln, Kiepenheuer & Witsch, 2022, 416 Seiten.
ISBN: 978-3-462-00198-3


Genre: Roman

Diebe der Nacht

Offiziell sind die Herbstgänger eine fahrende Theatertruppe, aber in Wirklichkeit bilden Betrug und Diebstahl ihre Hauptgeschäftszweige. Kreativer Kopf der kleinen Schar ist der junge Glin Melisma, dessen geniale Pläne immer aufzugehen scheinen und der seinen Charme und das ein oder andere Bestechungsgeld so gut einzusetzen weiß, dass sich manchmal sogar die Opfer seiner Missetaten mit dem Ergebnis seiner Gaunereien anfreunden können. In der geschichtsträchtigen Lagunenstadt Mosmerano hat die Bande Großes vor. Aber kaum dass die ersten Schritte zu einem dreisten Coup erfolgreich unternommen sind, erspäht Glins Ziehvater Talmo mitten in einer Theatervorstellung einen alten Bekannten, der nichts Gutes im Schilde führt. Das Wiedersehen hat Folgen. So werden die Herbstgänger unversehens von Tätern zu Opfern, und Glin muss all seine Findigkeit aufbieten, wenn es mit seiner Wahlfamilie nicht sehr schnell zu Ende sein soll …

Thilo Corzilius entführt einen in Diebe der Nacht in eine prall ausgemalte Fantasyversion eines frühneuzeitlichen Venedig voller Kunst und Lebensfreude, mit Entsprechungen zu Karneval und sposalizio del mare, aber dann doch auch wieder sehr anders als die historische Version, und das nicht nur, weil es eine polytheistische Religion ganz eigener Prägung dort gibt. Denn in seiner von Christina Srebalus in schönem Kartenmaterial eingefangenen Ruhenden Welt wirken sogenannte Chemistiker und Mechanisten (zu Letzteren zählen auch Talmo und Glin), die mit ihren trickreichen Erfindungen oft mehr auszurichten verstehen als die meisten Magier. Wie so oft in der Fantasy ist nämlich die Magie in gewissem Maße aus der Welt entschwunden, hier jedoch in der interessanten Form, dass es sich bei fortgeschrittenen magischen Fähigkeiten um nichts allzu Esoterisches, sondern um das Wissen einer ausgerotteten Vorgängerkultur handelt, das man vielleicht zurückgewinnen könnte. Einzelne Artefakte aus alten Zeiten haben freilich überdauert, so z. B. auch die Grille, die den Helden – als kleine Pinocchio-Reminiszenz? – begleitet und kein Lebewesen im klassischen Sinne, sondern ein mechanisches Wunderwerk mit eigenem Willen ist.

Sie ist nur eines von vielen charmanten Details des Weltenbaus, der auch in kulinarischen Genüssen, architektonischer Pracht, edlen Kunstwerken und bunten Kostümen schwelgt. Doch mit all dem geht eine dunkle Seite einher, die im Laufe des Romans immer deutlicher hervortritt, seien es nun grausame Hinrichtungsmethoden und Körperstrafen oder schlicht die Ausmaße von sozialer Ungleichheit, Korruption und Heuchelei hinter der Fassade der vermeintlich so strahlenden Stadt. Auch auf der Handlungsebene macht einem das Buch zunächst genauso sehr etwas vor wie die Bande diebischer Schauspieler, denn was als leichtfüßiges Gaunerabenteuer mit flottem Wahlspruch und nur mäßig destruktiver Kriminalität beginnt, schlägt nach einer Weile einen düsteren Weg ein, der in bestenfalls bittersüße Gefilde führt. Auch die passend zur Theaterthematik als Interludien eingefügten Rückblicke, die schildern, wie sich die Herbstgänger Jahre vor der Jetztzeit des Romans nach und nach zusammenfinden, sind teilweise starker Tobak, egal, ob es nun um sexuellen Missbrauch, Gladiatorenkämpfe oder andere Formen unmenschlicher und würdeloser Behandlung geht.

Diese Mischung aus überbordendem Spaß und bitterem Ernst, in der nach und nach auch liebgewonnene Figuren auf der Strecke bleiben und ein glückliches Ende alles andere als garantiert ist, sorgt für ein Leseerlebnis, das durchaus an diesbezüglich oft ähnlich ambivalente klassische Schelmenromane erinnert. Allerdings geht es hier doch teilweise dreckiger zu (eher abschreckende Sexszene im Bordell inklusive), und auch der Stil ist um einiges lockerer und umgangssprachlicher. So können Wetter und Befinden auch im Erzählerbericht schon einmal „beschissen“ sein, und oft wird ein derber Ausdruck gezielt genutzt, um eine vorher aufgebaute lyrische Stimmung zu konterkarieren. Kontraste verbergen sich zum Teil auch in der Namensgebung. Dass in jemandem namens Melisma viel – einschließlich verschlungener Gedankengänge – steckt, überrascht nicht, wohingegen es natürlich ironisch wirkt, dass die beste Kämpferin der Herbstgänger, die im Notfall auch vor Folterungen nicht zurückschreckt, Yrrein heißt. Nur bei dem Namen Birkenau für einen Konstrukteur aus der Vergangenheit fragt man sich, ob er angesichts der mit der Bezeichnung unweigerlich verbundenen traurigen Assoziationen geschmackvoll ist (besonders, als sich im letzten Drittel des Romans dann erweist, was genau die Person, die ihn trägt, eigentlich gebaut hat).

Alles in allem jedoch bieten die Diebe der Nacht ein wildes und bunt ausgemaltes Abenteuer um einen moralisch fragwürdig handelnden Tricksterhelden, der in manchen Zügen den Schurken der Geschichte gar nicht so unähnlich ist, wie ihm vielleicht lieb wäre, aber bis zum actionreichen Finale nicht nur das Personal des Romans, sondern auch diejenigen, die ihn lesen, in Atem hält, bis dann eine letzte unerwartete Wendung selbst ihn überrumpelt. Auf alle Fälle hat man am Ende den Eindruck, die Ruhende Welt erst ansatzweise erkundet zu haben. Falls Thilo Corzilius also irgendwann für ein anderes Buch dorthin zurückkehrt, gibt es gewiss noch einiges zu erzählen.

Thilo Corzilius: Diebe der Nacht. Stuttgart, Klett-Cotta, 2020, 480 Seiten.
ISBN: 978-3-608-98330-2

 


Genre: Roman

Léon und Louise

Unmittelbar vor dem Beginn der Totenmesse für den hochbetagt gestorbenen Léon Le Gall in Notre-Dame tritt eine der versammelten Familie fremde alte Dame an den Sarg und gibt dem Toten eine Fahrradklingel mit auf die letzte Reise. Eine völlig Unbekannte ist die Frau allerdings nicht: Schnell ahnen alle, dass es sich um Léons langjährige Geliebte Louise Janvier handeln muss. Ihr denkwürdiger Auftritt auf der Trauerfeier ist Grund genug für einen von Léons zahlreichen Enkeln, sich auszumalen, wie die Liebesgeschichte der beiden verlaufen sein muss, und so erfährt man, dass Léon und Louise sich schon an der Schwelle zum Erwachsenwerden in der französischen Provinz kennenlernen, bevor sie im Ersten Weltkrieg unter dramatischen Umständen voneinander getrennt werden. Als sie sich Jahre später in Paris wiedersehen, ist Léon längst mit einer anderen verheiratet, und so scheint ihre Liebe keine Zukunft zu haben. Doch die Verwerfungen des Zweiten Weltkriegs lassen vieles noch einmal in einem ganz neuen Licht erscheinen …

Es ist die Erzählsituation, die den Roman Léon und Louise von Alex Capus zu etwas Besonderem macht, denn dadurch, dass Léons Enkel als Ich-Erzähler Ereignisse zu rekonstruieren versucht, über die er nur aus Erzählungen und Briefen spärliche Informationen hat, die er mit eigenen Schlüssen und Spekulationen anreichert, ergibt sich gewissermaßen eine Staffelung potenziell unzuverlässiger Erzähler. So eindringlich manche Szene auch geschildert sein mag, der Illusion, dass man in diesem Buch die (fiktive) Wahrheit über Léon und Louise erfährt, wird damit von vornherein ein Riegel vorgeschoben.

Das, was vielleicht gewesen sein könnte, ist aber darum nicht weniger lesenswert, denn über die reine Liebesgeschichte hinaus wird ein Bild Frankreichs in den ersten beiden Dritteln des 20. Jahrhunderts entworfen. Die Protagonisten können ihrer Zeit nicht entkommen und setzen sich dennoch phasenweise auch kritisch damit auseinander, sei es nun, dass Léon im deutsch besetzten Paris bei seiner Arbeit für die Polizei erkennen muss, dass man selbst mit den besten Absichten im Kleinen in die Kollaboration abrutschen kann, oder dass Louise, die es zur selben Zeit nach Mali (bzw. in den damaligen Soudan français) verschlägt, sich die Frage stellt, ob die dort als brutale Kolonialherren auftretenden Franzosen sich den zu Recht verhassten Deutschen wirklich getrost moralisch überlegen fühlen können.

Trotz dieser ernsten Untertöne und der präzisen Beobachtungen menschlicher und allzumenschlicher Verhaltensweisen geht es in Léon und Louise aber immer wieder auch um die großen und kleinen Freuden des Lebens, von kulinarischen Genüssen über Rad-, Auto- und Bootstouren bis hin zur Liebe, die sich zwar vielleicht nicht in die gesellschaftlichen Konventionen einpassen lässt, aber doch bis über den Tod hinaus anhält. Das alles ist in eine sprachlich schöne Form gegossen, bei der manche Formulierung lange nachhallt und auch der Humor nicht zu kurz kommt. So ist es von Anfang bis Ende ein Lesevergnügen, das Protagonistenduo durch Höhen und Tiefen eines (außer-)gewöhnlichen Lebens zu begleiten.

Alex Capus: Léon und Louise. München, DTV, Sonderausgabe 2021 (Original: 2011), 320 Seiten.
ISBN: 978-3-423-14810-8


Genre: Roman

Gerechtigkeit

In einem schon lange ungenutzten Nebengebäude eines heruntergekommenen Bauernhofs finden die neuen Eigentümer das Skelett einer Frau, die offenbar gewaltsam ums Leben gekommen ist. Kommissar Falin, der tief im Umzugsstress steckt und eigentlich genug mit privaten Sorgen zu tun hat, nimmt die Ermittlungen auf. Doch wie soll man einen Mord aufklären, bei dem nicht einmal die Identität des Opfers festzustellen ist? Keine Vermisstenmeldung scheint auf die Tote zu passen, und die Vorbesitzerin des Hofs, die enigmatische Jolin, weiß angeblich von nichts. Aber was hat es mit der Vergangenheit ihrer Familie auf sich, von der nur noch sie übrig ist? Welche Rolle spielt Falins neue Nachbarin, und was hat der alte Pfarrer zu verbergen? Hat hier vielleicht sogar der Serienkiller zugeschlagen, auf dessen Konto mehrere Frauenmorde gehen, den Falin aber nie fassen konnte? Stück für Stück enthüllt sich eine Geschichte, die weit grausiger ist als alles, womit selbst ein erfahrener Polizist wie Falin zu Anfang rechnen konnte.

Gerechtigkeit von Christian Wagnon ist ein ebenso spannender wie düsterer Roman, denn es geht hinab in menschliche Abgründe, mit denen man im realen Leben um keinen Preis konfrontiert werden möchte. Die Auflösung der Geschichte ist wirklich nichts für schwache Nerven, aber was den Weg dorthin originell macht, ist, dass es sich, anders als in vielen Krimis, nicht um ein frisches Verbrechen handelt, sondern um eine Tat, die schon vor Jahren begangen worden ist, so dass Falin einigen Personen, die damit in Zusammenhang stehen könnten, gar nicht mehr direkt begegnen kann, sondern sie nur gefiltert durch die Schilderungen Dritter zu erahnen vermag. Da aus wechselnden Perspektiven erzählt wird, ist aus Lesersicht bald klar, dass so manche Figur – darunter sogar der Dorfpolizist Bjarne – dem Kommissar nicht gleich die ganze Wahrheit sagt. Dementsprechend sorgt auch die Frage für Spannung, ob und wie Falin zwischen Kneipe, Reiterhof, Knicks und Fleeten (und bei einem kleinen Abstecher ins Ausland) noch auf die lohnenden Verdachtsmomente stoßen wird, von denen man vor ihm erfährt.

Die große Stärke des Buchs sind die atmosphärischen Beschreibungen einer ländlichen Region irgendwo in Norddeutschland, in der bis auf den Neuankömmling Falin jeder jeden kennt und doch alle ihre Geheimnisse haben, obwohl mit Wonne unbelegbare Gerüchte über eine angeblich mit einem Landarbeiter von außerhalb durchgebrannte Bäuerin und einen sehr plötzlich ins Heim abgeschobenen geistig Behinderten weitergetratscht werden. Das oft trübe Märzwetter, die Albträume, die nicht nur Falin heimsuchen, die schaurigen Zeichnungen, die Jolin in jungen Jahren anfertigte, und die in den passenden Situationen auftauchenden, mit abergläubischen Vorstellungen assoziierten Krähen tun ein Übriges, für eine beklemmende Stimmung zu sorgen. Doch die provinzielle Gegend, in der man auf Nachbarschaftshilfe angewiesen ist, hat auch abgesehen von gutem Eintopf und landschaftlicher Schönheit ihre Vorteile: Wenn jemand ins Reden kommt, den man eigentlich nur zur Behebung eines Sturmschadens ins Haus bestellt hat, kann man als Polizist dann doch mehr erfahren als bei offiziellen Befragungen …

Wie auch in seinem neueren Werk Balmsund: Fegefeuer gelingt es Christian Wagnon, Charaktere mit Ecken und Kanten und den Mikrokosmos, in dem sie sich bewegen, einprägsam zu schildern. Dabei nimmt er sich Zeit, den Fall Schicht um Schicht zu entwickeln. Auch als schon geklärt ist, wer das Skelett im Schuppen einmal war, und ein Geständnis vorliegt, folgen noch einige unerwartete (und zum Teil ziemlich schockierende) Wendungen. Am Ende steht fest, was sich vor Jahren Schreckliches abgespielt hat, doch inwieweit durch irdische oder höhere Instanzen tatsächlich die titelgebende Gerechtigkeit geübt worden ist, bleibt wohl eine Ermessensfrage. Für Falin allerdings, in dessen Leben sich einschneidende Veränderungen ergeben haben, hat an seinem neuen Wohnort alles gerade erst begonnen, und genügend Anknüpfungspunkte für eine Fortsetzung sind unbestreitbar vorhanden. Es könnte also in möglichen Folgebänden noch aufregend weitergehen.

Christian Wagnon: Gerechtigkeit. Die Tote im Schuppen. Dresden 2020. E-Book (über Amazon zu beziehen).
ASIN: ‎ B087Q956Z8

 


Genre: Roman

Schildmaid

Im wikingerzeitlichen Norwegen erhält die unauffällige Weberin Eyvor unversehens von der Meeresgöttin Rán den Auftrag, ein Drachenschiff zu bauen. Die Aufgabe würde ihre Kräfte wohl übersteigen, wenn sich ihr nicht nach und nach andere Frauen anschließen würden, die auf ihre Art allesamt Außenseiterinnen sind oder sich aus einer bedrohlichen häuslichen Situation befreien müssen, darunter die Skaldin Tinna, die auf Runenmagie zurückgreifen muss, um anderen überhaupt als Frau zu erscheinen, die hitzköpfige Skade, die aus ihrer Ehe mit dem abscheulichen Berserker Ivar flüchtet, und die jugendliche Seherin Herdis, die sich selbst ein düsteres Ende im Kampf gegen ihren Zwillingsbruder vorhersagt.

Da Herdis gefährliche Verfolger dicht auf den Fersen sind, beginnt für alle nolens volens auf dem Schildmaid genannten Schiff eine Fahrt ins Unbekannte, doch um sich aus der Nähe der Küste fort aufs offene Meer hinauswagen zu können, fehlt dem Frauentrupp jemand, der sich mit Navigation auskennt. Im dänischen Ribe finden sie unter dramatischen Umständen mit der friesischen Sklavin Dineke, was sie brauchen, und damit geht es mitten hinein ins Abenteuer, das nicht nur in ein atlantishaft in der Nordsee versunkenes bronzezeitliches Reich, zu Seeungeheuern und stilecht auf Plünderungsfahrt nach England führt, sondern sich bald auch zur Weltrettung auswächst, scheint es der Besatzung der Schildmaid doch bestimmt zu sein, einen Riesen zu erschlagen und damit Ragnarök aufzuschieben. Aber kann das gelingen, wenn einem ein Gegner wie Ivar im Nacken sitzt – und sollte man den göttlichen Auftraggebern überhaupt vertrauen?

Gleich eingangs nennt die Erzählinstanz Schildmaid eine Saga, und in der Tat hat das Buch mit dieser literarischen Gattung des Mittelalters nicht nur den stellenweise gekonnt imitierten Erzähltonfall, die Neigung zu Brutalität und den gelegentlich aufblitzenden trockenen Humor gemein, sondern auch die Tatsache, dass es sich um eine mit phantastischen Zügen angereicherte Aufbereitung der Wikingerzeit handelt. Über diese hat das Autorenduo offensichtlich genau recherchiert und wartet nicht nur mit umfangreichen Mythologiekenntnissen, sondern auch mit einer Fülle manchmal nur im Nebensatz erwähnter kulturhistorischer Details auf, von dekorativen Guldgubbar bis hin zu in die Schneidezähne geritzten Rillen bei einer Kriegergruppe. Wann genau das Geschehen sich abspielt, bleibt gleichwohl offen, auch wenn man aus dem parallelen Auftreten der Königsnamen Harald und Horik und einer sehr eigenen Interpretation der Besiedlung Islands (immerhin: Eine Unn ist mit an Bord) auf das späte 9. Jahrhundert als wahrscheinliche Handlungszeit schließen kann.

Wer nun allerdings glaubt, ein klassisches Wikingerabenteuer, nur eben in weiblicher Besetzung, vor sich zu haben, dürfte sich wundern, denn Schildmaid wäre wohl kein Buch von Judith und Christian Vogt, wenn es nicht zugleich eine dezidierte Patriarchatskritik wäre. Wie wichtig dieser Aspekt den beiden ist, spricht auch aus dem Nachwort, das nicht nur ihre historischen Recherchen und ihre Sicht auf die Wikingerzeit erläutert, sondern auch auf heute immer noch bestehende Ungleichbehandlungen und Ungerechtigkeiten verweist und davor warnt, sich vergangenen Zeiten in dieser Hinsicht allzu überlegen zu fühlen.

Bei allem Spaß, mit dem Runenmagie, prachtvolle Knotenmusterornamente, ausgefeilte Dichtkunst und wilde Kämpfe heraufbeschworen werden, schwingt deshalb immer auch ein sehr ernster Unterton mit, und die unangenehmen Seiten der altnordischen Gesellschaft nehmen breiten Raum ein, von der Sklaverei über Menschenopfer im Zuge von Totenfolgebräuchen bis hin zu alltäglicher Gewalt, unter der vor allem die Frauen und Kinder leiden, aus der es aber auch für Männer, die gern ein anderes Leben führen würden, keinen einfachen Ausweg gibt.

In einem Fall sieht es in der Romanwelt diesbezüglich düsterer aus als in der Realität: Die Aussage, es gäbe keine Skaldinnen, sondern nur männliche Skalden, trifft historisch so pauschal nicht zu. Im Nachwort wird das glücklicherweise auch erwähnt (und die Situation im Buch damit erklärt, dass Tinna dann eben die erste Skaldin von allen gewesen sei), aber ein wenig hat man doch den Eindruck, dass hier kein Hoffnungsschimmer innerhalb der bestehenden sozialen Verhältnisse aufkommen soll und die Möglichkeit deshalb von vornherein ausgeschlossen wird. Folgerichtig endet die Reise der Schidmaid auch anders als die der meisten in historischen Sagas auftretenden Kämpferinnen: Während diese sich, sofern sie ihre Abenteuer überleben, in aller Regel in die Mehrheitsgesellschaft integrieren, ist der sperrigen Besatzung von Eyvors Schiff ein ganz anderes Schicksal bestimmt.

Der Weg zu diesem Ende verläuft spannend und gelegentlich auch ziemlich witzig (Fans altnordischer Mythologie dürften sich z. B. amüsieren, welche Rolle hier der aus dem Weltschöpfungsmythos bekannten Kuh Audhumbla zugedacht ist, die natürlich nicht fehlen darf, als es irgendwann gewissermaßen um die Erschaffung einer neuen Welt geht). Vor allem aber ist Schildmaid ein Buch, dem man anmerkt, dass es mit der (Berserker-)Wut im Bauch geschrieben wurde, die auch manche Charaktere verspüren. In seinem Plädoyer dafür, eigene Gemeinschaften zu schaffen und sich gegenseitig zu unterstützen, wenn einem die Gesellschaft die nötigen Freiräume versagt, folgt es aktuellen Trends der progressiven Phantastik und zeigt mit der Ansiedlung in der Wikingerzeit, die sonst eher die Domäne traditioneller Abenteuerezählungen ist, dass sich auch ein überkommenes Setting durchaus im Sinne der neuen Richtung im Genre nutzen lässt.

Judith und Christian Vogt: Schildmaid. Das Lied der Skaldin. München, Piper, 2022, 448 Seiten.
ISBN: 978-3-492-70598-1


Genre: Roman