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Der Donnerstagsmordclub

Dank ihrer gut verdienenden Tochter kann die ehemalige Krankenschwester Joyce es sich leisten, in der edlen Seniorenwohnanlage Coopers Chase im ländlichen Kent unterzukommen. Unerwartet wird sie dort in den sogenannten Donnerstagsmordclub hineingezogen, in dem die frühere Agentin Elizabeth, der nur so halb im Ruhestand befindliche Psychiater Ibrahim und der immer noch streitbare einstige Gewerkschaftsführer Ron zum Vergnügen versuchen, ungeklärte Mordfälle zu lösen. Gewöhnlich greifen sie dabei auf alte Akten zurück, die Elizabeths Freundin Penny, die einmal Polizistin war, nun aber längst im an Coopers Chase angrenzenden Pflegeheim dahinvegetiert, nicht ganz legal beschafft hat. Dann aber geschieht gewissermaßen vor der Haustür ein neuer Mord, und das Quartett kann natürlich nicht widerstehen, seinen detektivischen Spürsinn in der Praxis zu erproben. Dass man sich mit der jungen Polizistin Donna angefreundet hat, als sie in Coopers Chase war, um einen Vortrag zu halten, kann da ja nicht schaden. Doch obwohl alles zunächst recht vergnüglich beginnt, bleibt es nicht bei einer einzigen Leiche, und bald müssen die vier sich mit dem Gedanken auseinandersetzen, dass auch Personen aus ihrem engsten Umfeld Motive gehabt haben könnten, die Taten zu begehen …

Die Idee wacker ermittelnder Privatpersonen vorgerückten Alters, die nicht zuletzt auch dank ihrer Lebenserfahrung und ihres unkonventionellen Blicks auf die Welt der Polizei immer einen Schritt voraus sind, ist spätestens seit Agatha Christies Miss Marple nichts Neues mehr, aber Richard Osman setzt sie in seinem Donnerstagsmordclub mit viel Esprit und Humor um. Die Übersetzung von Sabine Roth fängt die pointierten Formulierungen, die den Charme des Buchs ausmachen, gekonnt ein. Die im Präsens gehaltenen personal erzählten Passagen aus unterschiedlichen Perspektiven, in denen auch mit nur in einem Schriftmedium möglichen Tricks gearbeitet wird (wenn z. B. bei einem Dialog lange offen bleibt, welchem Gesprächspartner die Äußerungen jeweils zuzuordnen sind), wechseln immer wieder mit Einträgen aus Joyce‘ Tagebuch. Obwohl sie es faustdick hinter den Ohren hat, übernimmt Joyce zunächst im gewissen Maße die Watson-Rolle an der Seite ihrer erfahreneren Detektivkollegen, unter denen sich insbesondere die mit allen Wassern gewaschene Elizabeth oft als unerwartet gut vernetzt und jedem Problem gewachsen entpuppt.

Nicht nur hinsichtlich der Leichtigkeit, mit der ihr und den anderen deshalb auch Unwahrscheinliches glückt, ist Realismus nicht gerade die größte Stärke des Romans. Dass es zu mancher Plotentwicklung hart an der Grenze der Glaubwürdigkeit eher deshalb kommt, weil die Handlung oder das Lesevergnügen es so erfordern, und nicht, weil sie sich unbedingt überzeugend aus dem bisher Geschilderten ergibt, muss man also hinnehmen. Das gilt auch für den Umstand, dass auffällig viele Leute hier eine Leiche im Keller (oder nicht unbedingt dort, aber doch eben eine Leiche) haben und diese Geheimnisse mehr tragische Verstrickungen nach sich ziehen, als der ursprüngliche Kriminalfall sie eigentlich gebraucht hätte.

Denn für einen auf den ersten Blick witzigen und leichtfüßigen Unterhaltungsroman werden hier durchaus Themen angeschnitten, die ziemlich starker Tobak sind, von Pflegebedürftigkeit, Demenz und Sterbehilfe bis hin zu mehreren Selbstmorden aus unterschiedlichen Gründen (so dass die Anzahl der durch Suizid Umgekommenen am Ende fast mit der von anderen Umgebrachter mithalten kann). Selbst Elizabeth, die sonst schier alles bewirken zu können scheint, steht dem fortschreitenden Verfall ihres Mannes und ihrer besten Freundin Penny hilflos gegenüber, und einige Geschichten gehen trauriger aus, als sie es zwingend müssten. In einem ausschließlich todernsten Buch wäre all das in dieser Fülle wohl schwer bis gar nicht erträglich, aber der Grundton bleibt über weite Strecken heiter, wenn auch manchmal bissig, und in einzelnen Nebenhandlungen überwiegt die Komik. So kann man sich z. B. darüber amüsieren, wie Donna daran geht, das auf den Hund gekommene (Liebes-)Leben ihres unglücklichen Vorgesetzten Chris gehörig auf Vordermann zu bringen, während sie ihre eigenen Baustellen diesbezüglich vernachlässigt.

Auch abgesehen davon kann man an den etwas überzeichneten Charakteren seinen Spaß haben, ob nun an dem dauerpolternden Ron, der immer noch gern auf die Barrikaden geht und auch jeden Anlass dazu nutzt, dem kultivierten Ibrahim, der alles bis auf seine eigene Eitelkeit präzise zu analysieren vermag, oder der nur scheinbar dauerunverdrossenen Joyce, die ebenso viele Kuchenrezepte wie kluge Beobachtungen parat hat. Kein Wunder also, dass der Roman sich erfolgreich verkauft und mit Der Mann, der zweimal starb, schon ein Folgeband auf dem Markt ist. Wenn man sie nicht allzu ernst nimmt und es gelassen sieht, dass die Hand des Autors oft überdeutlich mit im Spiel ist, kann man sicher gut auf weitere Abenteuer des Donnerstagsmordclubs einlassen.

Richard Osman: Der Donnerstagsmordclub. 12. Aufl. Berlin, List (Ullstein), 2021, 464 Seiten.
ISBN: 978-3-471-36014-9


Genre: Roman

Das Orakel in der Fremde

Das hier besprochene Buch ist der zweite Band eines Zweiteilers. Zur Rezension des ersten Bandes führt dieser Link.

Jahrzehnte sind ins Land gegangen, seit die Runde von Vertrauten um Ardoas, die Reinkarnation der Elfenmagierin Naromee, einen schweren Schicksalsschlag hinnehmen musste. Inzwischen hat sich im Felsentempel Beskadur eine lebendige Gemeinschaft herausgebildet, die zusammen wirtschaftet und forscht. Die Schergen des Magiers Erlun, der weiterhin das Orakel Niadaris gefangen hält, ruhen aber nach wie vor nicht. Allerdings gibt es Hoffnung: Endlich scheint sich abzuzeichnen, dass Naromees für die Elfen so wichtige Erinnerungen doch wieder zugänglich werden könnten. Um das zu erleichtern, begibt sich die ehemalige Söldnerin Jerudana noch einmal nach Ilbengrund und tritt mit einem ganz besonderen Begleiter die Rückreise nach Beskadur an. Aber wird diesmal gelingen, woran sie und ihre Liebsten schon einmal knapp gescheitert sind? Helfen könnte Ardoas‘ Tante und Mentorin Zordura, doch deren derzeitiger Aufenthaltsort ist unbekannt, und die Suche nach ihr wird zum gefahrvollen Abenteuer …

Es ist James A. Sullivan ernst mit dem schon im ersten Band beschworenen Doppelweg: Der Teilerfolg, den Ardoas und die Seinen errungen haben, reicht nicht aus, und so müssen, wieder gerahmt von einer Geburtstagsfeier und einer Beerdigung, bestimmte Stationen ein zweites Mal angelaufen und die erste Queste und ihr Ergebnis noch deutlich übertroffen werden, um ans Ziel zu gelangen. Während sich aber der Held des klassischen Artusromans zumeist relativ bald nach seinen ersten Abenteuern ein zweites Mal beweisen muss, sind seit dem Erbe der Elfenmagierin über dreißig Jahre vergangen und haben ihre Spuren hinterlassen. Daludred und Jerudana sind gealtert und herangereift, und obwohl diesbezüglich für Elfen etwas andere Spielregeln als für Menschen gelten, ist auch Ardoas ein anderer, als er wieder ins Geschehen eingreift. Doch die Veränderungen beschränken sich nicht auf individuelle Schicksale. Gerade das erste Viertel des Romans befasst sich immer wieder mit dem Thema, wie Einzelpersonen oder kleine Gruppen den Anstoß zu weitreichenden Entwicklungen liefern können, die gleichwohl nicht überall auf Gegenliebe stoßen.

Dies bleibt nicht die einzige Anspielung auf aktuelle Themen, denn trotz der Ansiedlung der Geschichte in einer vormodern anmutenden Welt ist der Roman dezidiert progressiv, und so finden sich hier auch Kritik an dem, was wir heute unter dem Begriff der „kulturellen Aneignung“ fassen würden, immer wieder Verweise auf die bittere Sklavereivergangenheit der Elfen, Überlegungen zu Machtstrukturen (etwa durch Altersunterschiede in einer Liebesbeziehung) und eine selbstverständliche Vielfalt nicht nur an Fantasywesen, sondern auch an Hautfarben und Geschlechtsidentitäten (die jenseits der Unterscheidung in Frau und Mann durch ein kreatives Pronomensystem beschrieben werden). Eine große Rolle spielen abermals Reinkarnationserfahrungen, einerseits phantastisch-wörtlicher Art, dann aber auch in Form metaphorischer Wiedergeburten, wenn eine Person in ein- und demselben Leben noch einmal ein ganz neues Kapitel aufschlägt.

Als zweites Leitmotiv tritt neben das schon im ersten Band immer wieder aufscheinende des Zweifels hier dasjenige des Lobs der positiven Aspekte von Gemeinschaft und gegenseitiger Unterstützung. Ohnehin liest es sich erfrischend, wie sehr die Hauptfiguren stets um einen respekt- und vertrauensvollen Umgang miteinander und mit Dritten bemüht sind. Auch stilistisch geht James A. Sullivan teilweise neue Wege, die sich von der Fantasytradition der letzten paar Jahrzehnte absetzen: So wird im personalen Erzählen nicht immer strikt eine Perspektive durchgehalten, sondern durchaus einmal effektvoll gewechselt, und der typische Erzählerbericht wird durch Einschübe in Form von Tagebucheinträgen aufgelockert, die weniger szenisch angelegt sind. Erwartungen werden aber nicht nur in dieser Hinsicht gebrochen, sondern auch handlungsmäßig: Glaubt man, ein vertrautes Motiv vor sich zu haben, wird es oft  spielerisch abgewandelt oder ganz anders aufgelöst, als man es erwarten könnte. Kein Wunder, dass da in kritischer Situation selbst ein gestandenes Orakel angibt, das Ende nicht vorausahnen zu können!

Trotz aller modernen Elemente ist Das Orakel in der Fremde aber auch stark von James A. Sullivans Wissen über mittelalterliche Literatur geprägt (z. B. taucht ein deftiger Begriff aus dem Werk Neidharts leicht abgewandelt als Vokabel der Elfensprache auf, und es gibt eine Gestalt namens Ithaunje, deren Partner eine ähnlich ambivalente Rolle spielt wie der Geliebte der Itonje im Parzival). Hier wie auch beim Schöpfen aus einer zweiten (wenn auch von der ersten zumindest mittelbar beeinflussten) literarischen Tradition, nämlich der der abenteuerlichen Questenfantasy, ist überdeutlich, dass der Autor sich die im ersten Band auf die Elfen bezogene Maxime selbst zu eigen gemacht hat, Überkommenes zu hinterfragen, aber das Gute daran durchaus zu bewahren. Denn neben ruhigeren und philosophischen Passagen verfügt der Roman über alles, was an dieser Art von Fantasy Spaß macht: eine ausgedehnte Welt mit unterschiedlichsten Kulturen, eindrucksvolle Gebäude, actionreiche Kämpfe (darunter manche auch auf Luftschiffen), kühne Rettungsmissionen, rätselhafte Artefakte sowie magische Geheimnisse aller Art. Auch eine schön gestaltete Landkarte (in zwei Teilen) fehlt natürlich nicht.

So ist letztlich auch James A. Sullivans gelungene Rückkehr in die Fantasy ein Doppelweg eigener Art, der in vertrauten Gefilden noch einmal eine ganz neue Richtung einschlägt und aufzeigt, welche unerwarteten Möglichkeiten das Genre bieten kann, ohne dass man auf vertraute Vorzüge verzichten muss.

James A. Sullivan: Das Orakel in der Fremde. Die Chroniken von Beskadur 2. München, Piper 2022, 432 Seiten.
ISBN: 978-3-492-70672-8


Genre: Roman

Im Schatten der Esse

In ihrer Kindheit und Jugend hat die Schmiedegesellin Zita viel Unschönes erlebt, und auch als sie in der von Kriegsverwüstungen tief gezeichneten Wildermark auf die Walz geht, hat sie es nicht unbedingt leicht. Auf der Flucht vor einem Räuber verirrt sie sich im Wald. Der undurchsichtige Halbork Alrik, auf den sie dort trifft, nimmt sie mit in das Dorf, in dem er nur widerwillig als Hilfsarbeiter geduldet wird. Zwar findet Zita hier über den Winter ihr Auskommen, doch es mehren sich die Anzeichen, dass etwas Bedrohliches im Gange ist: Orks treiben ebenso ihr Unwesen wie allerlei kriegerische Menschen, die das Machtvakuum in der Gegend ausnutzen, um die Herrschaft über einzelne Orte an sich zu reißen, und geheimnisvolles Sternenmetall weckt Begehrlichkeiten. Als die Gesellin schon ans Weiterziehen denkt, überschlagen sich auf einmal die Ereignisse, und sie begegnet unter dramatischen Umständen dem Junker Ulfberth, an dessen Seite ihr Abenteuer noch ganz andere Formen annimmt …

Im Schatten der Esse, das Romandebüt von Judith C. Vogt, ist mittlerweile über zehn Jahre alt, braucht sich aber vor ihren neueren Werken nicht zu verstecken. In der Welt des Rollenspiels Das Schwarze Auge angesiedelt (über das man allerdings dank eines Glossars nichts im Voraus wissen muss, um das Buch zu verstehen), ist es von der Kulisse her ein eher traditioneller Fantasyroman mit ebenso bösartigen wie hässlichen Orks als Schurken und Gestalten wie einem trinkfreudigen Zwergenschmied, der immer wieder einmal für humoristische Einlagen in der ansonsten ernsten und bisweilen auch blutigen Geschichte sorgen darf. Einige Passagen sind recht verstörend (seien es nun Zitas schmerzliche Erinnerungen oder eine happige Folterszene, in der nicht die Antagonisten die Ausführenden sind). Unter dieser Oberfläche verbirgt sich aber mehr, als man vielleicht auf den ersten Blick erwarten würde.

Gerade im Vergleich zu jüngeren Texten wie etwa Anarchie Déco ist es interessant, zu sehen, wie viel Typisches hier bereits zu erkennen ist. Denn auch wenn Judith C. Vogts progressive Ideale in ihrem aktuellen Schaffen vordergründiger ausgearbeitet sein mögen, ist das Bewusstsein für Ungerechtigkeiten und die Sorgen und Nöte von Personen, die von der Gesellschaft an den Rand gedrängt werden, offensichtlich viel älter. Nicht anders ist es mit dem Gespür dafür, was Traumata und die Befürchtung, nicht ernstgenommen zu werden, wenn man für sich selbst eintritt, in einem anrichten können, insbesondere auch in einem Umfeld, in dem die latente Bedrohung durch physische und sexuelle Gewalt erschreckend alltäglich ist.

Bei der Ich-Erzählerin Zita, die sich oft lieber als Schmied denn als Schmiedin bezeichnet und einen klassisch femininen Habitus für sich ablehnt, kann man sich sogar fragen, ob in ihr nicht schon manche Züge angelegt sind, die später in einer Figur wie Nike in Anarchie Déco, die sich einer Einordnung als Frau oder Mann entzieht, eindeutiger zum Tragen kommen. Nach strahlenden Auserwählten sucht man auch in diesem Buch schon vergebens; die rettende Tat im wilden Showdown müssen vom Leben Gebeutelte vollbringen, die durchaus auch das Potenzial haben, viel Unheil anzurichten, und selbst schon schuldig geworden sind. Umso erfreulicher ist es, dass die Lösung eines zentralen Problems nicht in Kampfkraft allein liegt, sondern im geschickten Einsatz ganz anderer Fähigkeiten und in der Zusammenarbeit miteinander.

Abgesehen von diesen nachdenklichen Elementen bietet Im Schatten der Esse aber nach einem ruhigen Anfang auch flotte Dialoge, actionreiche Kämpfe, ein spannend aufgebautes Questenabenteuer und daneben Schilderungen, die viel Begeisterung für das Schmiedehandwerk verraten, die sich sogar in der Namensgebung niederschlägt (so ist es sicher kein Zufall, dass Ulfberth zwar selbst kein Schwert herstellt, aber doch eines geschenkt bekommt). Für alle, die Spaß an klassischen Fantasysettings haben und sich von einem eher düsteren Grundton nicht abschrecken lassen, lohnt sich also der Ausflug in die Wildermark.

Judith C. Vogt: Im Schatten der Esse. Erkrath, FanPro, 2011, 400 Seiten.
ISBN: 978-3-89064-125-6


Genre: Roman

Der vermisste Weihnachtsgast

Das hier besprochene Buch ist Teil einer Reihe. Die Rezension des unmittelbar vorhergehenden Bandes ist hier zu finden.

Als Leiter der Mordkommission genießt Armand Gamache eigentlich großes Ansehen, aber der Konflikt zwischen ihm und seinem bösartigen Vorgesetzten Sylvain Francoeur nimmt immer unerfreulichere Formen an. Da ist es fast schon eine Erleichterung, als die Buchhändlerin Myrna, eine von Gamaches Bekannten aus dem beschaulichen Dorf Three Pines, ihn um Hilfe bittet: Ihre Freundin Constance, die sie über die Weihnachtstage besuchen wollte, ist nicht zum verabredeten Zeitpunkt erschienen. Ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheiten sich, als Constance ermordet aufgefunden wird. Schnell erweist sich, dass die scheinbar so unauffällige alte Dame in jüngeren Jahren ungewollt eine Berühmtheit war. Wer genug gegen sie gehabt haben könnte, um sie zu erschlagen, lässt sich dennoch nicht im Handumdrehen entschlüsseln. Unterdessen werden Francoeurs Intrigen zur Bedrohung auch für andere Menschen als Gamache, insbesondere für seinen Protegé Jean-Guy Beauvoir, der an seiner von Francoeur geförderten Medikamentensucht zu zerbrechen droht …

Im neuesten ihrer auf Deutsch erschienenen Krimis (der unerklärlicherweise vor dem Folgeband herausgekommen ist, der mit Kenntnis der hier geschilderten Geschehnisse viel mehr Sinn ergibt) fährt Louise Penny einiges auf – so viel, dass die eigentlichen Mordermittlungen fast schon ins Hintertreffen geraten. Armand Gamache muss zwar nicht ganz die Welt retten, aber doch weitaus größere Probleme bewältigen, als sie sonst in die Kompetenz eines Mordermittlers fallen, und neben einem Verbrechen unglaublichen Ausmaßes auch noch eine politische Katastrophe verhindern. Zusammen mit dem Showdown in Westernmanier, der zu guter Letzt auf ihn wartet, ist das alles reichlich dick aufgetragen.

Wenn man Louise Penny diese doch etwas überzogene Herangehensweise verzeiht, dann deshalb, weil ihre Figuren wieder einmal großen Spaß machen. Die allesamt etwas exzentrischen Leute von Three Pines, die dennoch das Herz auf dem rechten Fleck haben, dürfen in diesem Band zusammenarbeiten, um Gamache zu unterstützen, und sind mit ihren Eigenarten und Marotten liebenswert wie eh und je gezeichnet. Auch der Schauplatz Three Pines selbst gehört natürlich nach wie vor zu den Pluspunkten der Reihe. So kommt trotz aller fürchterlichen Ereignisse durchaus ein bisschen wohlige Winterstimmung auf, und an kulinarischen Genüssen mangelt es natürlich auch nicht.

Die Hintergründe des eigentlichen Mordfalls sind, wie so oft bei Louise Penny, in unglücklichen zwischenmenschlichen Beziehungen im engsten Umfeld des Opfers zu suchen. Wer schon einige ihrer Krimis gelesen hat, wird vermutlich bemerken, dass hier zum wiederholten Mal ein ganz bestimmter Personentyp zum Mörder wird. Fast ist man deshalb froh, dass hinter einem zweiten gewaltsamen Todesfall, zu dem es kommt, ganz andere Motive stecken.

Doch wie oben schon angedeutet, ist dieses Buch eigentlich nur teilweise ein typischer Krimi. Im Vordergrund steht bis zu seiner überdramatischen Auflösung das schon seit mehreren Bänden immer weiter aufgebaute Ringen zwischen Gamache und Francoeur, mit Folgen, die für die Weiterentwicklung bestimmter wiederkehrender Figuren entscheidend sind. Als Fan von Three Pines allgemein hat man daher garantiert Spaß an der Lektüre, auch wenn es Romane gibt, in denen der eigentliche Kriminalfall aufregender und besser konstruiert ist.

Louise Penny: Der vermisste Weihnachtsgast. Der neunte Fall für Gamache. Zürich, Kampa, 2021, 576 Seiten.
ISBN: 978-3-311-12030-8

 


Genre: Roman

Balmsund: Fegefeuer

Ein harter Winter hat den abgelegenen Fischerort Balmsund fest im Griff, als in einem Kanalschacht die Leiche eines außerordentlich gut gekleideten jungen Mädchens gefunden wird. Die Polizistin Lisbeth Wolf trägt zunächst allein die Verantwortung für die Ermittlungen, weil ihr Vorgesetzter Adam Canetti wegen eines anderen Falls abwesend ist, und hat damit zu kämpfen, dass es keine heiße Spur gibt: Niemand scheint die Tote zu kennen. Nach Adams Rückkehr finden sich bei der Inaugenscheinnahme der nahen verlassenen Kirche zwar erste Anhaltspunkte, aber so manches bleibt dennoch rätselhaft: Warum verhält sich der junge Pflegesohn des Bestatters sonderbar? Was hat es mit dem geplanten Bauprojekt auf dem Kirchengelände auf sich, und welche Rolle spielt der Campingplatz, auf dem selbst bei Eis und Schnee noch exzentrische Dauerbewohner ausharren? Dass Lisbeth gleichzeitig mit unterschwelligen Eheproblemen konfrontiert ist und Adam vergeblich darum ringt, mit einer belastenden Vergangenheit abzuschließen, macht die Sache natürlich nicht unbedingt einfacher. Nach einiger Zeit scheint es dennoch genug Indizien zu geben, die darauf hindeuten, wer hinter dem Mord stecken könnte – doch dann wird eine zweite Leiche gefunden …

Christian Wagnon legt mit Balmsund: Fegefeuer einen spannenden Krimi vor, der geschickt die klaustrophobische Atmosphäre nutzt, die sich aus der Ansiedlung der Handlung in einer zwar nicht komplett von der Außenwelt abgeschnittenen, aber doch kleinen und durch enge persönliche Verflechtungen gekennzeichneten Gemeinde ergibt. Hier kennt jeder jeden, und der Kreis der eigenen engsten Bezugspersonen und die Liste der Verdächtigen können sich schnell überschneiden, zumal viele Ortsansässige etwas zu verbergen haben. So sind Polizeiarbeit und Privates schwieriger zu trennen als in der Anonymität einer Großstadt. Auch dorthin gibt es allerdings so manche Verbindung, nicht nur im eigentlichen Mordfall, sondern auch dadurch, dass Adam aus der Hauptstadt in die Provinz versetzt worden ist und unter seinen alten Kollegen eine nicht unbedingt ausschließlich wohlgesonnene Bekannte hat, deren ambivalente Präsenz im Hintergrund die Lage noch ein wenig ungemütlicher macht.

Darüber hinaus neigen einige der Romanfiguren, die alle ihr Päckchen zu tragen haben, zu Albträumen oder schaurigen Gedanken über Zombies und weitere Schrecken, ganz zu schweigen davon, dass es in der Gegend auch verstörende Geschichten über untergegangene Fischkutter und männermordende Meerjungfrauen gibt. So schwingt ein ständiger Grundton von Grusel und Bedrohung mit. Auch die immer wieder eingeflochtenen Naturbeobachtungen haben oft etwas Unheimliches. Die Düsternis wird aber durch kleine Freuden wie Kuchen oder Grog aufgelockert, gelegentlich sogar durch einen Schuss Humor: Adam sieht etwa nach eigener Einschätzung mit Bart aus „wie ein völlig zugewachsener bissiger Troll“(S. 56).

Ungewohnt für einen in der Gegenwart spielenden Krimi ist, dass Balmsund sich einer konkreten geographischen Verortung entzieht. Die Anmutung ist im weitesten Sinne nordeuropäisch, und das Orts- und Personennamenmaterial orientiert sich überwiegend an skandinavischen, baltischen, niederländischen, englischen und deutschen Vorbildern, aber in welchem Land genau Balmsund nun weit abseits der nicht namentlich genannten Hauptstadt liegt, wird nie explizit gemacht. Das ist angesichts der Fülle von Romanen, die als Kulisse von Mordermittlungen reale Regionen in In- und Ausland nutzen, durchaus auffällig, funktioniert aber mit seiner Mischung aus Küstenflair und Winterstimmung gut.

Was sich an der rauen Küste abspielt, steigert sich Stück für Stück zu einem dramatischen Showdown, in dem Lisbeth mit alten Ängsten konfrontiert wird und sich einigen Wahrheiten stellen muss. Doch damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende, und das nicht nur, weil die Hintergründe des Geschehens sich als ziemlich kompliziert erweisen und noch mehr als eine unerwartete Wendung auf das Polizeiteam wartet. Christian Wagnon gönnt seinem Roman einen allmählichen Ausklang, in dem noch einiges abseits vom hauptsächlichen Fall geklärt wird, aber genügend Anknüpfungspunkte für eine Fortsetzung erhalten bleiben, die nach den Angaben im Buch auch tatsächlich für 2022 geplant ist. Da Lisbeth Wolf und Adam Canetti ansprechende und differenziert gezeichnete Charaktere sind, kann man sich auf ihre nächsten Ermittlungen freuen.

Christian Wagnon: Balmsund: Fegefeuer, Dresden 2021. E-Book (über Amazon zu beziehen).
ASIN: B09HHPLJKB


Genre: Roman

Der Buchspazierer

Der Buchhändler Carl Kollhoff ist eigentlich schon im Ruhestand, aber nicht ganz – an einzelne Kunden in der pittoresken Kleinstadt, in der er lebt, liefert er immer noch jeden Abend Buchbestellungen persönlich aus. Wie lange es damit noch weitergehen kann, ist allerdings offen, denn die neue Inhaberin der Buchhandlung ist nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen erpicht darauf, den in ihren Augen lästigen alten Mann endlich ganz aufs Abstellgleis zu drängen. Doch Carl hängt an seinen Gewohnheiten und möchte keine Veränderung, zunächst noch nicht einmal die, dass sich ihm auf seiner Runde durch die Stadt ein munteres kleines Mädchen anschließt. Aber Schascha ist hartnäckig und verändert nicht nur Carls Leben zum Besseren, sondern auch das der Buchbesteller, bis alles dann jäh eine böse Wendung nimmt …

Die Kapitelüberschriften, die bekannten Buchtiteln entlehnt sind, und die Figuren, die romanintern als Spitznamen die Namen anderer literarischer Gestalten bekommen, zeigen es schon: Der Buchspazierer von Carsten Henn ist eine Geschichte über die Macht des Lesens und auch die menschenverbindende Kraft, die einer gemeinsamen Freude an Büchern innewohnt. Dabei soll erkennbar niemand überfordert werden: Die Handlung verläuft so geradlinig, dass man ihr manchmal im Stillen ein paar Umwege wünscht, und die Rollen sind von Anfang an klar verteilt. Bestimmte Entwicklungen und Konflikte kommen deshalb nicht unbedingt überraschend.

Aber ein Spannungsroman mit einer Fülle unvorhersehbarer Wendungen soll das Buch auch gar nicht sein. Vielmehr beschwört es voller Nostalgie herauf, was verloren geht, wenn man den Buchhandel nur als Branche wie jede andere betrachtet und die menschliche Komponente, die persönliche Buchempfehlungen erst zu etwas Besonderem macht, vernachlässigt. Passend dazu ist Der Buchspazierer auch in einer historischen Altstadt unterwegs, die eine gute alte Zeit zu evozieren scheint, und dass die Lösung nicht aller Probleme, aber doch eines entscheidenden gegen Ende des Buchs ausgerechnet mit einem Antiquariat zusammenhängt, ist sicher ebenfalls gewollt.

Bestimmt wird dabei nicht jedem gefallen, dass am Schluss rein zufällig (oder eben auch nicht) verdächtig viele günstige Umstände zusammenkommen, um Carls Geschichte (und auch die Schaschas und die der in der Stadt ansässigen Leserinnen und Leser) nicht in einer Tragödie enden zu lassen. Ob auch im wahren Leben genug Geld und guter Wille vorhanden wären, um möglich zu machen, was sich hier ergibt, weiß man nicht so recht. Aber da die Figuren überwiegend sympathisch gezeichnet sind, gönnt man ihnen den optimistischen Ausgang, und auf dem Weg dorthin darf immerhin ein paar Mal kräftig gelacht werden (wenn etwa jemand, dem die Handlung von Goethes Werther geschildert wird, das mit „Hammerende!“ kommentiert). Alles in allem ist Der Buchspazierer eine nette kleine Lektüre für Bücherfans und solche, die es vielleicht erst noch werden wollen, denn dass es dafür nie zu spät ist, nimmt man als Botschaft aus dem Roman mit.

Carsten Henn: Der Buchspazierer. 14. Aufl. München, Pendo (Piper Verlag), 2021, 224 Seiten.
ISBN: 978-3-86612-477-6


Genre: Roman

Quartett im Herbst

Vier Londoner Angestellte kurz vor dem Ruhestand teilen sich ein Büro, aber sonst bis auf die Kaffeedose nicht viel, obwohl sie alle alleinstehend und auf ihre Art einsam sind. Marcia hat eine Krebsoperation hinter sich und redet sich ein, auf sämtliche Wechselfälle des Lebens vorbereitet zu sein, während Norman sich in ein zynisches Auftreten flüchtet, um nicht zugeben zu müssen, dass er sich nach mehr sehnt als einem trübseligen Dasein als Untermieter. Letty dagegen gibt sich angepasst, überlässt aber gerade dadurch zu oft anderen die Entscheidung über ihr Leben; Edwin schließlich ist in zahlreichen Kirchengemeinden aktiv, ohne wirklich dazuzugehören. Unerwartete Ereignisse insbesondere im Leben der beiden Frauen sorgen dafür, dass die vier Kollegen doch noch enger zusammenrücken, als es sich bisher ergeben hat – aber die Dinge nehmen einen tragischen Verlauf, und am Ende wird von dem Quartett nur noch ein Trio übrigbleiben …

Mit Quartett im Herbst, das im Original schon 1977 erschien, ist Barbara Pym ein ebenso todtrauriger wie humorvoller Roman gelungen. Im Grunde ist die Geschichte von Vergänglichkeit, verpassten Chancen und unausweichlichem Sterben deprimierend. Dass sie einen dennoch nicht völlig verstört und niedergeschlagen zurücklässt, ist der scharfen Beobachtungsgabe der Autorin zu verdanken, die mit spitzer Feder Menschliches und Allzumenschliches karikiert und einen dabei immer wieder auch zum Lachen über Ernstes bringt. Das gilt übrigens nicht nur aus Lesersicht: In einer Szene im letzten Buchdrittel, auf die im weiteren Verlauf noch mehrfach angespielt wird, brechen Edwin und Norman aus einem eigentlich von Besorgnis getragenen Gespräch heraus in Gelächter aus – teils aus Nervosität, teils aber auch in der Erkenntnis, dass Existenzielles und Lächerliches oft nahe beieinanderliegen.

Neben dem zielgenauen Aufspießen individuellen Versagens schwingt in Barbara Pyms von Sabine Roth kongenial übersetzten Schilderungen aber immer wieder auch ein gerüttelt Maß an Gesellschaftskritik mit, wenn etwa eingefahrene Verhaltenserwartungen, alltäglicher Rassismus und der herablassende Umgang mit Alten, Kranken und generell Hilfsbedürftigen aufs Korn genommen werden. Trotz dieses klaren Blicks auf Welt und Menschen ist das Buch nicht immer ohne Widersprüche: So ist Edwin angeblich Vegetarier (S. 144), wählt aber, als ein Konservenvorrat aufgeteilt werden soll, ausgerechnet „Frühstücksfleisch und Schmorsteak“ für sich aus (S. 232).

Den positiven Gesamteindruck trüben solche Kleinigkeiten allerdings kaum, und es berührt und unterhält in gleichem Maße, den differenziert gezeichneten Figuren auf ihren oft schon ausgetretenen, manchmal aber auch neu gebahnten Wegen durch ein London abseits von Weltstadtflair und Touristenrummel zu folgen. Obwohl die Geschichte für ein Mitglied des ursprünglichen Quartetts ein düsteres Ende nimmt, lässt Barbara Pym den Roman nicht ohne Hoffnungsschimmer für die verbliebenen drei ausklingen: Auch wenn man schon im Herbst des Lebens steht, so die mitschwingende Botschaft, kann man noch begreifen, dass man mehr Dinge selbst in der Hand hat, als man je anzunehmen gewagt hätte. Die Zeitlosigkeit dieser Moral bestätigt einmal mehr, was man schon bei der Lektüre von In feiner Gesellschaft geahnt hat: Barbara Pym ist als Autorin eine wahre Entdeckung, deren Bücher mit den Jahrzehnten nichts von ihrem Reiz verloren haben.

Barbara Pym: Quartett im Herbst. Köln, DuMont, 2021, 240 Seiten.
ISBN: 978-3-8321-8164-2


Genre: Roman

Das Erbe der Elfenmagierin

Auf dem Elfen Ardoas ruhen große Erwartungen: Als jüngste Inkarnation der Elfenmagierin Naromee, die schon vielfach wiedergeboren worden ist, kann nur er den Schlüssel zu ihren Erinnerungen finden, die seine Gemeinschaft für entscheidend für ihr weiteres Gedeihen hält. Es gibt nur eine Schwierigkeit: All seine Seelengeschwister (wie er die vorhergehenden Inkarnationen nennt) haben bei dem Versuch, in der Fremde Naromees Erinnerungen auf die Spur zu kommen, den Tod gefunden. So soll Ardoas auf Wunsch seiner Eltern lieber friedlich seine Studien treiben, als sich in die Ferne zu wagen. Natürlich verschlägt es ihn auf Umwegen doch noch dorthin, denn ihm wird schnell klar, dass vermutlich nur das Orakel Niadaris ihm weiterhelfen kann, eine hellseherisch begabte Person, die angeblich in einem entlegenen Felsentempel lebt. Auch der junge Adlige Daludred, der ähnlich wie Ardoas gegen den Willen seiner Eltern in die Welt gezogen ist, möchte Niadaris finden, um seine eigene Sehergabe schulen zu können. Die beiden hoffen, gemeinsam ans Ziel zu kommen. Doch leider geht auch das Gerücht, dass der Tempel Schätze birgt. Das weckt natürlich Begehrlichkeiten, und so sind den jungen Männern bald ein zwielichtiger Händler, verschiedene Söldnerhaufen und ein undurchsichtiger Magierbund auf den Fersen. Die Söldnerin Jerudana scheint die besten Aussichten zu haben, die Gesuchten als Erste aufzuspüren – doch als sie erkennt, dass in den eigenen Reihen Verrat lauert, muss sie noch einmal überdenken, was sie mit Ardoas und Daludred nun eigentlich anfangen will …

Nach mehreren Science-Fiction-Romanen kehrt James A. Sullivan mit seinem neuen Buch Das Erbe der Elfenmagierin in die Fantasy zurück, die sich bei ihm – wie schon aus Nuramon gewohnt – fast wie die moderne Entsprechung eines mittelalterlichen Artusromans liest: eine Geschichte voller Abenteuer, Kämpfe und Liebe, aber auch mit dem ein oder anderen philosophischen Moment, die mit einer magiedurchtränkten Welt und einer bunten Figurenfülle aufwartet. Diesmal hat vor allem der Parzival Wolframs von Eschenbach als Inspirationsquelle gedient, und das nicht nur, weil die Ausgangssituation des Helden, der aus elterlicher Liebe von der Welt ferngehalten wird, um nicht die tödlichen Fehler vorhergehender Generationen (bzw. hier: Inkarnationen) zu wiederholen, sich gleicht (wobei im Einstieg mit einer bedeutungsvollen Geburtstagsfeier natürlich zugleich ein Augenzwinkern in Richtung Tolkien mitschwingt). Vielmehr kehrt fast leitmotivisch der Begriff des Zweifels wieder, der den vieldiskutierten zwîvel der Eingangsverse des Parzival evoziert, und auch die Art, wie Jagd und Gewaltausübung als oft unumgängliche, aber für den Helden emotional doch zweischneidige Tätigkeiten gezeichnet werden, hat bei Wolfram Vorbilder. Dass diese und manch andere Parallelen nicht etwa unbewusst eingeflossen sind, sondern Methode haben, zeigt sich an deutlicheren Anspielungen, die das Mediävistenherz erfreuen: So diskutieren z. B. zwei Romanfiguren ganz offen über die anscheinend auch in ihrer Welt für epische Dichtung typischen Doppelwege, zu denen es vorzüglich passt, dass der Roman der Einstiegsband eines Zweiteilers ist.

Doch Das Erbe der Elfenmagierin ist eben zugleich auch ein modernes Buch, das sich keinem mittelalterlichen Ethos, sondern progressiven Idealen verschrieben hat. James A. Sullivan wählt dabei den Weg, Probleme unserer Welt nicht einfach durch eine phantastische Entsprechung darzustellen, sondern hält der heutigen Gesellschaft einen Spiegel vor, indem er für Ardoas und seine Umgebung vieles, was in der Realität bestenfalls geduldet, aber doch nicht voll und ganz akzeptiert ist, schiere Normalität sein lässt. Diversität (ob nun an Hautfarben, Geschlechtsidentitäten oder sexuellen Orientierungen), Gleichberechtigung und Liebesbeziehungen, die sich nicht nur auf zwei Personen beschränken, sind hier selbstverständlich und stellen einen vor die Frage, ob das Gewohnte und Gewöhnliche tatsächlich immer naturgegeben ist oder ob Traditionen nicht auch willkürliche Elemente enthalten mögen.

Mit dem Stichwort Traditionen – die einerseits zwar als Kitt geschildert werden, der insbesondere verfolgte Gruppen zusammenhält, andererseits aber auch in ihrer Hinterfragbarkeit beleuchtet werden – ist auch schon eines der Themen benannt, die James A. Sullivan schon in seinen älteren Werken beschäftigen, hier aber noch klarer und prononcierter ausgearbeitet werden als etwa in Nuramon. In diesen Kreis gehören auch das Motiv der Fremdheitserfahrung, das der Weltenreisenden, die sich – ihrem eigenen Ursprungskontext entrissen und nach langer Zeit in der Sklaverei – selbst eine Zuflucht schaffen müssen, das des nach menschlichen Maßstäben außergewöhnlich langen (ggf. magisch verlängerten) Lebens und das der Reinkarnation. Die Kombination der beiden letztgenannten Phänomene bringt Ardoas in einige interessante Situationen, denn wie geht man etwa damit um, wenn man wiedergeboren der noch lebenden Geliebten seiner letzten Inkarnation gegenübersteht? Auch die Freude des Autors an Sprache ist dem Roman anzumerken, und so kann es auch schon einmal passieren, dass ein romantisches Nachtgespräch nahtlos in eine linguistische Erörterung derbster Flüche übergeht, um dann doch noch ebenso deftig wie elegant den Bogen zurück zum Ausgangsthema zu schlagen.

Falls das aber nun alles nach gedankenschwerer Lektüre klingt, keine Sorge: Das Erbe der Elfenmagierin verpackt all diese Überlegungen mit leichter Hand in eine spannende Handlung, die zwar noch recht beschaulich mit Bibliotheksrecherchen beginnen mag, aber im Laufe der Zeit immer mehr Fahrt aufnimmt und gegen Ende äußerst actionreich auf eine tragische Wendung hinführt, mit der man im ersten Band einer Reihe so nicht rechnet. Gut also, dass Band 2, Das Orakel in der Fremde, schon im nächsten Jahr erscheint, denn wie es weitergeht, möchte man nach der Lektüre des Erbes der Elfenmagierin (das übrigens mit einer Karte zum Ausklappen und geprägtem Cover auch äußerlich schön gestaltet ist) unbedingt wissen.

James A. Sullivan: Das Erbe der Elfenmagierin. Die Chroniken von Beskadur 1. München, Piper, 2021, 448 Seiten.
ISBN: 978-3-492-70671-1


Genre: Roman

Die Katzenäugige 2: Kinder des Krieges

Das hier besprochene Buch ist Band 2 einer Reihe. Die Rezension von Band 1 ist hier zu finden.

Seit Monaten ist die Katzenäugige in der Menschenstadt gefangen. Der Priester Yanta, der sie mit einer Mischung aus Verachtung und Begehren behandelt, hat sich immer schlechter in der Gewalt, und nicht nur das sorgt dafür, dass sie endlich die Kraft findet, sich aufzulehnen. Die Herrscherin Paqari dagegen bekommt es mit dem fremden Besucher Cahal zu tun, der Menschen geschickt zu manipulieren weiß und dessen Anwesenheit stärker denn je deutlich werden lässt, dass die vordergründige Harmonie in der Stadt nur eine schöne Fassade ist. Als die Katzenäugige einen Fluchtversuch unternimmt und Paqari eingreift, führt das zu einer entscheidenden Änderung im Verhältnis der beiden jungen Frauen zueinander …

Der zweite Band von Judith C. Vogts Fantasyreihe um Die Katzenäugige schließt nahtlos an den ersten an und ist nicht als unabhängige Erzählung zu lesen. Die Kinder des Krieges sind aber eine würdige Fortsetzung des Waldes der Welt, in der sich die Geschichte ebenso spannend wie düster, oft genug auch ziemlich gewalttätig, weiter entfaltet. Immer deutlicher treten die Parallelen zwischen der Katzenäugigen und Paqari hervor, die sich trotz ihrer auf den ersten Blick so unterschiedlichen Stellung – hier die entrechtete Gefangene, dort die erhabene Herrscherin – letzten Endes in einer ähnlich hilflosen Situation befinden.

Während die Katzenäugige dem immer verstörenderen Verhalten Yantas ausgeliefert ist, wird Paqaris Autorität heimlich von mehr als nur einer Person untergraben, ganz zu schweigen davon, dass ein Mensch in der Stadt auch um ein Geheimnis weiß, das sie leicht ganz die Macht kosten könnte. Kein Wunder also, dass beide Frauen im Laufe der Handlung auf jeweils eigene Art einen Ausbruch wagen – und im Zuge dessen an (vermeintliche) Helfer geraten, die Hintergedanken haben und nicht halb so vertrauenerweckend sind, wie sie gern wirken wollen. Insbesondere der auch als Erzählerfigur in einer Rahmenhandlung fungierende und nicht notwendigerweise zur Bescheidenheit neigende Cahal spielt hier eine wichtige Rolle. Fast noch bedrohlicher ist aber insbesondere für die Katzenäugige die Erkenntnis, dass leidvolle Erfahrungen und Erlebnisse einen nicht unverändert lassen. Die Frau, die hier den Aufstand probt, ist nicht mehr dieselbe, die aus dem Wald in die Menschenwelt verschleppt worden ist, und ihr Ringen mit diesem ungewollten Wandel ist glaubhaft geschildert. Das könnte deprimierend sein, aber glücklicherweise lockert hier und da ein Anflug von trockenem Humor die Erzählung auf.

Die vom Kontrast zwischen Stadt und Wald geprägte Welt bildet weiterhin eine lebendige und eindrucksvolle Kulisse, die man nicht immer nur durch die Augen der Hauptfiguren betrachten darf. Hier sieht man sie z.B. auch aus der Perspektive der harpyienhaften Vogelkinder, von denen eines auch das Cover ziert. Apropos Cover: Diesbezüglich ist es besonders schade, dass es keine gedruckte Fassung der Katzenäugigen gibt, denn dass das zweite Cover quasi das erste fortsetzt und beide zusammen den Beginn eines Bildteppichs ergeben, wie er in der Geschichte eine wichtige Rolle spielt, würde sicher noch besser zur Geltung kommen, wenn man die Titelbilder physisch aneinanderlegen könnte. Aber so oder so ist diese Gestaltung eine nette Idee, die der Katzenäugigen einen hübschen äußeren Rahmen verleiht. Vor allem aber hat es natürlich der Text selbst in sich, und nicht nur eine finstere Vorausdeutung kurz vor dem Ende macht einen neugierig auf die folgenden Bände.

Judith C. Vogt. Die Katzenäugige 2: Kinder des Krieges, o. O. 2021. E-Book (über Amazon zu beziehen).
ASIN: B09H9885BZ


Genre: Roman

Anarchie Déco

Im Berlin der 1920er Jahre wird ein kommunistischer Politiker tot aufgefunden. Die Umstände seines Ablebens sind nur mit einem jüngst entdeckten Phänomen zu erklären: Magie, die noch kaum erforscht ist, aber offenbar auch schon abseits der Universitätslabore erfolgreich praktiziert wird. Die Polizei braucht Unterstützung, und so steckt die junge Physikerin Nike Wehner, die sich in ihrer Dissertation mit der Magie befasst und von ihrem Doktorvater in die Rolle der Hilfskraft für den alternden Kommissar Seidel gedrängt wird, bald tief in den Ermittlungen. Mit dem zweiten Magieexperten, der Seidel zugeordnet wird, dem heimlichen Anarchisten und nicht ganz so heimlichen Teetrinker Sandor Černý, muss sie sich erst zusammenraufen. Als dann eine Vermisste versteinert aufgefunden wird und sich herausstellt, dass sich auch die aufstrebenden Nazis der Magie bedienen, droht die Situation Nike und Sandor vollends zu überfordern. Kann vielleicht die geheimnisvolle Georgette mehr ausrichten, die Sandor ihre Hilfe in Sachen Magie anträgt? Aber wem ist in einer Stadt, in der sich politische und persönliche Konflikte immer weiter zuspitzen, überhaupt noch zu trauen?

Was das Autorenduo Judith und Christian Vogt mit Anarchie Déco vorlegt, ist eine spannende und temporeiche Mischung aus Krimi und Urban-Fantasy-Abenteuer. Der Handlungsort – das Berlin der Weimarer Republik – ist dabei mehr als bloße Kulisse, auch wenn Nachtleben und großstädtischer Bauboom effektvoll geschildert werden. Vielmehr prägen politische Verwerfungen und soziale Ungleichheit die Schicksale der Figuren. Am differenziertesten ausgestaltet ist dies bei Nike, die als uneheliches Kind einer ägyptischen Mutter und eines deutschen Vaters in Armut aufgewachsen ist, aber dank ihrer Bildung – sie denkt sogar bisweilen in Physikvergleichen! – Zugang zu Akademikerkreisen hat, die ihr oft Steine in den Weg legen. Ernüchternd ist dabei die Erkenntnis, dass viele damalige Probleme wie Wohnungsnot, Bauspekulation, koloniale Raubkunst, Antisemitismus und die Diskriminierung von Frauen und Minderheiten auch hundert Jahre nach der Handlungszeit des Romans noch aktuell sind.

Ein wichtiges Thema ist in diesem Kontext das Ausloten der Geschlechtsidentität (ohne dass den Figuren dabei schon das differenzierte Vokabular der heutigen Gender Studies zur Verfügung stünde). Nike, die hinter ihrem betont unkonventionellen Auftreten einiges an Verletzlichkeit und Minderwertigkeitskomplexen versteckt, kämpft nicht nur gegen die einschränkende Frauenrolle an, sondern muss sich im Laufe des Romans auch damit auseinandersetzen, wie sie sich selbst im Spannungsfeld zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit verorten kann und möchte. Georgette, die sich im Beruf zwar als Mann präsentiert, ansonsten aber ihre weibliche Seite auslebt, ist nicht nur in Sachen Magie schon einen Schritt weiter. Obwohl der Roman also eine Lanze für Diversität und individuelle Lebensentwürfe bricht, werden nicht alle, die (noch) in Traditionen und altmodischen Überzeugungen feststecken, negativ gezeichnet: Am Beispiel von Seidel und Nikes Mutter Rabea Gamal wird deutlich, dass nicht jede Biographie die nötigen Freiräume lässt, um radikal aufzubegehren und sich frühzeitig auszuprobieren.

Vieles davon würde auch in einen reinen historischen Roman passen, zumal auch reale Personen wie Marie Curie, Lise Meitner, Albert Einstein und Albert Speer ihren Auftritt haben. Aber in das Panorama der Epoche bricht eben mit voller Wucht die Magie ein, die in Anarchie Déco nur im Zusammenwirken von Naturwissenschaft und Kunst entstehen kann und zudem jeweils männliche und weibliche Anteile erfordert. Leider ist allerdings weder in der Magie noch im Lektorat jemand aus der Romanistik mit von der Partie, sonst wäre vielleicht aufgefallen, dass die framboises im Namen eines für die Handlung wichtigen Lokals eher fraises sein sollten, um den „Erdbeeren“ der deutschen Übersetzung zu entsprechen (aber Himbeeren sind ja auch etwas Schönes). Dem Gesamteindruck tun solche Kleinigkeiten aber keinen Abbruch, zumal sie an vielen Stellen durch herrlich pointierte Formulierungen aufgewogen werden: Dass die Gegend, in der Nike lebt, „besonders exklusiv heruntergekommen“ (S. 130) ist, und die „Urangst vor Kernseife und Staubwedel“ (S. 270), die Rabea mit ihrem überkommenen Rollenverständnis Männern pauschal zuschreibt, prägen sich ein. Auf amüsanterer Ebene geht es einem auch mit den „pseudoägyptischen Kajalmassakern“ (S. 48) einer feiernden Menge so.

Das facettenreiche Buch, das so nahe an der historischen Wirklichkeit beginnt, ist am Ende nicht zuletzt aufgrund der prononcierten Fantasyelemente, die in einem bombastischen Finale kulminieren, auf einem ganz anderen Weg. Dementsprechend bieten sich zahlreiche Anknüpfungspunkte für eine mögliche Fortsetzung. Aber auch als Einzelroman liest sich die wilde Reise durch ein alternatives Berlin flott und packend weg und ist allein schon aufgrund des oft von bissigem Humor geprägten Erzählstils bemerkenswert.

Judith und Christian Vogt: Anarchie Déco. Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag, 2021, 480 Seiten.
ISBN: 978-3-596-00221-4


Genre: Roman